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Die Schlacht von Gwalherm erwies sich als knappe, verzweifelte Angelegenheit.
Der Königs-Emporkömmling von Nord-Vallia lockte uns geschickt vor eine stark befestigte Position, die wir normalerweise umgangen und möglicherweise abgeschirmt hätten. Wie die Dinge aber lagen, hatte er die Linie seiner Abwehrpositionen so gelegt, daß sie eine bequeme Marschroute absperrten. So rutschten wir in den Kampf, noch ehe wir uns dessen bewußt waren.
Schließlich vermochten wir ihn zurückzudrängen; der prächtige Angriff einer Division schwerer Kavallerie lieferte die Entscheidung.
Ich nenne diesen König Emporkömmling – nun ja, bei Krun, das gleiche galt aber auch für mich.
Mein Aufstieg war allerdings die Folge davon, daß das vallianische Volk mich zu seinem Herrscher berief. Uns lagen Berichte über die Grausamkeit des nordvallianischen Königs vor, der offenbar mehrere Namen trug. Die neueste Bezeichnung, die er zu benutzen schien, war Nath der Allergrößte. Vorher war er uns als Naghan der Mächtige und Larghos der Prächtige bekannt gewesen. Wie er richtig heißen mochte, wußte niemand, und nun ist auch klar, warum ich ihn in meinem Bericht bisher nicht mit einem Namen belegt habe. Nun rückten wir ihm auf den Leib, und es wurde Zeit, der Sache einen Namen zu geben, wenn es dafür nicht schon zu spät war.
Nordwestlich von Erstveheim liegt das Vadvarat Venga in einer Art schmalen Küstenscheibe.
Nun ja, mit Venga war das so eine Sache. Die Vadnicha dieses Gebiets, Ashti Melekhi, hatte sich schon vor langer Zeit ihren Weg zu den Eisgletschern Sicces gesucht. Ich fragte mich, wie es ihr dort ergehen mochte und ob die Kräfte des Schicksals, die mit ihren Harfensaiten lange klagende Laute des Geschicks erklingen lassen, sie bereits in das dahinterliegende sonnige Oberland hatten vordringen lassen.
Wir mußten eine Streitmacht nach Venga schicken, das lag auf der Hand.
Ich hatte den Vorschlag abgeschmettert, die Achte Armee aufzuteilen, um neben unserem nach Osten gerichteten Vorstoß auf Seg und Drak gleichzeitig auch nach Norden auf Evir-Gebiet zu ziehen.
Venga aber würde hinter uns liegen, wenn wir nach Osten weitermarschierten. Schließlich wurde ein Korps aufgestellt und unter dem Kommando Chuktars Modo Na-Du losgeschickt, eines ungemein fähigen Pachaks aus Zamra. Natürlich gingen uns diese Divisionen unterdessen ab, aber nachdem Vallia bis auf die nördlichen Provinzen wiedervereinigt war, konnten wir in erfreulichem Umfang auf Verstärkung hoffen.
Später saßen wir am Lagerfeuer, nachdem wir die Verwundeten besucht und mit den Swods einige Lieder gesungen hatten. »Du hast die arme Marion ziemlich grob behandelt«, sagte Delia.
»Findest du? Ich weiß nicht. Sie war ungemein stolz auf ihre Mädchen.«
»Ja. Es freute sie besonders, daß sie zur Jurukker-Jikai des Herrschers gehörten.«
»Du weißt, wie nervös ich werde, wenn ich Mädchen im Kampf erlebe ...«
»Ich weiß.« Sie legte die Hand auf die meine, und ich drehte die Finger nach oben und umfaßte sie. »Du bist ein komischer Kerl, besonders für einen Herrscher. Weißt du, Dray, eigentlich hätten wir es Jilian überlassen sollen, die Jikai-Vuvushis des Garderegiments aufzustellen.«
»Das hätte mir gefallen, Jilian die Süße – ich wüßte nur zu gern, wo sie jetzt steckt und welche Teufelei sie gerade ausheckt.«
»Sie hat ihre Lebensaufgabe.«
»Aye.«
Jilian war eine Gefährtin aus früheren Tagen.
Über unseren Köpfen funkelten die kregischen Sterne in atemberaubender Majestät. Hier oben im Norden Vallias waren die Nächte schnell frostig. Der vierte kregische Mond, die Frau der Schleier, verbreitete sein rosagoldenes Licht. Wir waren umgeben von den Lauten eines Armeelagers bei Nacht. Wachen patrouillierten. Ich lehnte mich zurück.
»Je eher wir mit Seg und Drak zusammenkommen, desto besser.«
»Das werden wir, Liebling, das werden wir. Und dann?«
»Es gibt so viel zu tun ...«
»Das ist doch immer so. Denk zum Beispiel an Draks und Sildas Hochzeit.«
»Erinnere mich nicht daran!«
Eine Zeitlang schwiegen wir und genossen die Nacht.
»Dieser Nath der Allergrößte hat zwei Möglichkeiten«, sagte Delia schließlich. »Entweder stellt er sich uns an Losobrins Kamm, oder er bemächtigt sich der Stadt Erdensmot und leistet dort Widerstand.«
Ich verzog das Gesicht. »Keine dieser Möglichkeiten will mir schmecken. Ich habe keine Lust, die Unterstände und Gräben zu stürmen, die er an Losobrins Kamm schaffen könnte. Angeblich eine eindrucksvolle Gegend. Andererseits wäre eine Belagerung von Erdensmot auch kein Zuckerschlecken.«
»Wenn wir um ihn herummarschieren könnten ...«
Ich weiß, meine Stimme klang ungeduldig: »Wenn nur Farris noch einige Flugboote für uns zusammenkratzen könnte!«
»Man sollte doch wohl annehmen«, sagte Delia nicht ohne Schärfe, »daß Hamal, nachdem ihm nichts mehr passieren kann, in der Lage ist, jede gewünschte Anzahl von Vollern zu liefern!«
»In den Bergen des Westen gibt es immer wieder Unruhen, das ist bekannt. Vermutlich liegt es daran. Mittlerweile bauen wir immer neue Vorlcas – aber allmählich wird es mit der Holzbeschaffung problematisch.«
»In den Singenden Wäldern wächst doch genug, um Opaz' willen!«
»Aye. Wir werden dort Vorlca-Werften errichten müssen. Liebling, fällt dir überhaupt auf, wie geschickt ich es Drak überlasse, neue Adelstitel zu vergeben? Im Augenblick werden viele Provinzen von unseren Justitiaren verwaltet. Sobald die Kriege vorüber sind, müssen wir gute, vertrauenswürdige Leute finden, denen man die entsprechenden Titel verleihen kann.«
Delia warf mir einen abschätzenden Blick zu. »Der alte Nath Olverswan war Kov der Singenden Wälder«, sagte sie.
»Ja, und wohl auch Mitglied der Racter-Partei. Viel gesagt hat er nie, eh?«
»Meister Maulfaul. Es geht nur darum, daß die Singenden Wälder südlich der Berge des Nordens liegen und unmittelbar im Westen an Segs Bakan anschließen.«
Ich erkannte sofort, was sie meinte. Auch registrierte ich, daß sie die alte Bezeichnung ›Bakan‹ anstelle des modernen ›Balkan‹ gewählt hatte.
»Du meinst, das Presidio wird einverstanden sein?«
»Wenn du dich dafür einsetzt, sehe ich keine Schwierigkeiten.«
»Da bin ich nicht so sicher. Ich möchte ungern die Dinge weiterhin von oben herab regeln. Das Presidio muß eine faire Chance erhalten, seine Macht auszuüben. Ich denke sogar daran, Wahlen abzuhalten ...«
»Wahlen? Aber wir haben ein Herrschaftssystem, Dray!«
»Ich bin zum Herrscher gewählt worden.«
»Ach, ja, natürlich! Aber das war doch etwas ganz anderes.«
»Na, jedenfalls spiele ich mit dem Gedanken. Ich werde mal mit Drak über Seg und die Singenden Wälder sprechen. Wäre ja denkbar, daß Seg nicht einverstanden ist.«
»Bei ihm schon – aber da ist noch Milsi. Die hat einen klaren Kopf.«
Da wir offenkundig am Feuer sitzen und miteinander plaudern wollten, hatte man uns alleingelassen. Wollte jemand Kontakt mit uns aufnehmen, brauchte er sich nur bemerkbar zu machen. Der Zugang zu uns war leichter als bei jedem anderen Herrscher zuvor.
Eine schlanke Gestalt näherte sich dem Feuer, blieb stehen und wartete ab. »Ja, meine Liebe?« rief Delia. »Tritt vor!«
Das Mädchen erschien im Lichtkreis des Feuers. Sie trug Halbrüstung und Rapier und Main-Gauche – ein Kampfmädchen, wie es sie in den meisten kregischen Armeen zu Tausenden gibt. Ihr Gesicht, vom Feuer rosig angeleuchtet, lächelte nicht. Sie wirkte verschlossen und ernst. Ich erkannte sie nicht.
Auch Delia war sie unbekannt. Ich vermutete, daß sie den Schwestern der Rose angehörte.
»Was ist?« fragte Delia, und ihr Tonfall war schon etwas weniger freundlich.
»Eine Nachricht«, antwortete die Jikai-Vuvushi.
Nun bin ich wahrlich nicht der Mann, der auf protokollarische Feinheiten oder gar ein unterwürfiges, liebesdienerisches Verhalten Wert legt, das wissen Sie, bei Krun! Doch fand ich, daß das Mädchen sich Delia gegenüber höflicher äußern müßte.
Ich machte Anstalten aufzustehen.
Mit einem erschreckend dämonischen Kreischen, einem Laut, dem jede Menschlichkeit fehlte, stürzte das Mädchen plötzlich vor. In ihrer Hand glitzerte der lange schmale vallianische Dolch.
Die tödliche Klinge zuckte auf Delia zu.
Ohne eine Waffe zu ziehen, erfüllt von Entsetzen und Angst um Delia und Haß auf das mörderische Mädchen, versuchte ich mich schnell dazwischenzuwerfen.
Delia aus Delphond, Delia aus den Blauen Bergen ist nun wahrlich vertraut mit den vielfältigen Waffen, die auf Kregen zu finden sind, aber wenn es eine Waffe gibt, deren absolute Meisterin sie ist, dann der lange schmale vallianische Dolch.
Mein verzweifelter Hechtsprung, der überaus dramatisch und gewollt heldenhaft ausfiel, war völlig überflüssig.
Die dumme Möchtegern-Mörderin hatte keine einzige Chance.
Delia wand sich geschmeidig zur Seite, packte die Arme des Mädchens, drehte sie herum und zog ruckartig. Es ertönte ein schriller Schmerzensschrei, Sternenlicht funkelte auf scharfem Stahl, dann stand die Angreiferin da und starrte auf die Klinge, die sich gegen ihre Kehle drückte.
»Also, was haben wir denn da?« fragte Delia gelassen, und ihr Atem ging nicht schneller. Welch prächtiges Mädchen ist meine Delia, ruhig, mitfühlend, aufbrausend, leidenschaftlich – sie ist alles auf einmal! Mein Blick fiel auf die schmale Stahlklinge, und ich erbebte bis zu den Zehenspitzen.
Ein Mädchen in der rötlichen Lederkleidung der Schwestern der Rose eilte herbei; sie hatte den Bogen schußbereit erhoben. Ihr folgte eine Horde meiner Jungs und Delias Mädchen. Sie alle wirkten im Feuerschein außerordentlich kampfwütend, aber auch besorgt.
»Alles in Ordnung!« rief Delia.
»Wäre mir der Herrscher nicht dazwischengekommen«, sagte die Schwester der Rose, »hätte ich die Attentäterin mit dem Pfeil erwischt, sauber, kaum daß sie den Dolch aus der Scheide hatte.«
»Das hättest du bestimmt geschafft, Zandi, und ich danke dir. Jetzt solltest du dem Mädchen ein paar Fragen stellen.«
Ich zitterte noch immer; doch zugleich spürte ich, daß ich innerlich schon ein breites Lächeln aufgesetzt hatte. Dieses schmale Mädchen, diese Zandi, eine Schwester der Rose und Hikdar in Delias persönlicher Leibwache, verstand sich darauf, einen Mann kleinzukriegen – selbst wenn dieser Bursche der Ehemann der Frau war, der sie ergeben diente, und zudem Herrscher dieses Landes. Vielleicht hielt Zandi nicht viel von mir, weil ich Delias Mann war, fand mich wohl nicht gut genug für ihre Herrin.
Nun ja, bei Zair, das wußte ich selbst!
Die Angreiferin wurde von vielen Händen festgehalten. Sie hob den Kopf und starrte Delia an. Der Blick ihrer Augen hatte etwas Flackerndes, Abstoßendes.
»Du brauchst keine Fragen zu stellen, Tikshim!«
Die Wächter, die sie hielten, schnappten bei dieser Frechheit nach Luft. Sie schüttelten sie. »Sprich höflich zur Herrscherin!« forderte einer mit heiserer Stimme.
»Herrscherin!« rief das Mädchen spöttisch. »Herrscherin von gar nichts! Euer Vallia ist dem Untergang geweiht, und ihr alle mit!«
Ich trat vor. Wenn ich nicht alles verlieren wollte, was mir auf Kregen etwas bedeutete, mußte ich meine Wut bezwingen.
»Csitra«, sagte ich, »wenn du Delia, der Herrscherin Vallias, etwas antust, handelst du dir damit meinen unendlichen Haß und Widerstand ein!«
»Die Frau kann dir nichts bedeuten, Dray Prescot! Ich bin die Partnerin, die dir erwählt ist!«
»Was das angeht, so mag das Schicksal manche Dinge entscheiden. Aber nicht alle.«
»Du hast gesagt, du würdest mich im Coup Blag besuchen.«
Lag in der tonlosen Stimme des armen betäubten Mädchens ein Hauch schmollender Gereiztheit? War es möglich, daß die dämonische Hexe aus Loh, die sich irgendwo im fernen Süd-Pandahem befand, schwache menschliche Gefühle kannte und sich womöglich selbst bemitleidete?
Delia sagte mit metallisch klingender Stimme: »Das ist es also!«
»Hör zu, Csitra. Ich werde dich besuchen wie versprochen, das mußt du mir glauben. Vielleicht wird dir dieser Besuch keine Freude machen. Aber ich wiederhole es hiermit und rate dir, dich nach meinen Worten zu richten.«
»Ja, Dray Prescot?«
Ich äußerte die Worte, als müßte ich Granitbrocken ausspucken: »Wenn du Delia, der Herrscherin Vallias, auch nur ein Haar auf dem Kopf krümmst, bringe ich dich um, so wahr ich hier stehe!«
Noch als ich meine großspurige, aber in vollem Ernst gemachte Äußerung zu Ende brachte, bemerkte ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Der Kopf des Mädchens ruckte hoch, und sie schaute mir über die Schulter.
»Wer steht da neben dir?«
Ich wandte mich halb zur Seite und erblickte Drill das Auge, einen Kommandeur der Gelbjacken. Er zeigte einen seltsam leeren Gesichtsausdruck und hatte den Mund halb geöffnet.
»Ein Soldat«, antwortete ich. »Also, Csitra, hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Gleichzeitig fragte ich mich, wie Drill das Auge, ein erfahrener Kampeon, der die Bogenschützen befehligte, dazu kam, hier wie ein Dummkopf herumzustehen. Irgendwie seltsam.
»Ich habe deine Worte vernommen. Wenn ich der Frau nichts tue, dann kommst du?«
»Wie schon einmal zugesagt, Csitra. Du hast mein Wort.«
Das Mädchen sackte in sich zusammen. Die Wächter hielten es aufrecht. Ich wandte mich zu Drill dem Auge um, denn ich glaubte die Lösung zu haben, und er meldete sich mit keuchender Stimme.
»Sie hat ein überaus starkes Kharma, Dray, ein überaus starkes. Sie wußte es nicht genau, aber sie ahnte etwas.«
»Deb-Lu?«
»Aye, Dray, aye. Und ich muß mich bei Drill dem Auge entschuldigen, daß ich seine Augen zum Sehen mißbraucht habe.«
»Er wird es verstehen und nichts dagegen haben.«
»Das hoffe ich jedenfalls. Ich habe Csitra nämlich beobachtet und erfahre so langsam, wie sie die Dinge anpackt. Dieser neueste Angriff aber ...«
»Ist fehlgeschlagen.«
»Lob sei den Sieben Arkadischen Mächten!«
Delia streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Ich möchte mich jetzt zurückziehen.«
Sofort legte ich ihr einen Arm um die Hüfte und wandte mich mit ihr dem Zelt zu. Ich sprach über die Schulter weiter.
»Fanshos, der Zwischenfall ist erledigt. Deb-Lu, setz deine Arbeit fort, denn außer dir gibt es kein Bollwerk zwischen uns und der Katastrophe.«
So zogen wir uns in das Zelt zurück und nahmen ein wenig Wein zu uns. Nichts wühlt mich mehr auf als ein Anschlag auf Delia. Ich wüßte nicht, was ich tun würde, wenn ihr wirklich etwas geschähe.
Kurz bevor wir zu Bett gingen, sagte ich leise: »Ich werde die Reise in Kürze antreten müssen, Liebling.«
»Es ist noch so viel zu tun ...«
»O ja, das ist ja immer so. Aber im Augenblick gibt es auf der Welt nichts Wichtigeres.«