13. Kapitel
Sie fielen sich in die Arme.
„Du bist gekommen!“, flüsterte Anna und drückte die unverletzte Seite ihres Gesichts an seinen Hals.
„Wie geht es dir?“ Als er sie entdeckt hatte, war all seine Furcht verflogen. Er war einfach nur auf sie zugerannt, als wäre sie von einer Weltreise zurückgekehrt. Nun mischte sich die Furcht wieder in seine Freude, und die Frage bedeutete zugleich: ‚Bin ich vor dir sicher?‘
Sie löste sich. „Ist dir die Polizei gefolgt?“ Ihre Stimme war plötzlich voll Mistrauen und ihr Gesicht angespannt, doch die großen Kreise der Sonnenbrille mit ihren dicken Rändern und die weit nach vorn gezogene Kapuze machten es schwer, ihren Ausdruck abzulesen.
„Ich bin heimlich aus Chris‘ Zimmer durchs Fenster geflohen, aber in Rostock haben sie mich überwacht – wie du vermutet hast. Daraufhin habe ich alles getan, um sie abzuschütteln. Sie können mir nicht gefolgt sein.“
„Du glaubst mir also endlich?“
„Ich glaube, dass wir in Ruhe reden sollten.“
„Du willst mich nicht ausliefern?“
„Nein.“
„Und du willst mich auch nicht ... zwingen? Sei vorsichtig, versuch es nicht noch einmal mit Gewalt, sonst wirst du es bereuen!“
„Anna, es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe. Es war Notwehr, du hattest wirklich ein Messer –“
„Du weißt, dass ich dich nie angreifen würde! Wie kannst du so etwas behaupten? Egal, dafür haben wir jetzt keine Zeit, unser Leben steht auf dem Spiel. Kann ich dir vertrauen?“
„Das kannst du.“
„Dann sollten wir uns im Wald verstecken.“
Jan gefiel der Gedanke nicht. Am Strand kamen zumindest gelegentlich Spaziergänger vorbei. „Hier sind so wenig Leute“, sagte er möglichst unbekümmert, „kein Mensch wird dich im Vorbeigehen erkennen.“
„Was ich fürchte, sind die Amerikaner. Sie haben längst ihre Killer geschickt.“
Jan bemühte sich, einen aufmerksamen, unvoreingenommenen Eindruck zu vermitteln. Er musste Anna reden lassen, um sich in ihre Wahnwelt einzufühlen.
„Seit meiner Flucht sind fast zwei Tage vergangen.“ Etwas im Wald zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, sie stockte und sprach halb abgewandt weiter. „Ausreichend Zeit, um Killer aus den USA einzufliegen. Wir können nur hoffen, dass du die ebenfalls abgehängt hast. Auf jeden Fall müssen wir uns verbergen. Sie werden die Umgebung von Rostock durchstreifen.“
„Wo willst du hin?“
Sie wandte sich ihm wieder zu. „Ich habe viele Möglichkeiten durchgespielt. Die Beste ist, heute Abend die Fähre nach Helsinki zu nehmen. Für Finnland braucht man keinen Pass und dort können wir in den Wäldern verschwinden.“
„Und dann?“
„Wir schicken E-Mails an die Presse und an Wikileaks, damit die Machenschaften der Amerikaner aufgedeckt werden.“
Die Verschwörung, das war ihr großes Thema, und was immer er sonst ansprechen würde, sie würde unweigerlich die Verschwörung als Wurzel allen Unheils ins Feld führen. Hier musste er ansetzen. „Wenn es etwas aufzudecken gibt, warum ist das nicht längst geschehen? Unsere Horror-Story und die Morde, die der Wahnsinnige zuvor begangen hatte – das hat Furore gemacht. Die Medien haben über alles berichtet, nur nicht über ein Testgelände für Waffen. Wenn das Militär all die Toten hingenommen hat, muss das ein wichtiges Programm gewesen sein, mit vielen Forschern und Soldaten zum Bau der Anlagen und zum Schutz und dann auch noch für die Logistik und was sonst alles anfällt, um so ein Projekt am Laufen zu halten.“
„Die Armee –“
„Warte, lass mich ausreden! Die Armee ist nicht einfach die Armee, sondern ein Haufen Menschen mit Familien und Freunden. Meinst du, nach allem, was passiert ist, hätten die alle den Mund gehalten? Niemand, der sein schlechtes Gewissen nicht ertragen und ausgepackt hat? Überleg mal, was wir alles von Guantanamo wissen. Und die Folter im Irak, dieses Gefangenenlager, Abu Ghraib, das ist auch rausgekommen. Und wo hatte Snowden, nein, der andere, dieser Schwede, der Wikileaks gegründet hat, wo hatte der seine Dokumente her?“
„Assange.“
„Richtig, so heißt er. Und die Dokumente?“
„Du willst darauf hinaus, dass ein Soldat die Dokumente weitergegeben hat.“
„Genau. Heutzutage lassen sich solche Megaprojekte nicht mehr geheim halten. Erst recht nicht, wenn sie so unethisch sind wie das, was deiner Ansicht nach in Alaska abgelaufen ist.“
Anna hatte ihre Stirn in Falten gelegt und ihre Lippen zusammengepresst. Jan war froh, dass die Sonnenbrille ihren Blick verbarg. Sie war ihm unheimlich genug. Er musste ihr widersprechen, wusste jedoch nicht, wie weit er gehen durfte.
„Du bist naiv“, konterte sie. „Nur weil in den letzten Jahren ein paar Sachen herausgekommen sind, heißt das nicht, dass nicht viel mehr verborgen geblieben ist. Die berühmte Spitze des Eisbergs. Wenn etwas mehr ans Licht gekommen ist, bedeutet das nur, dass umso mehr schmutzige Sachen gelaufen sind. Zum Beispiel die Laser-Kanone, die die Amerikaner heimlich konstruiert haben. Die haben sie schon im Irak-Krieg eingesetzt. Und die Überwachungsmaschinerie der NSA! Die haben nicht nur Merkels Handy angezapft, die spionieren auch die eigenen Politiker aus. Sogar was im Senats-Ausschuss läuft, der für die Überwachung der US-Geheimdienste zuständig ist. Die haben einen solchen technologischen Vorsprung, die kann keiner mehr kontrollieren.“
Jan gestand sich ein: Die Verschwörung war als Thema zu groß, die USA zu weit weg, als dass er ihr die Unhaltbarkeit ihrer Fantastereien nachweisen könnte. Also winkte er ab und sagte: „Da kommen wir nicht so leicht zu einem gemeinsamen Verständnis. Lass uns über etwas Konkretes sprechen. Was weißt du von Rainers Sturz?“
„Fast nichts.“ „Du hast also noch nicht mitbekommen, dass sie Olga entlassen haben?“
„Olga ist verhaftet worden?“
„Die Polizei hat ein Haar von ihr in seinem Blut gefunden.“
„Ein Haar?“ Sie schüttelte erregt den Kopf und murmelte: „Ein Haar. Ein Haar im Blut.“
Von ihrer plötzlichen Veränderung erschreckt, fragte Jan vorsichtig: „Was ist damit?“
„Das Haar ...“ Anna hielt Daumen und Zeigefinger zusammen und schaute so konzentriert, dass Jan sich zu ihr beugte, um sich zu vergewissern. Da war kein Haar zwischen ihren Fingern.
Anna ließ die Hand sinken. „Das blonde Haar aus ihrem Spind.“
„Ihr habt alle euren eigenen Spind?“ Jans Herz klopfte schneller.
„Ja. Manche lassen ihre Sachen darin liegen und schließen ihn ab. Olga nicht.“
„Olga lässt ihren Spind offen?“
„Ja. Und darin liegen oft Haare. Sie hat dicke, lange Haare. Auf dem dunkelgrauen Blech heben die sich deutlich ab.“
„Du wusstest, dass du dort ein Haar von ihr finden würdest?“, hakte er nach, kaum dass sie ihren Satz beendet hatte.
In einer kleinen, zuckenden Bewegung hob sie das Kinn und streckte es ihm entgegen. „Wovon sprichst du?“
„Als du zu ihrem Spind gegangen bist –“
„Wieso soll ich zu ihrem Spind gegangen sein? Der war doch leer!“
„Nach Rainers Sturz –“ Er bremste sich, das war zu direkt, damit würde er sie unnötig provozieren. „Das Haar, das du gesehen hast, das du eben in deiner Hand gehalten hast, in deiner Erinnerung, wo hattest du das her?“
Anna dachte nach. „Ich habe dir doch schon gesagt, wie schlecht mein Gedächtnis funktioniert, seit ... du weißt schon, ich will nicht wieder darüber streiten. Ich sehe nur das Haar und spüre dabei meine Aufregung, aber wann das war ... und warum mich das überhaupt so aufregt, ein einzelnes Haar ...“ Sie schüttelte den Kopf.
Anna hatte Rainer nicht nur hinuntergestoßen, sie hatte auch versucht, Olga die Schuld zuzuschieben. Und nun schaffte sie es, den Zusammenhang zwischen einem Haar, das sie unerklärlich in Aufruhr versetzte, und dem Indiz, das zu Olgas irrtümlicher Verhaftung geführt hatte, nicht zu begreifen. Wenn sie sich so gegen diese Einsicht wehrte, war es wohl klüger, sie nicht zu bedrängen. Und auch ihren Angriff auf die Krankenschwester, Farid und den Kommissar sollte er nicht von sich aus ins Gespräch bringen – ihre Anspannung wuchs, sobald er von Geschehnissen sprach, für die ihr die Erinnerung fehlte.
„Mach dir nichts draus.“ Er nahm ihre Hand und sie gingen schweigend nebeneinander am Wasser entlang, unterhalb eines Strandstreifens, der mit bunten, abgeschliffenen Kieseln, olivbraunen Seegrashalmen, hellgrünem, glitschigem Tang und Muscheln bedeckt war. Ab und an lagen größere, schwarz glänzende Steine dazwischen, die härter sein mussten, denn sie hatten ihre Kanten und Ecken bewahrt. Noch ein Stück weiter oben am Strand war all dieses Schwemmgut zu unförmigen Haufen zusammengedorrt.
Anna löste ihre Hand. „Du warst heute Morgen bei Chris.“
„Ja. Sie hat mir bei der Flucht geholfen.“
„Hat sie dir die Nachricht persönlich übermittelt?“
„Ja. Und vorgestern ist sie spontan in die Klinik gekommen.“
„Wieso das?“
„Um uns beizustehen.“
„Um dir beizustehen.“
„Nein, sie ist sehr besorgt um dich, und alles, was sie für mich tut, soll letztlich dir helfen.“
„Du magst sie gern.“
„Sie ist lustig und –“
„Ja, ihr lacht ständig, wenn ihr zusammen seid.“
„Ganz so ist es auch nicht.“ Er zeigte hinaus aufs Meer. „Was ist denn das für ein Vogelschwarm?“
„Keine Ahnung.“
„Weiß mit schwarzen Köpfen.“
„Wie habt Ihr Euch die letzten beiden Tage verstanden?“
Er tat, als bemerke er den schneidenden Ton nicht. „Na, es ging natürlich immer um dich. Gelacht haben wir sicher nicht.“
„Ihr haltet mich also beide für krank. Wie schön, da könnt ihr mich bei einem gemeinsamen Kaffee bemitleiden.“
„Was soll das?“
„Oder seid ihr schon beim Wein angelangt?“
„Sie ist nicht so der Wein-Typ. Sie hat mir eine Flasche Bier mitgebracht“, erwiderte Jan verärgert. Er traute sich in Annas Nähe, weil er sie liebte, und sie beschuldigte ihn, dass er sich schon nach der Nächsten umsehe.
Anna blieb stehen, nahm einen Stein und warf ihn weit hinaus ins Wasser. Er versuchte, sie zu beschwichtigen: „Ich will keine andere, wir stehen das gemeinsam durch. Wenn du eine Therapie machst, werde ich warten.“
„Hör auf, mich wie eine Geistesgestörte zu behandeln! Sie haben mir Drogen gegeben, das wird vorbeigehen. Ich kann schon wieder viel klarer denken als heute Morgen.“ Sie holte weit aus und schleuderte den nächsten Stein. „Und tu nicht so, als ob dir Chris egal ist!“
„Chris ...“ Er wollte sagen, dass sie ihm nicht egal war, dass er sie mochte, ihre natürliche Fröhlichkeit, die auch vor der ‚verdammten Kacke‘ im Leben nicht zurückschreckte, ihr beruhigendes Trotzdem-Lachen. Aber in Anbetracht der Wut, in die sich Anna hineinsteigerte, schwieg er lieber.
„Du kannst dich mit dem Sex nicht gedulden, und deswegen flirtest du mit den anderen Tänzerinnen!“
„Das stimmt nicht.“
Sie sammelte einen faustgroßen schwarzen Stein auf. Die Knöchel ihrer Hände und die Muskeln der Unterarme traten hervor, so fest presste sie ihn zusammen. „Und mit deinen Germanistinnen!“
Abrupt drehte sie sich um und ging mit großen, schnellen Schritten entlang der Linie davon, bis zu der die Wellen den Sand durchtränkt hatten.
Jan ließ sie ziehen. Er hatte ihre wachsende Spannung mit Sorge beobachtet – und ebenso den Stein in ihrer Hand. Da war es ihm lieber, wenn sie auf Abstand ging. Er konnte sie ohnehin nicht zwingen, die Wahrheit anzuerkennen. Und irgendwie hatte er den Eindruck, dass das eine gesunde Reaktion war: Sie hatte ihre Eifersucht auf Chris gezeigt und lief nun weg, um mit ihren Emotionen allein zurande zu kommen. Sie hätte Chris ebenso gut in ihre Verschwörungstheorie einbauen oder in eine andere Identität flüchten können, in der es diese Eifersucht nicht gab.
Anna blieb stehen. Sie warf den Stein in einem kleinen Bogen aus dem Handgelenk ins Wasser und ließ den Kopf hängen.
Jan näherte sich langsam. Als er sah, dass sie weinte, beschleunigte er und öffnete die Arme. Sie ließ sich hineinsinken und begann zu schluchzen.
„Es ist mir alles zu viel. Einfach zu viel. Ich kann das nicht mehr. Ich will –“ Sie weinte heftiger. „Was ist nur los mit mir? In Alaska habe ich den Druck ausgehalten, und jetzt? Warum ist jetzt alles so anders?“ Der Ausläufer einer Welle schwappte um ihre Füße. „In Alaska, da haben wir nie gewusst, was eigentlich geschieht, oder wir haben etwas geglaubt und danach festgestellt, dass wir uns getäuscht hatten.“ Sie schniefte. „Es war zum Verrücktwerden und trotzdem war es wirklich, ich meine, es hat sich wirklich angefühlt. So, wie wenn man mit verbundenen Augen Dinge berührt, die man nicht kennt: Man kann damit nicht viel anfangen, aber das Fühlen selbst ist wie immer. Jetzt habe ich das Gefühl, dass meine Finger ganz taub sind. Dieser verdammte Benounes.“
„Er hat dir keine Drogen gegeben, da bin ich mir sicher.“
„Was sonst?“
„Ich habe letzte Nacht lange mit ihm gesprochen. Er will uns helfen.“
„Er und Schiefer sind Verräter, die für die Amerikaner arbeiten.“ Nichts verriet, dass sie sich an den Mord am Kommissar erinnerte. „Du hast bestimmt auch mit meiner Mutter gesprochen.“
„Sie hat sich ausführlich mit Herrn Benounes unterhalten und ihm alle Krankenunterlagen übergeben.“
„Und mit dir? Hat sie mit dir darüber geredet?“
„Nein, aber Herr Benounes hat mir einiges anvertraut. Dass –“, Jan zögerte und tastete sich Wort um Wort weiter, „du schon einmal in Behandlung warst, bevor ich dich kennengelernt habe, und dass es dir danach besser ging – bis wir nach Alaska gefahren sind.“
„Ja“, stieß sie hervor.
„Du hast eine erfolgreiche Therapie absolviert. Aber mit manchen Erfahrungen kann man nicht auf einen Schlag fertig werden, vor allem wenn man noch nicht erwachsen ist.“
Sie sagte etwas Unverständliches, entfernte ihren Mund von seiner Jacke und wiederholte deutlicher: „Als ich die Epilepsie hatte ... Komm, setzen wir uns.“ Sie zog ihn einige Schritte landeinwärts auf den Sand und lehnte sich an seine Schulter. „Du wirst böse sein, weil ich dir nicht alles erzählt habe. Ich hatte keine normale Epilepsie.“
Ein Dackel kam auf sie zu, schnüffelte an ihren Füßen und folgte dem Ruf seines Herrchens. Anna wartete, als müsse der Dackel erst außer Hörweite sein, ehe sie weitersprach: „Am Anfang war ich in einer geschlossenen Anstalt und dann in einem betreuten Frauenhaus mit meiner Mutter. Dort habe ich eine Freundin gefunden, und auch als ich wieder mit meiner Mutter ganz normal wohnte, haben wir uns oft getroffen. Die Freundin hat mit Pilzen experimentiert und ich habe mitgemacht. Das war wie einige Jahre Therapie auf einen Trip zusammengeballt. Die schlimmen Erinnerungen erschienen mir im Rausch so verzerrt, fast lächerlich, danach konnten sie mich nicht mehr in den alten Schrecken versetzen.“
Jan konnte das nach seinen eigenen psychedelischen Erfahrungen gut nachempfinden. Selbst Annas Todesangst hatte ihn damals belustigt.
„Eines Tages hat mich meine Mutter erwischt. Aber weißt du was?“ Anna klang gerührt. „Sie hat mir zugehört und wir haben vereinbart, dass wir in eine andere Stadt ziehen und ich dort keine Pilze mehr nehme. Daran habe ich mich gehalten. Und ich brauchte sie auch gar nicht mehr. Mir ging es nie so gut wie bei euch an der Schule.“ Sie lachte. „Ich war eine glückliche Außenseiterin, so unglaublich frei. Wie aus einem Gefängnis entlassen.“ Sie nahm ihren Kopf von seiner Schulter und schaute auf den Sand, den sie von einer Hand in die andere rieseln ließ.
Jan wartete. Das war mehr, als er von ihr zu hören erhofft hatte. Sie hatte zum ersten Mal ehrlich von ihrer Vergangenheit gesprochen. Würde sie zum Schluss gelangen, dass sie eine weitere Therapie brauchte? War es denkbar, dass sie bald aufstehen und einen Psychiater aufsuchen würden?
Anna öffnete die Finger und ließ den Sand auf ihre Jeans rinnen. Sie klopfte die letzten Körner ab und sagte tonlos: „Im Tal hat alles wieder angefangen. Als ich Gregor gefoltert habe. Und davor schon, aber nur ein bisschen. Nachdem er sich in der Speisekammer auf mich geworfen hatte.“ Sie legte sich eine Hand auf den Bauch und sagte übergangslos: „Ich habe Hunger!“
„Seit wann hast du nichts mehr gegessen?“
„Im Bus ist jemand ausgestiegen und hat eine halbvolle Packung Erdnüsse liegen lassen. Sonst habe ich heute noch nichts gegessen.“
„Entschuldigung, daran habe ich gar nicht gedacht. In die entgegengesetzte Richtung liegt ein Zeltplatz, da kann ich uns etwas besorgen.“
„Ich weiß, ich war mit meiner Mutter vor einem Jahr hier. Deswegen habe ich den Ort gewählt, die Rostocker Heide bietet ein ideales Versteck und der Hafen die Fluchtroute ins Ausland.“
Sie liefen zurück zu der Stelle, an der sie sich begegnet waren, und noch einige Minuten weiter. Hier und da waren nun Menschen zu sehen, eine Familie mit Rucksäcken, ein Glatzköpfiger mit Dobermann, ein dösender, braungebrannter Alter.
Jan ließ Anna zurück, ging über die Düne zum Camping-Gelände, folgte den Schildern und kam zu einem Platz, auf dem überdachte Bänke aufgestellt waren. Die Camping-Anlage war höchstens zu einem Drittel ausgelastet, dennoch hatten eine Fish-and-Chips-Bude und ein Tante-Emma-Laden geöffnet. Er kaufte Fischbrötchen, Wasser, Orangensaft und Kekse. Vor dem Regal mit den Decken zögerte er, ob er das Notwendigste für eine Übernachtung besorgen sollte, entschied sich aber dagegen. Eine Nacht mit Anna im Freien war zu gefährlich.
Eilig kehrte er mit einer Plastiktüte zum Strand zurück. Anna hatte sich ausgestreckt, das Gesicht mit einem Arm verdeckt. Sie musste eingenickt sein und erschrak, als Jan sie ansprach. Er zog sie hoch und gab ihr eines der Brötchen. Sie aß gierig, während sie zurück Richtung Heide gingen. Den Rest hoben sie für ein Picknick auf.
Nach einer Viertelstunde gelangten sie an einen mannshohen Findling mitten auf dem Strand und kletterten hinauf. Anna setzte sich vor Jan und er legte seine Arme um sie. Weit draußen auf dem Meer zogen die Cargoschiffe dahin, ein dünner weißer Strich am diesigen Horizont musste ein Segel sein.
Anna drückte seine Arme gegen ihren Körper. „Es ist so gut, dass du da bist. Als ich alleine auf dich gewartet habe ... Ich wollte hinausschwimmen und mich sinken lassen, immer nur sinken lassen. Ein Sieg des Willens.“
„Das darfst du nie tun! Verstehst du mich? Nie! Der Sieg des Willens ist zu leben!“
Ein Schütteln durchfuhr sie.
„Versprich mir das!“
Sie zögerte.
„Anna!“
„Wenn du mich nicht alleine lässt ...“ Sie drückte seine Arme noch fester an sich. Jan nahm sich vor, sie nicht mehr aus den Augen zu lassen.
Etwas später sagte sie: „Ich wäre so gerne Tänzerin geworden.“
Er verstand nicht genau, weswegen sie nicht mehr daran glaubte, ihren Traum verwirklichen zu können – dachte sie, dass sie ins Gefängnis oder in die Psychiatrie müsste? Immerhin bedeutete das, dass sie sich mit der Realität auseinandersetzte. Wenn die Verschwörung an allem schuld und bald zerschlagen wäre, würde nichts sie daran hindern, ihre Tanzausbildung fortzusetzen. Ihr Satz enthielt also auch die Botschaft, dass sie selbst nicht mehr recht an ihre Fantasiegebilde glaubte.
„Du wirst eine große Tänzerin!“, versicherte er ihr, damit sie sich nicht zu sehr deprimieren ließe. „Auch wenn du eine Therapie machst, kannst du weiter üben. Und in einem Jahr oder zwei bist du zurück an der Ballettschule. Bei deinem Talent kannst du das locker aufholen. Ich will dich eines Tages im Staatsballett auftreten sehen, oder in Paris!“ Ihre Fingernägel gruben sich in seinen Handrücken.
Auf einer Pfahlreihe, die sich die Möwen auserkoren hatten, brach Streit los. Krächzen, Flügelschlagen, einige Möwen flogen auf, landeten neben den Pfosten im Wasser und beschimpften sich weiter.
„Wir sollten uns im Wald verstecken“, sagte Anna. „Ich habe heute Nacht wenig geschlafen, ich bin so müde.“
„Vielleicht sollten wir erst noch einmal darüber sprechen, wie es weitergeht.“
„Lass mich erst etwas Schlaf nachholen, dann kann ich besser nachdenken.“
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“
„Warum nicht? Dort findet uns niemand.“
Eben deshalb, dachte Jan, sagte aber: „Hier in der Sonne ist es so schön.“
„Ich fall gleich runter vom Stein.“ Sie gähnte demonstrativ.
„Wir können uns auch hier an den Strand legen.“
Sie sprang in den Sand. „Im Wald sind wir sicherer. Komm schon!“
Er gab nach und stieg vom Felsen. Falls Anna ausrastete, würde so oder so jede Hilfe zu spät kommen.
Sie suchten sich eine Scharte in der Böschung. Zunächst kamen sie durch einen sandigen, hohen Kiefernwald, dahinter begann ein Abschnitt mit bunten Buchen, dann ein Fichtendickicht, in dem kaum Licht bis zum Nadelteppich gelangte und tote Äste das Fortkommen erschwerten. Und schon wechselte der Wald erneut sein Gesicht, der Boden wurde feuchter, weiße Birken standen verstreut zwischen brusthohen Farnen.
Seit sie den Strand vor einer Viertelstunde verlassen hatten, hatten sie keinen Menschen, keinen Weg und nicht einmal eine leere Zigarettenpackung oder Bierflasche gesehen. Obwohl sich Jan wiederholte, dass es keinen Unterschied machte, wurde ihm die Abgeschiedenheit unheimlich. Niemand würde ihn hören, falls er um Hilfe schrie.
Der Untergrund wurde noch morastiger, Wasser drang in Jans Schuhe. Er wollte umdrehen, doch Anna meinte, das würde jetzt auch nichts mehr bringen, sie sollten lieber weiter und nach einem trockenen Fleck Ausschau halten. Mit hochgerollten Hosen marschierten sie durch das kalte, rötliche Moorwasser, bis sie an eine torfige Erhebung kamen. Dort drückten sie die Farne platt, warfen Annas Mantel darüber und ließen sich nieder. Sie zogen sich Schuhe und Socken aus. Anna streifte die Kapuze ab und hängte die Sonnenbrille an einen kräftigen Farnzweig. Endlich konnte Jan sie genau betrachten. Das Pflaster über ihrem Auge war schmutzig, die Schwellung hatte sich verfärbt, war jedoch ein wenig zurückgegangen. Auf ihrer Wunde an der Lippe klebte Sand.
Sie setzten sich und picknickten, dann legte Anna sich hin, den Kopf in seinem Schoß. Für einen Moment fürchtete er, dass aus ihr wieder das kleine, traurige Mädchen werden könnte, doch sie klagte mit ihrer natürlichen Stimme: „Wir hätten für ein Wochenende hierher kommen sollen! Warum musste ich nur immer tanzen? Und jetzt, wer weiß?“
Da auch er es nicht wusste, streichelte er ihr über das sonnenwarme Haar. Das Gesicht wagte er nicht zu berühren, sie lag auf der gesunden Seite und auf der anderen waren zu viele Stellen empfindlich. Auch mit ihrem Kopf musste er vorsichtig sein, er spürte die Beule durch ihre Locken. Heute Abend würde ein Arzt ihre Verletzungen desinfizieren und versorgen. Jan würde sie überzeugen, dass sie sich stellen musste. Und wenn nicht, würde er einen Weg finden, sie der Polizei zu übergeben. Er hasste die Vorstellung, sie zu verraten, selbst aus Liebe. Aber er würde es tun.
Noch stand die Sonne ein gutes Stück über den Bäumen. Die letzten freien Stunden ihrer Zweisamkeit. Er hätte weinen können. Wie viele Jahre würden sie warten müssen?
Sie rollte auf den Rücken, das Kinn angehoben. „Gibst du mir die Jacke?“
Er faltete seine Jacke zu einem Kissen zusammen und schob es unter ihren Kopf, sie rutschte das Knäuel ein wenig zurecht und legte sich darauf ab. „Danke, so geht es gut. Komm zu mir.“
Auf den Ellbogen gestützt legte er sich neben sie, war jedoch auf der falschen Seite, so dass sie ihn nicht richtig sehen konnte. Also drehte er sich auf den Bauch und richtete sich noch weiter auf. Sein Gesicht schwebte fast über ihrem. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, dann aufs Ohr, auf den Hals, in die kleine Grube zwischen den Schlüsselbeinen. In seine Zärtlichkeit mischte sich eine verzweifelte Gier, so viel von Anna an sich zu reißen, so viel in sich aufzunehmen, wie er nur zu fassen vermochte, ehe sie ihm genommen würde. Er öffnete den ersten, widerspenstigen Knopf ihrer Bluse, rupfte auch die nächsten aus ihren Löchern, zog die Bluse zur Seite und küsste den Ansatz ihres Busens. Sie wölbte sich ihm entgegen, löste hastig den Verschluss des BHs und zerrte die Arme durch die Träger.
Für einen Moment schoss ihm Jennys Bild durch den Kopf, die einzige Frau, deren Brüste er bislang berührt hatte, doch sie hatte ihm jenseits ihrer Schönheit nichts bedeutet. Nun verspürte er eine Scheu. Fast ehrfurchtsvoll, als würde ihm ein Mysterium zuteil, ließ er seine Finger über die aufgerichteten Nippel gleiten, küsste sie, umkreiste sie mit seiner Zunge, überrascht von ihrer Festigkeit, und da sie sich ihm stöhnend entgegenpresste, öffnete er seine Lippen weiter.
Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf. Er dachte, sie wolle ihn stoppen, doch sie schob ihn tiefer, er küsste ihren straffen Bauch, wanderte seitlich über die Taille zur Erhebung ihrer Hüfte und wieder hinab zur Mulde dazwischen, gelangte zum Knopf ihrer Jeans, löste ihn mit einem raschen Griff und zog den Reißverschluss hinunter. Sie hob ihr Becken an, er streifte die Jeans über ihre Beine, sah ihren schlanken Körper vor sich liegen, riss sich die Kleider vom Leib, sah, wie ihre Rippen und ihre Bauchdecke sich bei jedem Atemzug weiteten und senkten, packte ihren Slip, zog ihn mit einem Ruck über ihre Schenkel, hinab über die Knöchel, warf ihn hinter sich und glitt über sie.
Sie umschlang ihn mit Armen und Beinen, umgab ihn mit ihrer Hitze, presste ihn an sich, öffnete sich ihm, eine fließende Glut, in die er eintauchte, atemlos, besinnungslos bis auf dieses eine Gefühl, diese Zusammenballung allen Lebens in einem Punkt, dieses Zusammenschmelzen aller Zeit in einem Genuss, und so drang er ein in eine endlose, enge Tiefe.
Alle Wirklichkeit verlor sich in diesem Stürzen, das kein Ziel kannte, der Vollendung in sich, und das doch zugleich ein unaufhaltsames Drängen war, ein Wille jenseits der Worte. Jan hörte seine eigene Stimme, ein Stöhnen, fast ein Schreien, der Wille löste sich in der großen Welle der Lust, die ihn in sie trieb und wunschlos auslief.
Er spürte sich in ihr, ihren Körper unter sich, zog seine Hände unter ihrem Rücken hervor und öffnete die Augen. Sie hatte ihre noch geschlossen und atmete stoßweise, dann blickte sie ihn an. Ihre Lippen zitterten. Er strich ihr über die Wange und küsste sie, erfüllt von einer überwältigenden Dankbarkeit.
Sie trennten sich voneinander, und so nahe er bei ihr lag, fühlte er sich unvollständig, wieder ein eigenes Wesen, mit einem Körper und einem Verstand, nicht länger zu einem einzigen Rausch verschmolzen.
Die Müdigkeit schloss seine Augen. Sein Körper war wie ein warmer See, in dem Bläschen aufstiegen. Ein leichtes Kitzeln, eine emporstrebende Gelöstheit. Noch immer konnte er nicht begreifen, wie es passiert war, dass er es gewagt und sie es zugelassen hatte, und ebenso wenig, was es für sie bedeutete, jedenfalls musste ein solch gewaltiges Erlebnis die Bahn der Dinge ändern, die Welt konnte nicht mehr die gleiche sein, und außerdem wurde es kühl. Über diesem Gedanken schlief er ein.
Ihm war kalt. Er blinzelte. Er lag auf der Seite, der Mantel war unter ihm hervorgezogen worden, dafür lag seine Jacke auf ihm. Die Sonne war hinter die obersten Baumwipfel gesunken und im Farn herrschte Schatten.
Noch ehe er sich umdrehte, wusste er: Sie war verschwunden.