1. Kapitel
Jan ließ sich auf die Couch sacken und seufzte. Wahnsinn, wie viele Leute aufgekreuzt und wie lange sie geblieben waren! Eine tolle Feier – dennoch tat es jetzt gut, durchzuatmen. Ruhe zu haben nach dem Stimmenpotpourri. Und Raum um sich.
Es war ohnehin eng bei ihnen. Zu beiden Seiten des Wohnzimmers bedeckten Regale die Wände, meist zweireihig mit Büchern zugestellt, und darüber füllten mit Bildern beklebte Kartons den Abstand bis zur Decke. Eigentlich kein Ort für eine Party, und sie hatten überhaupt nur vier Stühle, aber nachträglich war er Anna dankbar, dass sie ihm keine Wahl gelassen hatte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie es an seinem Geburtstag dabei belassen, etwas Ausgefallenes zu kochen und eine gute Flasche Rotwein zu trinken. Er lächelte zu Anna hinüber, die neben dem Fenster lehnte. Sie kam zu ihm auf die Couch und legte den Kopf auf seine Schulter.
So wollte er ewig sitzen. Satt vom Reden und Lachen, wortlos mit Anna vereint, die zu ihm gehörte – die Gäste waren gegangen, er und sie zurückgeblieben, eine selbstverständliche Einheit –, zudem ausreichend betrunken, dass sich keine quälenden Gedanken einstellten. Er streichelte ihre schwarzen Locken und träumte davon, sich in die Flut dieser Haare hineinfallen zu lassen.
Sie kicherte. Das fühlte sich lustig an, so wie sie an ihm lehnte.
„Hm?“
„Och, nur so, weiß auch nicht, warum.“
„Danke.“
„Hm?“, ahmte sie seinen Frageton von eben nach.
„Für die super-mega-hyper ...“
„Ultra“, sprang sie ihm bei.
„Giga.“
Ihnen fielen keine trendigen Steigerungswörter mehr ein und Anna brachte den Satz fröhlich zu Ende: „Geile Party. Hat’s dir also doch gefallen.“
„Ja.“
„Und du willst mir gar nicht sagen“, schmollte sie leidenschaftlich, „dass du dich heute Abend in mich verliebt hättest, wenn du es nicht schon wärst?“
„Das habe ich dir noch gar nicht gesagt?“
„Keine Spur.“
„Ein Skandal“, lachte er.
„Mir ist nichts anderes übriggeblieben, als mich zu betrinken.“
„Ach, deswegen. Und ich dachte, es wäre, weil deine Chris die besten rezeptfreien Cocktails der Welt mixt.“ Bei einem Drink hatte er Annas neuer Freundin zugeschaut: Sie hatte gnadenlos Brandy, Minzlikör, Tequila, Wodka und Ananassaft zusammengeschüttet. Wie diese Mixtur angekommen war, erinnerte er sich nicht mehr. Einige hatten jedenfalls fantastisch geschmeckt, andere waren stehengeblieben, nachdem einige probiert und Grimassen geschnitten hatten.
Chris war überhaupt ein Original. Er schmunzelte bei der Erinnerung an die erste kleine Aufführung der Ballettschule letzte Woche. Chris hatte in der zweiten Reihe getanzt, anmutig, doch so ungenau, dass es selbst ihm aufgefallen war. Er fand sympathisch, wie sie sich in ihrer Schludrigkeit treu blieb, und fragte sich, wieso sie ausgerechnet Profitänzerin werden wollte. Sie war kleiner als die anderen Mädchen, trug als Einzige kurze Haare und schien während der Vorstellung damit zu kämpfen, den obligatorischen maskenhaften Gesichtsausdruck beizubehalten. Jan konnte sich vorstellen, was für eine Herausforderung das war, so munter, wie ihr Blick sonst umhersprang.
Anna richtete sich auf. „Ja, Chris ist eine Nummer. Irre quirlig. Und das schon morgens! Manchmal könnte man meinen, die hat zum Frühstück einen Clown verspeist.“
„Hast du mitbekommen, wie sie dafür gesorgt hat, dass sich alle die Schuhe ausziehen?“ Er hatte sich daran gestört, wie viel Schmutz in die Wohnung getragen wurde, und Chris musste es gemerkt haben.
„Nein, da habe ich gerade einen Raucher runter in den Hof begleitet. Aber ich habe mich gewundert, dass alle plötzlich in Socken rumlaufen.“
„Chris hat eine Runde gedreht und allen versichert, sie dürften ihre Schuhe anbehalten, insofern sie übelriechenden Fußpilz hätten, das sei sehr rücksichtsvoll.“
Anna grinste. „Chris pur.“
„Hilfsbereit ist sie außerdem. Als ich sie zur Tür gebracht habe, hat sie noch gefragt, ob sie beim Aufräumen helfen soll.“
„Deine Leute waren auch nett. Und es hat mich gefreut, wie viele von deiner Seite gekommen sind.“
Jan winkte ab. „Das ist immer noch der Alaska-Effekt.“
„Quatsch! Die waren deinetwegen hier, nicht weil sie unsere Story aufregend finden.“
„Wenn du meinst.“
„Ja, das meine ich!“ Sie stand auf. „Ich bin gleich wieder da, und dann reden wir genau darüber weiter.“ Im Türstock blieb sie stehen und sagte weicher: „An solchen konkreten Dingen kannst du sehen, dass deine negativen Gedanken einfach nicht stimmen.“
Sie ging ins Bad und ließ Jan allein mit der Niedergeschlagenheit, die auf einmal wieder in ihm hochstieg. Es gelang ihm nicht, die Geschehnisse so wegzustecken, wie Anna sich das wünschte – und es ihm täglich vorlebte. Kaum dass die Stichwunde, die ihr der Mörder in der Schlucht zugefügt hatte, ausreichend vernarbt war, hatte sie sich ins Training gestürzt. Die Ballettschule hatte für sie eine Ausnahmeregelung getroffen, da ihr nach der tragischen Alaska-Reise nicht zuzumuten war, den Studienplatz in Paris anzutreten. Dass sie vor allem wegen Jan in Berlin bleiben wollte und sich Paris durchaus zugetraut hätte, hatte sie für sich behalten. Bereuen würde die Schulleitung ihr Entgegenkommen gewiss nicht: Keine tanzte wie sie! Zwar bemängelte sie ihren Rückstand, doch selbst wenn sie recht hatte, dass andere die technischen Feinheiten noch souveräner beherrschten – sobald sie auf der Bühne stand, galten alle Augen ihr, und trat sie ab, war es, als wäre die Wärme aus dem Licht genommen und der Glanz aus der Musik: Sie fehlte. Bei jenem kleinen Auftritt, an dem er sie zum ersten Mal richtig tanzen sah, hatte sich Jan erneut in sie verliebt. Mal wieder. Und dann gleich nochmal, als er sie gelobt und gemerkt hatte, wie wichtig seiner stolzen Anna war, dass er sie bewunderte.
Noch mehr bewunderte er sie allerdings dafür, wie sie Kontakt knüpfte, von sich erzählte, sich anfreundete. Alaska schien bei ihr einen Hebel umgelegt zu haben, und ihr gelang, woran sie zu Schulzeiten gescheitert war: Nach wenigen Wochen kannte sie jeden an der Ballettschule, vom Direktor bis zum Hauswart, und nebenbei Leute, die sie irgendwo aufgegabelt hatte, in einem Café, beim Schwimmen am Weißensee, in der Tram.
Vielleicht übertrieb sie beides ein wenig, das Training und das Socializing. Abends wirkte sie manchmal extrem erschöpft. Dazu kamen die Kopfschmerzen, die sie runterspielte, und die Albträume, von denen Jan nichts wüsste, wenn ihn die nächtlichen Schreie nicht mehrmals geweckt hätten. Er hatte sie befragt, welche Erinnerungen sie quälten. Aber sie war der Ansicht, dass sie das Tal hinter sich lassen und sich lieber mit der Zukunft beschäftigen sollten. Sie ging auch nicht wie er jede Woche zu einer Psychologin, um sich bei der Aufarbeitung des Traumas helfen zu lassen.
Anna kam frisch frisiert zurück und lächelte. „Hast du mich zerwühlt! Ich sah aus, als käme ich direkt aus dem Dschungel.“
„Wo jeder Mann sich liebend gerne mit dir herumgetrieben hätte“, scherzte er. Sie sah schrecklich gut aus! Diese Kraft in ihren leuchtend grünen Augen, in den klaren Linien ihres Gesichts, in jeder gleitenden Bewegung. Wie so oft beschlich ihn Angst vor ihrer Schönheit: Würde er ein solches Wesen halten können? Zugegeben, er kam seit seiner Rückkehr bei den Frauen besser an. Wahrscheinlich machte ihn Alaska interessant. Oder es lag daran, dass er durchs Studium mit anderen Frauen Umgang hatte, solchen, die sich für Literatur und Kunst begeisterten und seine Schwermut für apart hielten. Dennoch stach ihn manchmal die Furcht, dass Anna sich einen strahlenden Don Juan suchen könnte.
„Wir waren bei deinen neuen Freunden stehengeblieben.“ Anna setzte sich auf die Couch, diesmal nicht an ihn geschmiegt, sondern ihm aufrecht zugewandt. „Sie mögen dich wirklich.“
Er blickte auf den übervollen Tisch, auf dem sich Gläser und Bierflaschen gefährlich bis an den Rand drängten, und verspürte keine Lust auf eine animierende Rede. Also sagte er beliebig: „Alle hatten sich heute Abend was zu erzählen. Es hat wirklich gut geklappt, unsere Bekanntenkreise zusammenzuführen.“
Anna musterte ihn kritisch, dann gab sie nach und lächelte. „Ja, ohne feste Cliquen mischen sich die Leute leichter.“
„Dieser Rainer und Olga scheinen sich aber gekannt zu haben.“
„Die beiden haben in Brandenburg gelebt und sich dort bei einem Ballett-Kurs kennengelernt. Ein Jahr oder so waren sie zusammen. Dass sie hier an der gleichen Schule aufgenommen worden sind, hat sich allerdings als Pech herausgestellt. Kurz nach Studienbeginn hat er sich getrennt.“
Das erklärte einiges. Olga hatte wiederholt gegen Rainer gestichelt und ihn schließlich gefragt, ob er mal wieder im falschen Bett aufgewacht sei. Woraufhin Rainer erwidert hatte, die Frauenquote sei in Berlin höher als in Brandenburg, da müsse man weniger Kompromisse eingehen. Kurz darauf war sie zu einer anderen Fete aufgebrochen.
„Schade, dass Rainer nicht auch abgezogen ist“, bedauerte Jan.
„Den wird man nicht so leicht los. Wenn du den besser kennen würdest –“
„Kein Bedarf.“ Ein herablassender Schnösel! Allein seine Frisur – die vom Wet Gel glänzenden Strähnen wie ein Kamm über das linke Auge gezogen – brachte Jan dazu, sich auszumalen, wie er während einer Ballett-Vorführung auf die Bühne sprang und den Wichser in seinem schwuchteligen Kostüm unter dem Beifall der Zuschauer vermöbelte. Leider war Rainer nicht schwul, sonst hätte er seine Pfoten von Anna gelassen. Bei der Begrüßung gab es drei Küsschen und bei der Verabschiedung natürlich ebenfalls, und im Gespräch hatte er sie ständig an Händen und Armen berührt. „Er hat an dir geklebt wie ein Blutegel.“
Anna blickte befremdet. Als Jan ihr die Küsschen vormachte, verdrehte sie die Augen. „Das ist unter Tänzern üblich.“
„Trotzdem kann ich ihn nicht leiden.“
Sie massierte mit dem Fuß seine Wade und flüsterte: „Ich liebe dich und nur dich, dass du mir nicht daran auch noch zweifelst!“
„Ich bin nicht eifersüchtig. Er ist einfach nur ätzend. Erzählt, dass wir aus unseren Streitigkeiten mit anderen Rhetorik machen, aber aus unseren inneren Konflikten Poesie. Als ob das von ihm stamme.“
Anna zog eine Braue hoch. „Sondern?“
„Yeats.“ Da ihr der Name nichts zu sagen schien, fügte er hinzu: „Ein irischer Dichter, Nobelpreisträger.“
„Na, dann lass Rainer das nächste Mal auflaufen, wenn du ihn bei einem Bluff erwischst.“
Jan schaute weg. „Was soll’s? Ich will mich ja nicht mit deinen Gästen streiten.“
„Er ist bei mir im Kurs, da konnte ich schlecht sagen: ‚Alle dürfen kommen außer dir.‘ Mein Fall ist er auch nicht. Hast du gehört, wie er in der Küche rumkrakelt hat, dass die Leber mit ihren Aufgaben wächst? Mag ja sein, aber sein Ego wächst noch schneller.“
„Das mit der Leber hat er mindestens drei Mal gesagt“, stöhnte Jan, zufrieden, dass sie über Rainer einer Meinung waren. „Überhaupt, jeden Spruch muss er wiederholen, bis alle mitgekriegt haben, was er da für einen überirdisch genialen Einfall gehabt hat. Total angestrengt.“
„Ja, der kommt beim Witzigsein ins Schwitzen.“ Anna imitierte Rainer, und Jan prustete los. Mit ihm war sie meist reizend – aber über wen sie sich ärgerte, der bekam sein Fett weg. Zum Beispiel die Autofahrer, die sie auf ihrem Rad zu knapp überholten. Einem hatte sie an der folgenden Ampel in sachlichem Ton geraten, sich mal an die Eier zu greifen und fest zuzudrücken. Sie ließ sich eben nichts gefallen.
„Sollen wir noch ein bisschen Ordnung schaffen?“
Anna lächelte. „Es ist dein Geburtstag. Wenn du willst, können wir den Boden nass wischen bis zum Morgengrauen.“
„Ich bin gar nicht so ein Fanatiker. Nur ein ganz klein bisschen aufräumen“, bettelte er spielerisch und ging in die Küche, das Tablett zu holen.
Auch hier war alles mit Geschirr zugestellt, in der Spüle stapelten sich Schüsseln und Teller. Der Boden klebte. Jan schüttelte den Kopf über den Widerwillen, den er bei diesem Anblick empfand. Er war schon immer eher von der ordnungsliebenden Sorte gewesen, aber seit Alaska übertrieb er damit. Er hatte seiner Psychologin davon erzählt, und gemeinsam hatten sie es so gedeutet, dass er mit Schmutz und Durcheinander den Niedergang ihrer Gruppe im Tal assoziierte. Wehret den Anfängen, warnte ihn sein Instinkt sozusagen. Er solle sich wegen dieser Empfindlichkeit nicht beunruhigen, das würde sich mit der Zeit legen. Wie sich überhaupt alles mit der Zeit legen würde, wenn er der Psychologin Glauben schenken wollte.
Er sammelte einen Bierdeckel auf, der unter den Tisch gerollt war, und warf ihn in den Mülleimer. Darin lagen Scherben – ein Weinglas, ausgerechnet aus dem neuen Vierer-Set, von dem bereits zwei in der Spülmaschine aneinandergeschlagen und zerbrochen waren. Er ließ den Deckel des Mülleimers zuschnappen, nahm das Tablett vom Schrank und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Anna war dabei, Chips-Krümel von der Couch einzusammeln.
„Ein Weinglas ist kaputt gegangen.“ Seine Stimme schwankte. „Von denen, die du mir geschenkt hast.“ Er hatte an einem Abend gemäkelt, dass ihre Weingläser so unelegant seien, und als Anna am nächsten Tag vom Training zurückkam, hatte sie ihm ein Set schicker, dünnwandiger Rotweingläser überreicht.
„Das Gesetz der Serie: Es bleibt immer eines übrig.“ Sie blickte auf und schickte ihm einen beruhigenden Kuss durch die Luft. „Die haben nichts getaugt. Das nächste Mal kaufen wir welche, die besser halten.“
Das war sehr lieb. Schließlich hätte sie ihm vorhalten können, dass er sich luxuriöse Gläser gewünscht hatte, die unvermeidlich zerbrechlicher waren als die kleinen alten. Und dass er sich wegen ein paar Scherben nicht so anstellen solle. Aber so hart sie mit sich selbst war, gab sie sich größte Mühe, ihn zu schonen und aufzumuntern, wenn er in eine solch anfällige Stimmung abrutschte. Er war gerührt, fühlte sich jedoch nach wie vor von den Scherben verunsichert. Wie schnell alles in die Brüche gehen konnte! Es gab keine Gewissheiten im Leben, jederzeit konnte eine Katastrophe hereinbrechen.
Für solche Fälle hatte ihm die Psychologin geraten, er solle die Angst wahrnehmen, sich klarmachen, dass sie keinen aktuellen Grund hatte, und sich dann mit etwas anderem beschäftigen. Er stellte das Tablett mit einer Ecke auf den Tisch und begann, es zu füllen. Sie räumten alles in die Küche und soviel nur irgend ging in die Spülmaschine, dann reinigte Jan die großen Teile von Hand, während Anna abtrocknete. Schweigend kämpfte er gegen die Ängste, die in sein Bewusstsein einsickerten. Wie er sich die Steilwand abgeseilt hatte, freipendelnd über dem Fluss, der zig Meter unter ihm dahinzog. Wie er hinübergeblickt hatte zum Wäldchen vor der Schlucht, von wo aus der Mörder jederzeit auf ihn schießen konnte. Und als er endlich unten angekommen war, musste er mit ansehen, wie Anna und Michael sich ihrerseits am Seil hinabhangelten. Sein Gedächtnis hielt all diese Momente äußerster Anspannung parat, und manchmal wirkten sie realer als die Gegenwart.
Mit einem Ruck legte Jan den Schwamm beiseite, seifiges Wasser spritzte an die Wand. „Gut, das reicht. Jetzt lasse ich dich endlich schlafen.“
„Wir sollten noch was für unseren Flüssigkeitshaushalt tun.“ Anna füllte zwei große Gläser mit Wasser und ging ins Wohnzimmer, er folgte ihr und setzte sich zu ihr an den vom Wischen noch feuchten Tisch.
„Weißt du ...“
Ja, er wusste, was kommen würde. Ihre schmerzlichen Blicke in der Küche waren ihm nicht entgangen. Sie hasste es, wenn er sich schlecht fühlte und sie ihm nicht helfen konnte, und schaffte es nicht, ihn in Ruhe zu lassen.
„Du brauchst keinen Schlussstrich zu ziehen, aber setz zumindest einen Punkt hinter Alaska.“
Er lächelte traurig. „Das hast du schön gesagt.“
„Ich denke auch oft genug darüber nach.“
„Ich brauche einfach Zeit.“
„Du darfst dir nicht angewöhnen, den Kopf hängen zu lassen. Danach ist es verdammt schwer, ihn wieder aufzurichten.“
„Deswegen gehe ich zu der Psychologin.“
„Die kann den Job nicht für dich erledigen. Letzten Endes kann man sich nur selbst helfen. Du musst es wollen.“
„Ich will es ja!“
„Du musst es noch mehr wollen. Nicht nur prinzipiell, sondern in jedem Moment. Nimm den Kampf mit jedem depressiven Gedanken auf, der sich bei dir einnistet. ‚Nicht mit mir!‘, musst du ihm entgegenschreien, ‚Bei mir bin ich der Herr. Ich entscheide.‘“ Ihre Stimme war drängend geworden.
„Jeder muss auf seine Weise damit fertig werden. Ich finde das imponierend, wie du nach Alaska genau das lebst, was du dir vorgenommen hast. Man sagt ja immer, man will dieses und jenes, bloß tut man es nicht. Was du alles anders machst, ohne groß davon zu reden, ist echt beeindruckend, vor allem, weil du nicht nur noch härter trainierst, sondern auch Sachen angehst, die man nicht mit Disziplin erreichen kann. Dich anderen öffnen und so.“
Sie schaute geheimnisvoll. „Auch dafür braucht man Disziplin.“
„Übertreib es nicht mit deiner Disziplin! Denk an deine Albträume – du musst den Horror genauso verarbeiten wie ich. Nur kontrollieren geht nicht.“
„Disziplin und Liebe, diese zwei.“ Sie lächelte.
Er legte seine Hand auf ihre. „Ohne dich ... ich will es mir gar nicht vorstellen! Mit dir habe ich das Gefühl, dass es sich zu kämpfen lohnt. So, wie wir aus dem Tal entkommen sind: Was auch kommen mag, wir schaffen das.“
„Ja, zusammen schaffen wir das.“ Sie schob ihre Finger zwischen seine und drückte sanft.
Für einige Sekunden durchströmte ihn zärtliche Zuversicht, dann erinnerte er sich, wie es ihm eben in der Küche ergangen war: Trotz ihrer Nähe hatte er die deprimierenden Gedanken nicht abschütteln können. Es war richtig, dass es ihm mit ihr besser ging – aber ob ihre Liebe reichen würde? „Wenn wir nur ganz zusammen wären“, seufzte er.
Ihr Blick verfinsterte sich.
„So habe ich das nicht gemeint.“
„Du hast gesagt, dass du Zeit brauchst. Ich brauche auch Zeit. Ich will nicht, dass wir miteinander schlafen, solange wir noch so von Alaska geschockt sind. Das soll unter einem anderen Vorzeichen stehen.“
„Entschuldige, du hast recht. Es ist eine unsinnige Vorstellung von mir, dass sich damit alles ändern würde. Es ist nur ... irgendwie kommt die Idee immer wieder. Weil ich mich so nach dir sehne. Als ob das alles Böse davonschwemmen könnte. So überwältigend, dass die Existenz neu beginnt.“ Es war ihm peinlich, davon zu sprechen und erst recht, damit indirekt um Sex zu bitten. Er wusste immer noch nicht, ob sie schon mit einem Mann geschlafen hatte – wovon er eigentlich ausgehen musste, aber wonach er nicht zu fragen wagte. Und sie vermied das Thema. „Ich rede manchmal Unsinn, hör nicht auf mich. Es war nicht meine Absicht, damit anzufangen.“
„Und wenn das kein Unsinn war?“ Sie sah ihm ernst in die Augen.
Sein Puls beschleunigte, ohne dass er recht wusste, weshalb.
„Glaubst du ehrlich, dass du dann einen Punkt hinter das Tal setzen könntest?“
Würde sie mit ihm schlafen, wenn er jetzt Ja sagte? Sein Herz raste.