4. Kapitel

Regen trommelte auf die Dächer. Jan lauschte dem friedlichen Geräusch, das durch das gekippte Fenster drang. Sie hatten nach der morgendlichen Rückkehr aus dem Gefängnis den Schlafmangel der letzten beiden Nächte ausgeglichen, und Jan fühlte sich wunderbar träge und erregt zugleich. Gestern hatte zu viel zwischen ihnen gestanden, doch nun hatten sich die Dinge geklärt und er wollte anknüpfen, wo die Polizei sie unterbrochen hatte.

Anna räkelte sich im Halbschlaf. Er gab ihr einen Kuss und sie erwiderte ihn. Ermutigt ließ er seine Hände unter ihren Pyjama gleiten, über die glatte Haut ihrer Schenkel zu ihrer schlanken Taille. Da versteifte sie sich und erklärte, sie müsse auf Toilette, und als sie endlich zurückkam, kleidete sie sich an und ignorierte Jans Flehen, sie möge ihn nicht im Bett allein lassen.

Verstimmt schlüpfte er in den Bademantel und folgte ihr in die Küche. Sie war dabei, Obst aufzuschneiden, als könnte sie ihn damit entschädigen.

„Lass das!“, sagte er schroff.

„Du magst heute keine Birnen?“

„Ich will etwas anderes.“

„Die Birnen sind schön süß.“ Sie blickte lächelnd auf und schnitt dabei weiter. Jan begriff nicht, wieso sie immer das schärfste Messer nehmen musste, für das Obst brauchte sie das nun wirklich nicht, eines Tages würde sie sich damit einen Finger abschneiden. Ihm war die lange Klinge suspekt.

„Leg das Messer weg und hör mir zu!“

Sie wusch sich die Hände, trocknete sie gründlich ab und schaute ihn unbeteiligt an.

„Du hast mir gestern doch nicht alles gesagt. Was hat es mit den Antiepileptika auf sich?“ Das war ihm in seinem Frust unvermittelt wieder eingefallen.

Sie senkte den Kopf und flüsterte: „Du willst, dass wir miteinander schlafen.“

Jan lachte auf. „Was hat das damit zu tun? Ich weiß, du hattest Epilepsie.“ Er hörte seinen gereizten Ton, bremste sich und sprach sanfter: „Ich verstehe, dass du die Kontrolle nicht verlieren möchtest. Aber das musst du ja gar nicht. Wir können ganz kleine Schritte machen und ich verspreche dir, dass ich dich zu nichts zwinge. Wir müssen nicht gleich miteinander schlafen, wir können uns erst daran gewöhnen –“

Sie zitterte.

Er nahm sie in den Arm. „Hattest du wieder einen Anfall?“

Sie schluchzte.

„Wir kriegen das hin, alles wird gut. Mach dir keine Sorgen, gemeinsam schaffen wir das.“ Er streichelte über ihren Rücken. „Es ist gut, mein Herz, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das war alles sehr anstrengend mit der Polizei. Jetzt erholst du dich erstmal und schon sieht die Welt wieder ganz anders aus.“

„Er ... Er ...“ Ihre Tränen drangen durch das T-Shirt auf seine Haut. Sie krallte sich an ihn. „Er hat ...“

Was wollte Anna ihm so unbedingt mitteilen, ohne es über die Lippen zu bringen? Sie musste von Rainer sprechen. Was hatte er ihr getan? War sie doch bei dem Sturz zugegen gewesen?

„Komm mit.“ Er führte sie ins Wohnzimmer und setzte sich neben sie auf die Couch. Tropfen hingen an den Fensterscheiben.

Anna rutschte weiter hinab, bis sie zusammengerollt wie ein Baby dalag, den Kopf auf seinem Schoß. Er strich ihr über die Locken und fragte sich, welche fürchterliche Erinnerung darunter verborgen lag. Sollte er nachhaken, falls sie nicht mehr darüber sprechen wollte, oder war es besser, sie zur Ruhe kommen zu lassen und die Enthüllung aufzuschieben? Tränen liefen über ihre Wange.

Lange saßen sie so da, ehe sich Anna rührte. Er ließ sie los und schaute betreten hinaus. Gegen die dunklen Fenster auf der anderen Hofseite zeichnete sich Sprühregen ab, vor der hellen Hauswand blieb er unsichtbar.

„Ich will spielen“, sagte Anna.

Jan war verdutzt.

„Spielst du mit mir?“

„Wenn du willst.“ Er überlegte, welches der Brettspiele am ehesten passte. Eines, das sie gut ablenken würde.

„Was spielen wir?“

„Worauf du Lust hast.“

„Wo sind meine Puppen?“ Sie schaute sich um, ein Hauch Vorwurf schwang in ihrer Stimme.

Er war so perplex, dass er auf diese unsinnige Frage einging: „Ich weiß nicht, wo du deine Puppen hingelegt hast.“

Mit kindlichem Ernst erklärte Anna: „Ich gehe sie suchen.“

„Ja, mach das mal.“ Jan blieb sitzen und wunderte sich, was das sollte. Plötzlich schüttelte er den Kopf und lachte: Er hatte sich umsonst erschrocken! Was immer ihr widerfahren war, so schlimm konnte es nicht gewesen sein, wenn sie jetzt zu so etwas aufgelegt war.

Der Regen fiel dichter. Jan lauschte dem leisen Trommeln. Dazwischen hörte er schmatzende Geräusche, die aus der Küche kamen. Irritiert ging er nachschauen.

„Was zum Teufel machst du da?“, entfuhr es ihm. Sie saß am Boden, die Finger mit Schokolade beschmiert. Drei aufgerissene Tafeln lagen vor ihr aufgehäuft. Sonst aß sie nie davon, sie musste als Tänzerin leicht sein – nur er aß ab und an einige Stücke, weil er sich sagte, dass das die Stimmung aufhellte.

„Nicht böse sein“, bettelte sie, „ich muss mich trösten.“

„Aber warum sitzt du am Boden?“

Sie sammelte die Schokoladentafeln ein. „Ich weiß, ich soll am Tisch essen.“

Jan fehlten die Worte. Ihr Verhalten war unheimlich.

Sie legte die Tafeln auf den Tisch und stopfte sich ein Stück Schokolade in den Mund.

„Okay, Anna, das reicht.“ Er wusste nicht, ob er sich ärgern oder fürchten sollte.

Sie brach eine Rippe ab und nuschelte: „Nur noch das.“

„Von mir aus kannst du so viel davon essen, bis du platzt! Aber hör endlich mit dem Mist auf!“

„Habe ich zu viel Schokolade gegessen?“, fragte sie weinerlich.

„Anna!“

„Ich muss mich trösten.“

Offensichtlich war sie nicht bereit, sich wieder normal zu verhalten. Vielleicht würde es ihr so leichter fallen, ihm anzuvertrauen, was sie belastete. Eine Art Rollenspiel. Also fragte er: „Was macht dich denn traurig?“

Sie presste die Lippen aufeinander, als würde sie gleich losheulen.

„Du kannst mir alles sagen.“ Es war seltsam, sich so sprechen zu hören, dennoch blieb er in seiner Rolle. „Du weißt, dass ich nicht böse werde.“

Ihr verletzter Blick traf ihn ins Mark. Als zweifle sie aus gutem Grund an seiner Verlässlichkeit. Noch während er sagte: „Ich verspreche dir, dass ich nicht schimpfen werde“, hatte er das Gefühl, nicht richtig auf sie eingegangen zu sein.

Trotzig erwiderte sie: „Du glaubst mir nicht.“

„Aber du hast mir doch noch gar nichts gesagt!“

„Du willst mir nie zuhören!“

Ratlos setzte er sich an den Küchentisch. Sogleich ließ sie sich auf seinem Schoß nieder. Ein viel zu schweres Kind.

„Hast du mich lieb?“

Er legte ihr die Arme um die Taille. „Und wie ich dich lieb habe!“

Sie kuschelte ihren Kopf an seine Schulter und schwieg.

„Was wolltest du mir erzählen?“ Er wiegte sie sacht. Eigenartig, wie sehr er in seiner Rolle aufging! Sie spielte so gut, dass er sich wie ein Vater vorkam. Eine gespenstische Verwandlung. „Willst du es mir nicht sagen?“

Sie machte Anstalten, von seinem Schoß zu steigen. Er hielt sie fest. „Warte, sag mir erst, was dich traurig macht.“

Sie versuchte ungelenk, sich freizumachen.

„Was ist denn nur los?“

Sie strampelte wilder. Er traute sich nicht, sie loszulassen, aus Angst, sie könnte zu Boden fallen oder sich am Tisch stoßen.

„Hiii!“, kreischte sie, schnappte nach Luft und setzte sogleich wieder ein, grell und monoton. Sein Trommelfell schmerzte.

„Ruhig! Hör auf damit!“

Sie riss eine Hand los und traf ihn an der Wange, ehe er sie wieder packen konnte.

„Sei still!“, schrie er.

Immer panischer warf sie sich hin und her, immer schwerer fiel es ihm, sie unter Kontrolle zu halten. Dann kippte der Stuhl und er stürzte auf sie.

Bevor er sich von ihr wälzen konnte, warf sie ihn ab. Er prallte gegen den Küchenschrank, als habe ihn eine Geisterhand dagegen geschleudert.

Er spürte keinen Schmerz, nur Fassungslosigkeit, fast körperlich. Eben hatte sie sich noch vergeblich aus seinem Griff zu befreien gesucht, obwohl er sie nur schonend festgehalten hatte, damit sie sich nicht wehtat – und nun, da er mit seinem ganzen Gewicht auf ihr gelegen hatte, hatte sie ihn mit einem Ruck abgeworfen.

Sie schnellte in den Stand und stieß den Küchentisch um. Eine Vase mit einem Strauß, den ihm seine Eltern zum Geburtstag hatten liefern lassen, ging zu Boden und rollte zur Wand. Jan sah erleichtert, dass sie heilgeblieben war, da streifte ihn etwas am Kopf. Die Pfeffermühle zerbrach zwischen seinen Füßen, überall gingen Gewürzstreuer nieder. Er hob schützend die Arme und blickte auf.

Anna riss das Bord, auf dem die Gewürze gestanden hatten, aus der Verankerung und zertrümmerte es auf dem Herd. Die Glaskeramikplatte splitterte. Das holte Jan aus seiner Benommenheit. Anna ging zu weit. Was immer sie da abreagierte, er würde sie nicht ihre gemeinsame Küche verwüsten lassen!

Er rappelte sich auf und brüllte: „Stopp! Hör auf! Hast du sie noch alle?“

Sie starrte ihn an, die Augen zu Schlitzen verengt. Doch sie bewegte sich nicht, seine Aggressivität schien zu wirken. Also schrie er: „Du spinnst ja! Benimm dich wie ein normaler Mensch und nicht so völlig –“ Er hatte einen Fehler begangen. Was immer sich in ihrem Ausdruck geändert hatte, überzeugte ihn, dass er sie nicht hätte herausfordern dürfen.

Er machte einen Schritt nach hinten und hob beschwichtigend die Hände. Das bremste ihren ersten Schlag, der sein Gesicht nur touchierte. Der zweite traf ihn mit voller Wucht am Hals, sein Kopf wurde nach hinten gerissen.

Sie stürzte auf ihn zu, rutschte auf dem Durcheinander am Boden aus und schlug mit dem Mund gegen die Faust, die er abwehrend ausgestreckt hatte.

Mit einem wütenden Schrei zog sie sich zurück. Blut tropfte von ihren Lippen, in ihren Augen brannte die Mordlust. Die geweiteten Pupillen, die zuckenden Züge ihres Gesichtes, die gespannte Haltung ihres gesamten Körpers zeugten von Besessenheit.

Ihre Hand glitt über die Anrichte neben der Spüle, fast hätte Jan die schleichende Bewegung übersehen. Dort lag das Schneidebrett mit den geviertelten Birnen. Die Gehäuse waren bereits herausgeschnitten, das Fruchtfleisch hatte sich an der Luft bräunlich verfärbt.

Jan machte einen Satz nach vorne und packte ihr Handgelenk, gerade als sich ihre Finger um den Griff des Messers schlossen.

Mit der freien Hand schlug sie ihm erneut an den Hals. Der Atem blieb ihm weg, er hatte das Gefühl, dass sein Kehlkopf in die Luftröhre gerutscht war. Mit Schrecken dachte er, dass er dieser wahnsinnigen Wut nichts entgegenzusetzen hatte. Sie würde ihn schlagen, bis er ihr Handgelenk losließ, und dann würde sie ihn töten. Er war verloren, er würde sterben, hier in dieser verwüsteten Küche würde seine Leiche liegen! Da senkte er instinktiv den Kopf und rammte ihn so in ihr Gesicht, dass sie gegen den Kühlschrank stieß.

Ein dumpfes Geräusch.

Sie brach zusammen.

Ihr Kopf sank zur Seite, dann bewegte sie sich nicht mehr.

Es gelang ihm, ein wenig Luft einzusaugen. Er ging vor ihr in die Knie. Blut strömte aus ihrer Nase, Lippe und Augenbraue waren aufgeplatzt.

Er wollte zum Telefon stürzen, einen Arzt rufen. Aber wie sollte er ihren Kampf erklären? Er sah den Kommissar vor sich. Zugleich schossen andere Gedanken durcheinander: Wieso hatte sie ihn angegriffen? Sie hätte ihn getötet! Anna, seine Freundin, die ihn liebte, hätte ihm das Messer in den Körper gerammt! Was hatte diese Rage ausgelöst?

Sie röchelte.

„Anna, hörst du mich?“ Er nahm ihre Hand.

Die Hand blieb schlaff, ihre Augen geschlossen, das blutige Gesicht regungslos. Er legte zwei Finger auf die Innenseite ihres Handgelenks – der Puls war normal.

So tief er konnte, atmete er ein, fuhr mit den Armen unter ihrem Rücken und ihren Oberschenkeln hindurch und trug sie ins Schlafzimmer. Dort legte er sie auf dem Bett ab und schob ein zweites Kissen unter ihren Kopf, damit das Nasenbluten nicht in den Rachen lief.

Tränen stiegen ihm in die Augen. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Eigentlich hatte er überhaupt nicht gewählt, etwas in ihm hatte den Stoß mit seinem Kopf ausgeführt, schneller als er denken und rücksichtsloser als er handeln konnte. Ein Reflex. Doch nun lag sie da, ohnmächtig und blutüberströmt – und er hatte das getan. Mit Abscheu dachte er an den Moment, als er ihr Gesicht getroffen hatte, und wieder hörte er das dumpfe Geräusch, als ihr Hinterkopf gegen den Kühlschrank schlug.

‚Ruhe!‘, befahl er sich, als spräche er zu einem anderen. ‚Du bleibst ruhig und denkst nach. Du darfst jetzt keinen Fehler machen.‘

Er lief zurück in die Küche und öffnete das Kühlfach. Die Eiswürfel hatten sie bei der Party aufgebraucht, also kratzte er Eis vom Rand des Fachs und wickelte es in ein Geschirrtuch. Damit eilte er zu Anna und drückte es ihr an den Hinterkopf, an dem sich bereits eine Beule bildete. Doch das würde nicht helfen, falls sie innere Kopfverletzungen davongetragen hatte, die sofort behandelt werden mussten.

Sollte er einen Arzt rufen? Der könnte die Polizei informieren und dann würde der Kommissar denken: Wenn Anna ihren eigenen Freund grundlos attackierte, wieso nicht auch einen Tanzpartner, mit dem sie eine Affäre verband?

War sie es gewesen?

Ja, er traute es ihr zu – und nein, nie im Leben!

Vielleicht half es, wenn er rekonstruierte, wie das Drama eben seinen Lauf genommen hatte. Alles hatte damit begonnen, dass sie spielen und Schokolade essen wollte, um sich zu trösten, wie ein kleines Mädchen, und dann war sie auf seinen Schoß gekommen und in Panik geraten, weil er sie festgehalten hatte, und alles war eskaliert.

Seine Finger schmerzten vor Kälte, das Eis hatte zu schmelzen begonnen. Er zog seine Hand hinter ihrem Kopf hervor.

Anna bewegte klagend die Lippen. Er beugte sich zu ihr, doch sie formte keine Worte. Immerhin, das Nasenbluten hatte nachgelassen.

Falls sie wirklich versucht hatte, Rainer zu ermorden ... musste er sie nicht anzeigen? Und der Angriff eben? Sie war gefährlich. Doch zunächst musste er sie vor der Verhaftung bewahren, alles Weitere würden sie später sehen. Sie hatten im Tal überlebt, weil sie blind zueinandergehalten hatten – er konnte sie jetzt nicht einfach ausliefern. Gestern hatte er bereits vorschnell gehandelt und sie der Untreue verdächtigt, den Fehler durfte er nicht wiederholen.

Ihm fiel ein, dass der Arzt gar nicht zu ihnen zu kommen und die Blutspur zur verwüsteten Küche vorzufinden brauchte. Stattdessen würden sie mit dem Taxi ins Krankenhaus fahren und erklären, sie sei gefallen. Gleichzeitig aufs Gesicht und auf den Hinterkopf? Die Ärzte würden sich Anna genau ansehen. Häusliche Gewalt gegen Frauen, dafür mussten sie einen siebten Sinn entwickelt haben. Und wenn der Freund ebenfalls Kampfspuren trug ... Da wäre es geschickter, wenn Chris Anna begleitete. Trotzdem war das ein Schritt, den er nur im Notfall unternehmen sollte.

Sie blinzelte und drehte den Kopf ein wenig zur Seite.

Mit einem Mal kam Jans Furcht zurück. Er konnte nicht wissen, ob sie sich nicht wieder auf ihn stürzen würde, sobald ihre Kräfte dazu ausreichten. Sollte er sie fesseln und erst wieder losbinden, nachdem er vernünftig mit ihr gesprochen hatte? Er wusste weder, womit er sie verlässlich am Bett festbinden könnte, noch ob die Zeit dafür reichte.

Einfacher war, sie einzusperren. Sie verwahrten die Zimmerschlüssel in einem geflochtenen Körbchen im Wohnzimmer. Er sprang auf und lief hinüber. Das Körbchen stand, wo er es vermutet hatte, vier Schlüssel gleicher Art und Größe lagen darin. Er kippte sie in seine hohle Hand und eilte zurück. Gleich der erste Schlüssel passte.

Er war in Sicherheit. Nun musste er warten, bis Anna zu sich kam.

In der Zwischenzeit sollte er bei Carmen anrufen, die sich mit der Epilepsie ihrer Tochter auskennen und wissen musste, ob schizophrene Episoden dazugehörten. Vielleicht könnte sie ihm sagen, wie lange die anhielten und wie gewalttätig Anna danach noch war.

Er holte das Handy, das er zum Glück von der Polizeidienststelle hatte mitnehmen können, und setzte sich damit auf den Boden des Flurs. Die Nummer hatte er eingespeichert. Er ließ es lange klingeln, aber Carmen ging nicht ran.

Also versuchte er es bei seiner Verteidigerin, Frau Voß. Ihr Assistent holte sie auf Jans Drängen hin aus einer Besprechung. Sie berichtete, dass die Polizei eine Tänzerin namens Olga Wassiljew verhaftet habe. Ein Haar von ihr war im getrockneten Blut am Tatort gefunden worden, dort, wo Rainers Hand geruht hatte. Rainer könnte es ihr beim Kampf ausgerissen haben. Zudem war der Polizei ihre gescheiterte Liaison mit Rainer bekannt. Nachdem er sie hatte sitzen lassen, hatte sie Freundinnen gegenüber Rachepläne gehegt und allgemein schlecht von ihm gesprochen. Ein Alibi fehlte ihr für die Tatzeit, sie hatte sich laut ihren Angaben mit einem Mann getroffen, den die Polizei nicht hatte ausfindig machen können.

Jan dankte und beendete das Gespräch, ohne die Attacke in der Küche zu erwähnen. Ihm tat Olga leid. Eine Frau seines Alters, die aus verletzten Liebesgefühlen heraus Rache nahm – da wäre ihm ein abstoßender Mörder lieber, der so tief gesunken war, dass er kein Mitleid mehr hervorrief. Dennoch hoffte er, dass die Polizei damit die wahre Täterin gefasst habe und sich sein Verdacht gegen Anna als nichtig erweisen würde.

Allerdings hatte sich der Kommissar bereits einmal geirrt. Es war wohl seine Strategie, Verdächtige möglichst schnell zu verhaften, um sie unter Druck zu setzen. Wahrscheinlich gründete alles auf dem einen Haar. Dabei hielt sich Olga täglich in der Tanzhalle auf und pflegte unvermeidlich Kontakt mit Rainer. Das Haar konnte zufällig am Boden gelegen haben, als Rainer stürzte, oder es war an ihm hängen geblieben, als er auf das Bett gestiegen war. Es gab viele Möglichkeiten.

Jan wiederholte den Anruf bei Carmen. Während es klingelte, hörte er Annas Stimme und legte auf.

„... blutig!“, klagte sie. „Ich habe mich verletzt.“

„Es ist nicht so schlimm, wie du denkst“, rief er in beruhigendem Ton.

„Komm!“

Er spürte zugleich den Impuls, hineinzugehen und sich zu ihr zu setzen, und die Angst, sich ihr zu nähern. „Ich ... Es ist etwas Seltsames passiert.“

„Was ist los?“

Offensichtlich konnte sie sich nicht erinnern. Würde ihr Gedächtnis bis zum Kampf um das Messer zurückreichen, hätte sie Entsetzen über sich selbst geäußert. Und sie hätte ihm nicht mitgeteilt, dass sie verletzt war.

„Hatte ich einen Anfall?“, fragte sie zaghaft.

„Ja.“ Sie tat ihm leid. „Sag mir, woran kannst du dich erinnern?“

„Warum kommst du nicht zu mir?“

„Ich komme gleich, beantworte mir nur diese eine Frage.“

„Warum?“

„Bitte!“

„Ich war in der Küche. Ich habe dir Birnen geschnitten. Du bist reingekommen und warst ... ich glaube, du warst sauer. Und du hast mir gesagt, dass du die Tablettenpackung gefunden hast. Danach weiß ich nichts mehr, da muss ich den epileptischen Anfall bekommen haben.“

„Du hattest keinen epileptischen Anfall. Du hattest irgendetwas wie Schizophrenie. Erst hast du wie ein kleines Mädchen geweint und dann hast du mich angegriffen.“

Stille.

„Anna, ich weiß, dass du nichts dafürkannst.“

„Ich bin nicht schizophren!“, rief sie empört.

„Nein, das habe ich auch nicht so gemeint, aber du brauchst dir nur die Küche anzuschauen, dann weißt du, wovon ich spreche.“

Leise Geräusche.

„Anna?“

Die Klinke wurde nach unten gedrückt. Sie hatte seine Aufforderung wörtlich genommen.

„Du hast mich eingesperrt?“ Unglauben klang in ihrer Stimme.

„Du hast die Küche kurz und klein geschlagen und mich wolltest du mit einem Messer massakrieren.“

„Verflucht, ich hatte einen epileptischen Anfall! Und du sperrst mich ein!“

„Was hätte ich denn tun sollen? Woher kann ich wissen –“

„Lass mich sofort hier raus!“

„Ich muss erst –“

„Lass mich raus!“ Sie rüttelte an der Tür.

„Wenn du dich vernünftig verhältst, schließe ich auf.“

„Bist du wahnsinnig geworden? Mach auf!“, schrie sie und rüttelte heftiger.

Jan wusste nicht, ob die Tür standhalten würde, und zog seinerseits an der Türklinke, um das Schloss zu entlasten. Als sie merkte, dass sich die Klinke nicht mehr nach unten drücken ließ, beschimpfte sie ihn lautstark.

Nun musste er schnell entscheiden. Je länger er wartete, desto wütender würde Anna werden und desto gefährlicher wäre es, sie freizulassen. Außerdem könnte ein Nachbar die Polizei rufen. Nach ihrer Verhaftung würde sich niemand trauen, erst einmal bei ihnen zu läuten und selbst nach dem Rechten zu sehen.

Er konnte Anna nicht gefangen halten. Er durfte sie nicht herauslassen. Er wollte nicht die Polizei verständigen. Was tun?

Er nahm sein Handy und ging ins Internet. Die Suchmaschine öffnete sich. Er tippte, vertippte sich, löschte den letzten Buchstaben, der richtige Begriff erschien und er bestätigte ihn.

Anna schlug mit einem schweren Gegenstand auf die Tür ein.

Die Webseite baute sich auf, er klickte auf ‚Kontakt‘, merkte sich die Nummer und wählte. Schon nach dem zweiten Klingeln wurde abgenommen, eine Dame vom psychiatrischen Notdienst meldete sich. Jan begann, den Fall zu schildern. Sie unterbrach ihn und verband ihn weiter. Jazz in der Warteschleife. Eine dünne Stimme, der Jan kein Geschlecht zuordnen konnte, bat ihn, noch einmal von vorne anzufangen. Jan wurde gewarnt, dass jeder missbräuchliche Alarm geahndet würde.

In der Tür beulte sich eine Delle aus.

Der Lärm schien zu helfen. Die dünne Stimme versprach, dass in spätestens fünfzehn Minuten ein Arzt einträfe. Die Polizei werde noch früher vor Ort sein. Jan versuchte, einen Arztbesuch ohne Polizeibegleitung auszuhandeln – ohne Erfolg. Er habe selbst gesagt, wie unberechenbar seine Freundin sei, also solle er sich gefälligst in Sicherheit bringen und auf die Polizei warten.

Die Tür splitterte. An der ausgebeulten Stelle kam helles Sperrholz zum Vorschein.

Er griff sich Annas Handtasche, die neben dem Eingang hing, schüttete sie auf dem Boden aus und wühlte nach ihrem Schlüssel. Er nahm ihn an sich, verließ die Wohnung und schloss hinter sich ab. Seinen eigenen Schlüssel trug er in der Hosentasche, den Ersatzschlüssel hatten sie einem Nachbarn gegeben. Und die Wohnungstür war solide. Anna konnte nicht entkommen.

Auch im Treppenhaus waren die Schläge gegen die Schlafzimmertür deutlich zu vernehmen. Jan wollte nicht warten, bis Anna an der Wohnungstür stehen und diese bearbeiten würde. Ob sie wirklich standhalten würde? Er lief hinab in den Hof, von wo er das Treppenhaus zwischen jedem Stockwerk durch ein Fenster beobachten konnte. Das würde ihm im Notfall genügend Zeit geben davonzurennen.

Es nieselte. Nur unter der Linde war der Boden noch trocken. Jan flüchtete dorthin. Hier und da lösten sich schwere Tropfen vom Blätterdach, klatschten auf die Pflastersteine und verliefen sich dunkel.

Sein Hals schmerzte, er tastete ihn ab und zog schnell die Hand zurück. Bloß nicht anfassen, das war erst recht unangenehm. Anna hatte ihn mit voller Kraft getroffen. Auf dem Knöchel seines Zeigefingers entdeckte er einen Kratzer. Er saugte ihn aus und spuckte auf den Boden.

Ein älterer Herr kam in den Hof, sein schütteres Haar klebte am Schädel. Er stellte sich unter ein Vordach und kramte in der Innentasche seiner Jacke. Ein Kind in einem orangefarbenen Regencape trödelte in einigem Abstand hinterher. Es trat in eine Pfütze und lachte. Der Herr blickte zu Jan hinüber, lief hinaus in den Regen, nahm das Kind an der Hand und zog es ins Haus. Jan betrachtete seinen blutverschmierten Bademantel – und gleich darauf wieder das Treppenhaus, das er zu lange vernachlässigt hatte. Vielleicht hätte er den alten Mann warnen sollen, dass eine Verrückte die Treppe hinuntergerast kommen könnte.

Die Kirchturmuhr schlug Mittag. Jan fand die Luft unanständig kalt. Vor einer Woche hatte er noch draußen im Café gesessen. Der Spätsommer war vorbei, der wilde Wein verfärbte sich bereits. Jan ließ seinen Blick über die Hauswand gleiten, bis hinauf zu ihrer Wohnung im vierten Stock. Der Schrei blieb ihm im Halse stecken.

Anna saß auf dem Fenstersims des Schlafzimmers.

Sie schaute zu den Wolken und streckte eine Hand in den Regen. Dann lehnte sie sich zur Seite und versuchte, die Regenrinne zu erreichen.

Sie zog den Arm zurück, hob einen Fuß auf das Fensterbrett, stand auf, überkreuzte den anderen Fuß an ihrem Standbein vorbei und setzte ihn direkt neben die Kante. Jan ahnte, was sie im Sinn hatte, und tatsächlich griff sie an die Innenseite des Fensters und lehnte sich wieder hinaus zur Regenrinne, klammerte sich daran und stemmte einen Fuß dagegen. So verharrte sie etliche Sekunden.

An der nassen Rinne konnte sie sich unmöglich mit einer Hand festhalten, um den ganzen Körper nachzuziehen. Doch so gestreckt, wie sie jetzt dastand, konnte sie wahrscheinlich ebenso wenig zurück.

Plötzlich stieß sie sich vom Fenster ab. Für einen Moment sah es so aus, als wäre ihr der Sprung gelungen, doch sie rutschte unkontrolliert an der Rinne herab, bis sie mit den Füßen auf den wilden Wein stieß, der sich bis zum dritten Stockwerk hinaufwand – und sie abbremste.

Sie kletterte daran hinunter, sprang den letzten Meter und drehte sich um.

Jan versperrte ihr den Weg. „Bleib hier! Ich helfe dir!“

Mit wirrem Blick suchte sie nach einem Fluchtweg. Der Regen lief blutig über ihr Gesicht.

Jan machte einige Schritte zur Seite, damit sie sich weniger bedroht fühlte. „Ich will dir helfen, glaub mir!“

Sie wischte sich eine Strähne aus der Stirn. „Warum hast du das getan?“

„Ich wollte dich nicht verletzen, es war Notwehr, das war nicht wirklich ich.“

„Doch, du warst das.“

„Mit dir stimmt etwas nicht, du benimmst dich wie eine Irre und danach kannst du dich an nichts erinnern!“

„Das ist Unsinn! Du bist durchgedreht, weil ich keinen Sex mit dir wollte, und hast mich eingesperrt.“ Sie machte einen Schritt auf die Ausfahrt zu.

„Warte, bitte!“

Sie blieb stehen. „Jan ...“

„Wenn das stimmt, warum bist du aus dem Fenster gestiegen? Warum hast du nicht die Polizei gerufen?“

„Du hast mich verprügelt. Sieh dir an, wie mein Gesicht zugerichtet ist. Und am Hinterkopf habe ich eine Prellung. Aber sonst habe ich mich nirgends gestoßen. Das kann kein epileptischer Anfall gewesen sein.“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die aufgeplatzte Unterlippe und spuckte Blut aus. „Der Kommissar hätte dich wieder verhaftet.“

Ein Wagen bremste hart vor der Ausfahrt. Gleich darauf stürmten zwei Polizisten in den Hof.