Alles war ruhig in der Sunset Street 169 am Tag nach Thanksgiving. Barbara war mit den Mädchen zum Einkaufen gefahren und Dwayne mit Freunden unterwegs; Richard Kuklinski hatte sich in sein Büro zurückgezogen und die Tür verschlossen, obwohl niemand im Haus war außer dem Hund Shaba, der zusammengerollt in einer Ecke schlief. Die Stille bedrückte ihn: Er hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt, starrte aus dem Fenster und massierte seine Schläfen. Seit dem Aufwachen heute morgen hatte er schon Kopfschmerzen.
Auf dem Schreibtisch lag die Karte dieses Detectives. Volkman und sein Kumpel Kane. Was konnten sie eigentlich konkret wissen? Und wenn sie etwas wussten, wer hatte es ihnen gesagt?
Percy House und Barbara Deppner – wer sonst? Er hatte erfahren, dass sie irgendwo außerhalb an einem sicheren Ort in Pennsylvania untergebracht waren, jemand aus dem ›Laden‹ war Percy zufälligerweise über den Weg gelaufen. Wenigstens kannte er jetzt die ungefähre Gegend. Nachdenklich blickte er auf den Aktenkoffer neben dem Schreibtisch.
Selbst wenn er sie fand, würde es nicht ganz leicht sein, sie zu beseitigen. Sicher, er könnte sie erschießen oder erstechen, sogar erwürgen, aber all diese Methoden hinterließen Spuren. Außerdem mussten die Bullen wohl ziemlich regelmäßig nach ihnen schauen, da sie in Schutzhaft waren. Es könnte riskant sein, sich dort an sie heranzumachen.
Wenn er nur etwas Zyankali hätte …
Damit wäre es kein Problem. Er bräuchte ihnen bloß zu folgen, wenn sie einmal ihren Unterschlupf verließen und ihnen etwas ins Gesicht sprühen, sobald sie aus dem Wagen stiegen. Oder zum Beispiel ein Sandwich präparieren, genau wie bei Gary Smith.
Wenn er nur etwas Zyankali hätte …
Dominick Provenzano hatte gesagt, er könne es ihm verschaffen, aber bis jetzt war nichts daraus geworden. Dominick kam ihm ständig mit dem Blödsinn, seine Quelle rücke nichts raus wegen dieser Vergiftungsgeschichte mit Liptonsuppe in Camden. Aber das war schon im September gewesen. Inzwischen war die Sache doch längst abgekühlt, Kuklinskis Blicke gingen zum Telefon. Manche Leute behaupteten vieles, was sie nicht wirklich meinten, besonders wenn sie versuchten, sich wichtig zu machen. Seit fast einem Monat hatte er nichts mehr von Dominick gehört. Der Kerl müsste doch ganz heiß darauf sein, das große Waffengeschäft für die IRA abzuschließen. Warum meldete er sich dann nicht? Der Typ war ein mieser Angeber und sonst nichts. Es sei denn, er hätte einen anderen Lieferanten gefunden, der ihm beschaffte, was er haben wollte.
Wenn er Dominicks Gerede glauben konnte und die Sache sauber war, ging es bei diesem Geschäft um reichlich Kohle. Ihn auszunehmen, würde sich sicherlich lohnen. Es war lange her, seit er anständig Kasse gemacht hatte. Ihm ging allmählich das Bargeld aus, und gestern hatte er mit Bestürzung gemerkt, wie rasch die Zeit verflog, als sich seine Familie zum Thanksgiving-Dinner versammelte. Bald kam Weihnachten. Barbara war gerade unterwegs, um schon mit den Einkäufen anzufangen. Er hatte die Feiertage immer gehasst, aber sie liebte diese Zeit. Er brauchte Geld, um ihr etwas Hübsches zu schenken. Es sollte diesmal etwas ganz Besonderes sein, da er sich immer noch ein wenig schuldig fühlte wegen der Sache mit dem Haus in Saddle River in der Nachbarschaft von Präsident Nixon. Zuerst hatte er alle mit seiner Aufregung angesteckt, und dann war nie mehr davon die Rede gewesen, dorthin zu ziehen, weil er nicht das Geld hatte. Dafür stand Barbara einfach eine Wiedergutmachung zu.
Aber ganz abgesehen von Weihnachtsgeschenken – Geld brauchte er sowieso. Ordentlich Geld. Zu viele Geschäfte waren in letzter Zeit geplatzt. Sie lebten allmählich schon genauso wie alle anderen in dieser gottverdammten Nachbarschaft, und seine Familie verdiente etwas Besseres. Er verdiente es. Immerhin war er Richard Kuklinski, und Richard Kuklinski würde nie wieder arm sein. Nie mehr. Deshalb brauchte er unbedingt Geld.
Ein Gefühl hektischer Unruhe überfiel ihn, und er hatte Mühe, ruhig zu atmen. Ganz plötzlich war ihm der Gedanke gekommen, dass ihn vielleicht langsam sein Können im Stich ließ – oder sein Glück. In ein paar Monaten war er 52. Womöglich wurde er schon zu alt für dieses Geschäft. Die Panik, irgendwann mittellos dazustehen, traf ihn wie ein Messerstich. Diese beiden Detectives von der State Police hatten sich an ihm festgebissen, und diese Ratten, Percy House und Barbara Deppner, erzählten ihnen garantiert alles Mögliche, um sie glücklich zu machen – wahrscheinlich sogar, dass er Kennedy getötet habe. Er hatte dieses Jahr nicht einen dicken Fisch an Land gezogen. Und Dominick Provenzano, der Einzige, von dem er mit Sicherheit angenommen hatte, er habe ihn fest an der Angel, schien sich nicht mehr um ihn zu kümmern. Richard Kuklinski konnte direkt sehen, wie sich Dominicks halbe Million Dollar geradewegs in Luft auflöste.
Er massierte seine Schläfen und fragte sich, was zum Teufel bloß mit ihm los war. Sein Kopf schien zu explodieren. Die ganze Welt verwandelte sich zu einem Scheißhaufen. Verdammt, was war passiert? Was stimmte mit ihm nicht?
Gar nichts.
Kuklinski nahm die Füße vom Schreibtisch, ergriff einen Stift und begann Kästchen auf einen Schreibblock zu zeichnen. Es war alles in Ordnung mit ihm. Alles. Er war keine unbedeutende kleine Nummer, sondern Richard Kuklinski. Er war jemand, weil er mit seinen Fähigkeiten jede Situation meistern konnte, egal was dazu nötig war. Er war jemand, weil er vieles wusste, was sonst niemand ahnte und worüber die Bullen sich immer noch die Köpfe zerbrachen.
Während er im Geiste seine Leistungen abhakte,
zeichnete er Kästchen –
für jeden Erfolg eines.
Er hatte Gary Smith und Danny Deppner erledigt.
Er hatte Louis Masgay beseitigt und in eine Kühltruhe gesteckt.
Er hatte Paul Hoffman, den Apotheker, umgelegt.
Er hatte George Malliband aus dem Weg geräumt, einen Schmarotzer, der ein wenig zu leichtsinnig geworden war.
Er hatte Mister Softee ausgeschaltet.
Johnny, den Tyrannen in der Wohnsiedlung.
Den Taschendieb in Hoboken, als er neunzehn war.
Die zahlreichen Jobs für Roy DeMeo.
Er hatte mit Softee den Burschen in Kalifornien durch den Spion erledigt.
Er hatte den Asiaten auf Hawaii aus seinem Hotelzimmerfenster befördert.
Er hatte an Heiligabend den Burschen in Manhattan umgelegt, der seine Schulden nicht zahlen wollte. Anschließend war er nach Hause gegangen, hatte einen Planwagen für Dwayne zusammengebaut und dabei die Femsehnachrichten gesehen: ›Mysteriöser Mordfall in Verbindung mit der Mafia.‹
Er hatte einen Kerl wegen einer Wette in die Kehle geschossen, um zu sehen, ob es länger als fünf Minuten dauerte, bis er verblutet war, und die Wette verloren.
Er hatte den Typen an der roten Ampel erledigt, der sich gerade eine Zigarette anzünden wollte. Hatte ihm den Kopf weggeblasen, ehe er auch nur einen Zug nehmen konnte.
Dann war da dieses Bürschchen, das ihn auf dem Highway geschnitten hatte. Er trieb den Wagen des Jungen von der Straße, schlug ihn mit einem Baseballschläger zu Brei und fuhr rückwärts über seinen Körper, ehe er die Fahrt fortsetzte. Nur weil der Junge ihn wütend gemacht hatte.
Er war damit durchgekommen, einen Kredithai umzulegen, der für den Gambino-Clan arbeitete. Hatte ihn übers Ohr gehauen und dann erschlagen, nachdem der sich bei den falschen Leuten beschwert hatte.
Da war dieser Typ in der Schweiz gewesen.
Der Kerl auf dem Parkplatz an der Route 46.
Der Bursche, der sich in die Hosen geschissen hatte, während er betete und Gott um Hilfe anflehte.
Der Alte mit dem gelockten grauen Haar, der jemandem in Oklahoma Geld schuldete. Auf dem Golfplatz in den Kopf geschossen.
Der Job, bei dem sein Auftraggeber verlangt hatte, er solle dem Opfer die Zunge herausschneiden und ihm in den Arsch stecken.
Der Kerl, der in der Garage seinen Laster reparierte.
Der Typ, dem er einen Eispickel ins Ohr gerammt hatte.
Die beiden Burschen, die den Fehler gemacht hatten, beim Kartenspiel abzusahnen – ein Gebiet, das geheiligtes Mafiaterritorium war.
Der große Schwarze in dieser Bar in Harlem, dem er mit einem einzigen Gewehrschuss den Kopf wie eine Wassermelone zerschmettert hatte.
Der Blödmann, der ihn so maßlos verblüfft anstarrte, als er plötzlich merkte, dass eine zweischüssige Derringer auf ihn gerichtet war. Zwei Dumdum-Kugeln hatten mehr als genügt.
Da war der Strolch, dem er in Draculas Apartment die Schädeldecke weggeschossen hatte.
Der Mann, der seinen Hund spazierenführte.
Der Besitzer des Videocenters. Drei Schüsse in den Hinterkopf.
Dazu kamen die Typen in Pennsylvania, New York, Rhode Island, Florida, Georgia, Nord-und Süd-Carolina, Tennessee, Colorado …
Als ihm schließlich keine mehr einfielen, war die Seite voller Kästchen. Eine ganze Seite voll. Die Unruhe in seiner Brust war verschwunden; genauso die Kopfschmerzen. Zufrieden betrachtete er all seine kleinen Geheimnisse, die auf diesem Blatt verzeichnet waren. Sie gehörten ihm allein und niemandem sonst.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute zum Telefon. Vielleicht war es Zeit, Dominick mal anzurufen. Lächelnd öffnete er die oberste Schublade und nahm sein Adressbuch heraus.