Epilog
Jan lief am Seeufer entlang. Eine weiche Schneeschicht bedeckte den Boden, auf dem ausgetretenen Pfad schaute die Erde an einigen Stellen heraus. Nach einem frostigen Dezemberanfang war es in den letzten Tagen wärmer geworden und die Wellen hatten das Eis auf dem See in kleine Schollen zerbrochen. Auch jetzt blies ein leichter Wind und die Schollen rauschten und klimperten.
Gut, dass er sich nach dem Besuch bei Anna die Zeit genommen hatte, hierher zu kommen. Es war schön gewesen, gemeinsam ihren Geburtstag zu feiern – und bedrückend. Er hatte nicht umhin gekonnt, an seinen eigenen Geburtstag zurückzudenken. Was das für eine Stimmung gewesen war bis spät in die Nacht! Er hatte darüber sogar die Niedergeschlagenheit vergessen, die ihn nach Alaska befallen hatte. Bei dem Trubel in ihrer überfüllten Wohnung war dafür einfach kein Platz mehr gewesen, nicht mal in seinem Kopf.
Wie traurig war es ihm dagegen vorgekommen, an Annas Neunzehntem in einem freundlich-neutralen Klinikraum zu sitzen und sich auf ihre wechselnden Identitäten einzulassen. Die meiste Zeit hatte sie gut aufgelegt das kleine Mädchen gegeben, ab und an die altkluge Zynikerin, die er erst in der Psychiatrie an ihr kennengelernt hatte. Nur zwischendurch hatte er vernünftig mit ihr reden können. Immerhin hatte sich auch die richtige Anna gezeigt und über sein Gedicht und die Geschenke gefreut. Das war schon ein Erfolg.
Denn nachdem sie in den ersten Wochen meist sie selbst gewesen war, wenngleich lethargisch in sich gekehrt, befand sie sich seit Ende November meist in anderen Identitäten. Farid hielt die scheinbare Verschlechterung ihres Zustands für ein erfreuliches Zeichen. Anna ließ häufiger Erinnerungen zu, wenn sie sie selbst war, und entsprechend entzog sie sich häufiger dieser Belastung. Aber nach und nach würde sie lernen, mit den Erinnerungen umzugehen. Dass sie diese nicht mehr völlig blockierte, ermöglichte die eigentliche therapeutische Arbeit.
Für Jan war das frustrierend: Wenn er Anna endlich als sie selbst antraf, war sie so depressiv, dass er nichts dagegensetzen konnte. Aber entscheidend war allein, dass ihre Niedergeschlagenheit einen Schritt auf dem Weg der Heilung bedeutete – das sagte er sich oft, um neuen Mut zu schöpfen.
Zum Glück kam er mit Carmen, die tatsächlich nach Berlin gezogen war, vernünftig zurecht. Sie hatten sich ausgesprochen und dann nochmals gestritten und dann wieder ausgesprochen. Seitdem behandelte Carmen ihn mit mehr Respekt. Sie sahen sich zwar nur einmal pro Woche beim gemeinsamen Mittagessen mit Anna, telefonierten aber, wann immer sie ein Besuch besonders mitgenommen hatte.
Dass er Abstand zu Carmen halten konnte, war ihm recht. Hingegen bedauerte er, dass Farid die freundschaftliche Nähe nicht länger zuließ, die Jan bei seinem nächtlichen Besuch in der Villa am Müggelsee empfunden hatte. Er hätte ihn gerne weiterhin privat getroffen, er liebte das Gespräch mit Farid und sah in ihm ein Vorbild, wie man sensibel und zugleich anerkannt sein konnte. Dennoch verstand er, dass sich Farids Aufgabe als Annas Psychiater schlecht mit einer solchen persönlichen Beziehung vertrug.
Dafür konnte Jan mit Chris über alles sprechen. Sie war ein toller Kumpel. An ein oder zwei Abenden verabredeten sie sich jede Woche und Jan genoss ihre gute Laune, der er sich nicht anschließen musste, so ihm nicht danach war. Er hatte sie in alles eingeweiht, und sie hatte ihm geholfen, sich nicht mehr schuldig gegenüber Anna zu fühlen. Sein Verlangen war zwar der Auslöser für den Angriff auf Rainer gewesen, aber er hatte Anna nicht übermäßig bedrängt. Dass er seinen Wunsch geäußert hatte, war absolut normal. Anna hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits kritisch nah am Abgrund befunden. Die psychische Dynamik, die das Tal in ihr ausgelöst hatte, hatte sie auf die Katastrophe zugetrieben. Sie hätte in die Psychiatrie gebracht werden müssen, aber das hatte er nicht erkennen können.
Jan verließ den Pfad, bückte sich unter feuchtem Geäst hindurch und setzte sich auf einen Baumstamm, den Sonne und Wind getrocknet hatten. Die Eisschollen nahe dem Ufer waren kleingerieben worden und schwappten übereinander, weiter draußen trieben größere, dunklere Platten. Er blickte nachdenklich auf den See. Was hatten ihn die Geschehnisse nach dem Abitur gelehrt? Dass das Leben ein Geschenk war, das einem jederzeit genommen werden konnte. Man durfte dem Frieden nicht trauen – und ebenso wenig den Menschen. Er hatte Gregors Grobheit und Angeberei verabscheut, aber er hätte nie damit gerechnet, dass Gregor bereit sein würde zu vergewaltigen. Und niemand hatte Annas Vater angesehen, dass er sie missbrauchte. Jan blickte hinaus auf den See und dachte, dass die menschliche Seele ebenso finster und undurchdringlich war.
Er ballte seine kalten Finger in den Handschuhen zur Faust, eigentlich war es zum Sitzen trotz der Sonne zu kühl. Aber der Blick über den See war so malerisch, dass er noch nicht weitergehen wollte. Obwohl das Leben immer gefährdet war, konnte man es genießen. All die Schrecken der vergangenen Monate änderten nichts an der Schönheit der Natur. Oder der Musik und der Literatur. Oder daran, wie fröhlich ein langer Abend mit Freunden sein konnte.
Früher hatte er sich gewünscht, bei den Gleichaltrigen populär und bei den Mädchen erfolgreich zu sein. Letztlich hatte er wie andere werden wollen, mehr wie Michael, sogar ein bisschen wie Gregor. Nun würde er auf dem aufbauen, was ihn ausmachte: auf seinem Wunsch nach Ehrlichkeit und Anständigkeit, auf seiner Freude am einfühlsamen Beobachten und Beschreiben, auf seiner Veranlagung, tiefe Beziehungen zu wenigen Menschen aufzubauen, statt mit vielen lose befreundet zu sein. Die Eigenschaften, die er damals als Ballast abgetan hatte, weil sie ihn daran hinderten, groß herauszukommen, sah er nun als sein Fundament. Wie man sich in so kurzer Zeit wandeln konnte!
Das hieß auch, dass er nicht vorhersehen konnte, ob Anna und er zusammenbleiben würden. Dafür waren sie zu jung, zu viel würde sich ändern, in ihrem Leben, in ihnen selbst. Aber was immer kommen mochte, er würde sie nicht im Stich lassen. Und er hoffte wirklich für sie als Paar. Er würde für sie kämpfen.
Von vorne wärmte ihn die Sonne, von unten stieg die Kühle auf. Eine Welle rollte rauschend unter dem Brucheis hindurch. Er wünschte sich einen anständigen, schneereichen Winter. In der Germanisten-Clique hatten sie sich schon verabredet, Schlittschuhlaufen zu gehen, sobald das Eis trug. Und an einem Wochenende im neuen Jahr wollten sie irgendwohin fahren, wo man Langlaufen und Rodeln konnte. Er erhob sich. Er hatte die Wildnis Alaskas kennengelernt und die Wildnis der menschlichen Seele – jetzt freute er sich darauf, einfach nur zu leben.
Da ich als freier Autor keinen Verlag habe, der für mich Werbung macht, lebe ich von den Empfehlungen meiner Leser. Ich freue mich daher besonders über jede Rezension im Internet!