14. Kapitel

Jan sprang auf, zog sich hastig an und drückte sich durch das Farndickicht. Er konnte nicht wissen, wie sie den Liebesakt erlebt hatte, nicht, wie sie sich gefühlt hatte, als er eingeschlummert war. Hätte er seine Begierde in Schach halten müssen? Der Boden wurde trockener, der Farnwuchs ließ nach und schon stürmte er durch das Unterholz des düsteren Fichtenwalds. Sie hatte Ja gesagt. Zu ihm – und zu einer Anna, die sich nicht aus Furcht verschloss, die ihre Verletzlichkeit nicht mit unmenschlicher Härte zu überkommen suchte. Er rannte unter den bunten Buchen dahin, stolperte, raffte sich auf. Farid hatte gesagt, dass die Dissoziation ihr als Kind vielleicht das Leben gerettet hatte, weil sie so das Unerträgliche ertragen konnte. Doch diesmal hatte sie nicht dissoziiert. Sie war nicht zur Rächerin geworden, um ihn im Schlaf zu erschlagen. Sie hatte ihn nicht als trauriges Mädchen geweckt, das spielen wollte. Aber wenn sie in der Wirklichkeit geblieben war, konnte sie sich der Depression ergeben haben. Zwischen den Kiefern sprintete er zur Böschung und starrte angsterfüllt aufs Meer. Keine Leiche trieb am Ufer, keine Ertrinkende schlug mit letzter Kraft um sich. Der Strand ruhte friedlich in der Abendsonne, der Wind hatte sich gelegt.

Ein Mann saß einige hundert Meter entfernt und angelte. Jan lief zu ihm und rief atemlos: „Haben Sie eine junge Frau gesehen? Groß, brauner Mantel mit Kapuze, Sonnenbrille.“

Der Alte setzte seine Bierflasche ab und musterte Jan neugierig. Unter seinem aufgeknöpften Flanellhemd umspannte ein weißes Rippshirt seinen Bauch. „Ist die Braut durchgebrannt?“

„Haben Sie sie gesehen?“, schrie Jan.

„Ganz ruhig, mein Junge, hier am Strand findet sie nur alte Knacker wie mich.“

„Sie ist selbstmordgefährdet! Ich muss sie finden! Ist sie hier vorbeigekommen?“

Der Mann schaute erschrocken. „Hier ist in der letzten Stunde niemand unter fünfzig durchgekommen.“

„Sind Sie sicher?“

Er blickte auf die drei leeren Bierflaschen neben sich. „Ja.“

Entweder war Anna ins Wasser gegangen und längst ertrunken oder sie war aus der Depression in eine andere Identität geflüchtet. Dann konnte sie sich wahrscheinlich nicht an ihr Gespräch mit Jan erinnern. Sie wusste also auch nicht, dass sie ihm verraten hatte, dass sie die Fähre nach Helsinki nehmen wollte. Natürlich konnte sie mit einer anderen Identität ganz andere Pläne hegen, aber lag es nicht nahe, übers Meer zu fliehen? Er musste zum Hafen, das war seine beste Chance.

„Wie komme ich am schnellsten zur Landstraße?“

„Durch den Wald sind es bestimmt zwei Kilometer. Lauf besser zum Campingplatz.“

Jan rannte los. Der Sand gab bei jedem Schritt unter seinen Füßen nach, seine Waden schmerzten. Er zwang sich, das Tempo zu halten. Es war nicht mehr weit bis zu den Fahnen, die schlaff vor dem Campingplatz am Strand hingen.

Sollte er die Polizei verständigen, damit sie die Heide absuchte? Aber wenn Anna in die Enge gedrängt würde ... nein, das musste er verhindern. Und falls sie sich hier versteckt hielt, würde sie ohnehin kaum vor Anbruch der Nacht gefunden werden. Aber was, wenn Anna nicht hier war, sondern zu fliehen versuchte? Die Polizei hatte seine Spur in Rostock verloren und musste davon ausgehen, dass er dort Anna treffen wollte. Der Hafen würde also unter Beobachtung stehen. War es denkbar, dass Anna beim Versuch, auf eine Fähre zu gelangen, gefasst worden war und bereits in einem Polizeitransporter auf dem Rückweg nach Berlin saß? Wie lange hatte er überhaupt geschlafen?

Mehrere junge Männer standen um eine Stereoanlage, rauchten und tranken. Sie feuerten Jan an, als er an ihnen vorbei die Düne hinaufrannte.

Über die Schlaglochpiste auf der anderen Seite rollte ein Campingbus. Jan winkte wild, der Bus hielt und eine dicke Frau ließ das Fenster herunter. Ihr Doppelkinn wabbelte, die Wangen hingen durch, nur ihre Haare waren überstraff nach hinten gebunden. „Was gibt’s?“

Er stützte sich mit einer Hand auf den Fensterrand, damit sie nicht davonfahren konnte. „Ich muss zum Hafen!“

„Welcher Hafen?“ Sie atmete geräuschvoll durch die Nase ein.

„Wo die Fähren nach Finnland abfahren.“

„Also zum Seehafen nach Rostock.“

„Ja. Können Sie mich da hinfahren?“

„Ich kann dich mitnehmen.“

„Sie fahren auch zum Hafen?“

„Nee“, sie grinste, „bis um die Ecke da vorne und dann noch ein Stück weiter bis zu unserem Stellplatz.“

„Hundert Euro!“

„Bin ich ein Taxi?“

„Zweihundert.“

Sie hielt sich ein Nasenloch zu, zog durch das andere Rotz hoch und sagte: „Steig ein.“

Jan lief zur Beifahrertür und schwang sich auf den Sitz, schon fuhren sie an.

„Das Benzingeld.“ Die Frau streckte ihm eine Hand entgegen.

Jan zog seinen Geldbeutel aus der Hosentasche heraus und gab ihr vier Fünfzig-Euro-Scheine. „Ich habe es sehr eilig.“

Sie kicherte. „Und ich dachte, das ist nur ein Vorwand, um mit mir eine Spritztour zu machen.“

Sie schaukelten an Zelten, Wohnmobilen und Holzbungalows vorbei. Jan zweifelte daran, ob es eine gute Idee gewesen war, in den Campingbus einzusteigen. Doch kaum hatten sie die Rezeption passiert, drückte seine Chauffeurin aufs Gas, dass die Tratschzeitschriften im Fußraum umherrutschten und die Glöckchen am Duftbaum unterm Spiegel klingelten.

„Warum hast du es so eilig?“, fragte die Frau. „Du willst doch nicht ohne Gepäck nach Finnland?“

„Ich muss jemandem etwas bringen, der gleich eine Fähre nimmt.“

„Wann legt die Fähre ab?“

„Bald. Die genaue Uhrzeit weiß ich nicht.“

„Ruf diesen jemand mal an! Wär nicht schlecht zu wissen, wie knapp wir dran sind.“ Sie hupte und überholte drei Autos.

„Das kann ich nicht.“ Er durfte sein Handy nicht anschalten, wenn er nicht wieder geortet werden wollte. Jetzt brauchte er schnell eine Ausrede. „Sie hat ihr Handy vergessen. Und die Schlüssel. Deswegen muss ich ihr ja nach.“

„Dann ruf Finnlines an.“

„Kann ich auch nicht, ich habe ihre PIN-Nummer nicht.“

Sie wuchtete ihren massigen Körper seitlich zum Fenster und zerrte aus ihrer rechten Hosentasche ein Smartphone mit enormem Display. Der Campingbus schloss zu einem Moped auf. Der Fahrer musste ihren Motor gehört haben, denn er blickte sich mehrmals um. Die Frau tippte flink auf dem Smartphone herum und reichte es Jan gerade rechtzeitig weiter, um auch die zweite Hand ans Steuer zu bringen, während sie zwischen Moped und Gegenverkehr hindurchraste.

„Hallo? Hello?“

Jan hatte sich nach dem Moped umgedreht und antwortete verspätet: „Guten Tag, ich wollte fragen, wann die nächste Fähre nach Helsinki fährt?“

„Morgen früh um –“

„Heute fährt keine mehr?“

„In zwanzig Minuten.“

„Wir sind bald da, das schaffen wir.“

„Der Check-in ist längst geschlossen.“

„Ich muss unbedingt noch an Bord.“

„Tut mir leid, da müssen Sie bis morgen warten, um 9:15 Uhr –“

Jan legte auf und sagte: „Der Check-in ist schon vorbei. Wir fahren trotzdem hin.“

„Ist der Schlüssel so wichtig oder kann sie ohne das Handy nicht leben?“ Sie feixte und erwartete offensichtlich keine Antwort.

Die Überholmanöver wirkten auf Jan beruhigend, sie lenkten ihn von seiner Angst um Anna ab. Bald kamen sie über Felder und Dörfer zu einer Abzweigung, an der ‚Seehafen‘ stand. Hinter den Zäunen, die auf beiden Seiten die Straße einfassten, erhoben sich marode Lagerhallen, notdürftig reparierte Schuppen und aufgebockte Container.

Sie hingen hinter einem Lieferwagen, während eine Kolonne von LKW ihnen in engen Abständen entgegenkam. Die Sorgen holten Jan ein. Eben hatte er sich Anna noch so nahe gefühlt wie nie zuvor einem Menschen, und nun hatte sie ihn verlassen, wollte in ein fremdes Land fliehen oder in den Tod.

Der Lieferwagen bog ab, die Industrielandschaft flog wieder schneller an ihnen vorbei. Berge von Sand, Erde, Schotter und Steinen, am Zaun das Firmenschild einer Tiefbaugesellschaft. Eine Müllverwertungsanlage. Getreidesilos. Gastanks. Eine Pipeline-Fabrik, die Rohre groß genug, dass die abgestellten Bagger hindurchfahren könnten. Dann das erste kranumstandene Hafenbecken.

Das letzte diente der Fährschifffahrt. Die Frau bremste direkt vor den Stufen, die zur Abfertigungshalle hinaufführten.

„Willst du auch wieder zurück?“

„Nein.“ Er stieg aus.

„Na denn. Geht ohne Trinkgeld.“

Er schlug die Tür zu, hastete zum Eingang und durch den Wartebereich, in dem ein Reisender in Prospekten blätterte. Am einzigen geöffneten Schalter erledigte ein Angestellter Papierkram.

„Nach Helsinki“, rief Jan ihm entgegen.

Der Angestellte blickte auf und sagte in freundlichem Norddeutsch: „Jo, da sind Sie wohl mal ein bisschen spät, die Fähre legt gleich ab, da kann ich wohl mal nichts machen.“

„Ich muss auf die Fähre!“

„Dann kann ich Ihnen helfen“, sagte eine Stimme hinter Jan.

Er fuhr herum. Der Reisende hielt ihm einen Ausweis entgegen. Sein Haaransatz war weit zurückgewandert, dafür bedeckte ein kurzgeschnittener Bart die untere Hälfte seines robusten Gesichts. Er mochte um die fünfzig sein und sah aus wie ein Abenteurer, der in die Jahre gekommen war. „Kommissar Thomsen, Kriminalpolizei. Ist Frau Herrera auf der Fähre?“

Jan erstarrte. In der Aufregung hatte er völlig außer Acht gelassen, dass die Polizei nicht nur Anna, sondern auch ihn erkennen konnte. „Wie haben Sie mich gefunden?“, rutschte ihm statt einer Antwort heraus.

„Kollegen sind Ihnen vom Wohnheim an gefolgt. Und seit wir Ihre Spur verloren haben, bewachen wir alle strategisch wichtigen Punkte. So, und wo ist Frau Herrera?“

„Ich weiß es nicht. Sie hat mich vor einer ganzen Weile in der Rostocker Heide verlassen, das ist bestimmt eine Stunde her, eher länger. Sie hat davon gesprochen, eine Fähre nach Helsinki zu nehmen.“

Thomsen blickte zum Schalterbeamten und wies ihn an: „Halten Sie die Fähre auf, bis wir an Bord sind, aber nennen Sie keinen Grund für die Verzögerung.“ Im gleichen ruhigen Befehlston sagte er in ein kleines Funkgerät, das er aus der Hosentasche gezogen hatte: „Hier Thomsen. Herr Reber ist bei mir. Er vermutet, dass sich Frau Herrera auf der Fähre nach Helsinki befindet. Schmidt und Werflein holen uns mit dem Wagen ab, der Rest bewacht weiter den Hafen. Wir fahren mit der Fähre und lassen uns von der Küstenwache einsammeln, sobald wir Frau Herrera haben oder mit der Durchsuchung fertig sind.“

Sie eilten durch einen Hinterausgang, ein Passat kam mit quietschenden Reifen um das Gebäude gefahren und bremste scharf auf ihrer Höhe. Thomsen stieg als Erster hinten ein und rutschte durch, Jan folgte ihm.

„In welchem Zustand ist Frau Herrera?“, fragte Thomsen.

„Sie war verhältnismäßig klar und depressiv. Sie hat mich verlassen, nachdem ... während ich geschlafen habe. Das war etwa ein bis zwei Kilometer westlich des großen Campingplatzes, in der Rostocker Heide.“

Thomsen verzog keine Miene. „Ihre Kleidung?“

„Ein brauner Mantel, dunkelblaue Jeans, eine große Sonnenbrille, und die Schuhe sind nass.“

„Ist sie bewaffnet?“

„Nein. Sie hatte nichts bei sich. Nicht einmal etwas zu essen.“

Der Wagen rauschte durch eine Zollstation. Am Ende des Quais lag eine riesige weiße Fähre vertäut.

„Langsamer, Schmidt“, rief Thomsen, „es ist auffällig genug, dass so spät noch Passagiere kommen.“

Der Gedanke alarmierte Jan. „Sie darf nicht mitkriegen, dass die Polizei kommt. Und erst recht nicht, dass ich sie an Bord bringe!“

„Wir werden uns gleich trennen“, antwortete Thomsen. „Werflein, Sie suchen unter Deck. Schmidt, Sie übernehmen die Passagierbereiche in den oberen Etagen. Ich spreche mit dem Kapitän, danach komme ich nach draußen, wo Herr Reber mit der Suche beginnt.“

„Wenn Sie sie finden, rufen Sie mich!“, flehte Jan. „Vielleicht kann ich sie überreden, sich zu ergeben. Und passen Sie auf, dass sie sich nichts antut!“ Sein Herz klopfte schnell, dabei standen ihre Chancen gut: Anna musste davon ausgehen, dass sie unentdeckt geblieben war, denn sonst hätte man sie längst verhaftet.

Sie kurvten von hinten über die Ladeklappe ins Schiff. Ein Mann mit orange-reflektierender Weste signalisierte ihnen, dass sie ihm folgen sollten. Im Schritttempo rollten sie zwischen zwei langen LKW-Reihen hindurch, parkten und stiegen aus. Es stank nach Abgasen.

„Na, haben Sie aber Glück gehabt, dass wir noch nicht abgelegt haben“, sagte der Platzanweiser gutmütig.

Hinter ihnen begann die Ladeklappe, sich ächzend zu schließen. Sie ließen Werflein zurück und stiegen zu dritt die Treppe hinauf. Auf dem nächsten Stock verschwand Schmidt durch eine Doppeltür, während Thomsen und Jan gleich die nächste Treppe nahmen. Im zweiten Stock angekommen betrat Jan einen nach außen offenen Gang, der an der Schiffswand entlangführte, und warf einen Blick über die Reling. Auf der anderen Seite des Quais rollten LKW aus einer Fähre. Im Hafenbecken dahinter belud ein Kran ein Containerschiff. Von hier oben wirkte die Industrielandschaft unter dem weiten blauen Himmel weniger bedrückend als aus dem Campingbus. Das Schiff vibrierte, sie legten ab.

Er kontrollierte die Freiluftgänge auf beiden Seiten, dann eilte er die nächste Treppe hinauf und kam auf ein breites Sonnendeck, das vom Heck bis zum Vorbau mit der Kapitänsbrücke reichte. Etliche Stahlträger und Kranarme ragten über das Deck, dazwischen hingen leuchtend rote Rettungsboote. Die meisten Reisenden standen an der Reling und schauten hinaus auf eine kahle Insel mitten im Hafen, an der die Fähre vorbeizog. Einige saßen auf Plastikstühlen und hatten bereits ihr Picknick ausgepackt. Jan verlangsamte, um nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, während er das Deck absuchte.

Er wechselte durch eine schwach besetzte Cafeteria auf die andere Seite. Warnemünde erstreckte sich entlang der Förde. Ein Güterbahnhof für die Entladung von Transportschiffen glitt an ihnen vorbei. Noch mehr Schaulustige hatten sich hier an der Reling versammelt, doch Anna war nicht unter ihnen, und so blieb ihm nur noch der Aufbau in der Mitte, zwischen der Kapitänsbrücke und dem Schornstein am Heck. Er nahm eine eiserne Außentreppe und hielt sich unwillkürlich am Geländer fest. Von hier oben reichte der Blick bis zum Meer.

Das Oberdeck war wie das Dach eines schwimmenden Wolkenkratzers. In der Mitte stand eine Radarkugel, der Golfball eines Riesen. Der Schornstein dahinter hätte zu einem Kraftwerk gehören können. Jan war noch nie auf einer Hochseefähre gewesen, die Dimensionen schüchterten ihn ein.

Er überflog die dreißig oder vierzig Passagiere, die bis hierher gestiegen waren.

Nichts.

Doch!

Sie stand abgewandt in der hinteren linken Ecke, in einem blauen Kleid, die Kapuze ihrer schwarzen Regenjacke über den Kopf gezogen.

Jan schritt auf sie zu. Die Treppen führten nicht genau zu den Ecken, sondern waren etwa fünf Meter nach innen versetzt. Wenn er bis zur Treppe hinter ihr gelangte, ohne von ihr bemerkt zu werden, könnte er ihr den Weg abschneiden.

Sie blickte bewegungslos zum Hafen zurück, ihre Haltung aufrecht wie immer.

Eine Familie kam die Treppe hinauf, die Eltern sprachen lautstark in einer fremden Sprache. Die Fähre schlingerte leicht in der Dünung. Anna rührte sich nicht.

Er erreichte die Treppe, verlangsamte seinen Schritt und blieb auf Armeslänge von Anna entfernt stehen. Sollte er sie ansprechen oder sie festhalten? Er beschloss, sich auf sie zu werfen, da drehte sie sich um. Eine Frau um die Dreißig. Tränen hatten ihre Wimperntusche verwischt. „Was wollen Sie?“, fragte sie entgeistert.

„Entschuldigung“, sagte Jan und machte einen Schritt rückwärts.

Auf einmal spürte er Zorn. Auf die Weinende, die einem Geliebten nachtrauern mochte, den sie bald wieder in ihre Arme schließen könnte. Auf das fröhliche Mädchen, das ein Deck tiefer Brocken aus ihrem Sandwich riss und in die Luft warf, auf die zeternden Möwen, die über ihr kreisten, und selbst auf die Abendsonne, die ihren schimmernden Pfad aufs Meer legte.

Ihm war, als habe Anna ihn nochmals verlassen. Hatte er sich eingebildet, dass sie sich von ihm retten lassen wollte, indem sie diese Fähre nahm, über die sie zuvor gesprochen hatte? Dass etwas in ihr nicht sterben, sondern von ihm gehalten werden wollte? Seine zwanghafte Hoffnung hatte ihn blind gemacht für die Realität: Mit ihren Verletzungen im Gesicht wäre sie an der Polizei nicht vorbeigekommen, die den Hafen überwachte. Ihr hätte das Geld gefehlt, um ein Ticket zu kaufen, und die Zeit, um sich trotz all dieser Hindernisse doch an Bord zu schleichen. Kaum mehr als eine Stunde hätte ihr zur Verfügung gestanden, um von der Rostocker Heide auf die Fähre zu gelangen. Höchstens anderthalb.

Was hatten die Fahrt an die Ostsee und das Gespräch bei ihr bewirkt? Sie hatte von ihrer Vergangenheit gesprochen und von der Rückkehr der Dissoziation in Alaska. Aber hatte ihr das geholfen oder sie in noch größere Gefahr gebracht? Was, wenn die Dämme zwischen ihren Identitäten nicht hielten, bis sie in Therapie war und überwacht werden konnte? Sie würde in Gedanken immer wieder Rainer auf die Augen schlagen und den hilflos Schreienden hinunterstürzen. Und wenn sie dieses Bild verdrängte, würde sie das Blut der Krankenschwester spüren, das ihr von der Schere über die Faust rann, oder sie würde Farid auf der Liege im Gartenhäuschen mit dem Elektroschocker quälen oder den Kommissar mit Papier und Pappe bedecken und in Brand setzen. Wie würde sie das aushalten?

Er dachte an die Krankenakte und das Versprechen, sich nicht umzubringen, das Anna damals mit den Namen von vier Identitäten unterschrieben hatte. Und er hörte ihre halbherzige Antwort, als er ihr auf dem Felsen am Strand das gleiche Versprechen abgenötigt hatte: ‚Wenn du bei mir bleibst ...‘

Die Stadt begann, zu einer Kulisse zu verschwimmen, nur die beiden Leuchttürme am Ausgang des Hafenkanals zeichneten sich noch deutlich ab. Der Strand zog sich als heller Strich die Küste entlang, immer feiner, bis er nicht mehr vom Grün der Wälder auseinanderzuhalten war.

Distanz! Er musste Distanz gewinnen. Irgendwie musste er sich vorbereiten, dass Thomsen zu ihm kommen, ihm eine Hand auf die Schulter legen und sagen würde: ‚Ein Strandgänger hat sie gefunden.‘ Oder würde ihre Leiche erst am nächsten Morgen angespült? Oder würde das Meer sie behalten? Er blickte dem Strudel nach, den die Fähre hinter sich herzog. Das Wasser sah kalt aus, düster, die undurchdringliche Grenze zu einer anderen Welt. Ohne sie sein, wieder allein? Das war unannehmbar, nicht ein Verlust, den man bemessen könnte, sondern unannehmbar.

Seine Füße waren kalt. Der Schlamm an seinen Schuhen war zu einer Kruste getrocknet, doch das Innere war immer noch feucht. Die Socken hatte er im Farn liegenlassen. Er wollte nicht länger einsam herumstehen, er brauchte die Polizisten, für die das hier nur ein Job war.

Er lief zwei Etagen hinab und identifizierte sich gegenüber einem Fährangestellten, der an der Treppe Wache hielt. Der Mann teilte ihm mit, dass die Suche im gesamten Passagierbereich bereits abgeschlossen sei und nur noch unter Deck fortgesetzt würde.

Im Parkdeck stank es weniger nach Abgasen, dafür stärker nach Öl als zuvor. Eine der Neonröhren flimmerte, die Schiffsmaschinen stampften. Thomsen trat zwischen den Lastern hervor. Jan eilte zu ihm, vorbei an zwei Angestellten der Fährgesellschaft, die Kisten in einen Laster zurückräumten.

„Pst!“, zischte Thomsen, ehe Jan etwas sagen konnte. „Wir wollen sie nicht vorwarnen. Ein bisschen Lärm ist unvermeidlich, aber sie soll keine Stimmen hören.“

„Das bringt nichts, sie ist längst tot!“ Jan wusste auch nicht, was ihn gepackt hatte, das zu sagen. Es klang wahr.

„Was?“ Thomsen sah ihn scharf an.

„Nein, ich weiß nicht, ob sie tot ist, ich habe nur Angst davor.“

„Nicht die Nerven verlieren. Wenn sie an Bord ist, finden wir sie. Die Fahrt dauert über zehn Stunden.“

„Sie ist nicht hier!“

„Sie sollten eine Pause machen.“

Jans Knie wurden weich. „Kann ich Sie begleiten?“

Thomsen musterte ihn unzufrieden und nickte dann. „Aber Ruhe!“

Jan folgte ihm zum nächsten Sattelschlepper, an dem Werflein und Schmidt schon bereitstanden. Der eine hielt einen Schlagstock, der andere eine Pistole. Thomsen bückte sich vor der Ladeklappe, nahm einen Schlüssel vom Boden auf, steckte ihn ins Schloss und öffnete. Vier Paletten füllten den Zugang fast vollständig aus, die Spalten am Rand und unter der Decke waren zu schmal, als dass sich ein Mensch hätte hindurchzwängen können. Thomsen zog sich hinauf und rüttelte an den Paletten, sie gaben nicht einen Zentimeter nach. Er stützte sich ab und sprang leise zu Boden.

Sie gingen zum nächsten Laster, unter dessen Ladeklappe ebenfalls der passende Schlüssel bereitgelegt worden war. Wieder positionierten sich Werflein und Schmidt. Thomsen schwang einen Türflügel auf und kletterte in den Laderaum. Zu beiden Seiten waren Halterungen angebracht, in denen sich Fässer stapelten. Thomsen knipste eine Taschenlampe an und lief den Mittelgang hinunter. Er leuchtete einmal im Kreis, schaltete die Lampe aus und kehrte um.

Das Bangen bei jedem Laster war zu viel für Jan. Er wischte sich den Schweißfilm seiner Hände an der Hose ab und flüsterte, dass er zwei Stockwerke höher warten würde. Thomsen nickte ihm zu, ohne sich bei der Arbeit aufhalten zu lassen.

Jan stieg hinauf. Die Wache unterhielt sich mit einer hübschen Skandinavierin in gebrochenem Englisch und erschrak, als Jan sich an ihnen vorbeischlängelte.

Draußen war es kühler und windiger geworden. Jan lehnte sich im Freiluftgang an die Reling. Das Abendlicht vergoldete einige Gutwetterwolken über der Küste. Sein Körper sehnte sich nach Annas Nähe, er schloss die Augen und plötzlich war alles wieder da, der Mantel über dem hubbeligen Farnbett, ihr duftender Körper, ihr keuchender Atem –

Ein langgezogener Schrei, ein Poltern auf der Treppe hinter ihm.

Jan drehte sich um.

Anna schoss über den Gang und stürmte die nächste Treppe hinauf. Ihr verdrecktes Gesicht hatte fast die gleiche Farbe wie ihr brauner Mantel angenommen.

Jan sah, wie sich die Skandinavierin schreckensbleich an die Wand drückte, hörte die Schmerzensschreie der Wache, die Anna die Treppe hinabgestoßen hatte, erwachte aus seiner Erstarrung und setzte ihr nach.

Als er das Sonnendeck erreichte, griff sie bereits nach dem Geländer der letzten Treppe.

„Warte!“, schrie Jan.

Sie stürmte hinauf.

Er folgte ihr, so schnell er konnte.

Geschrei schlug ihm vom Oberdeck entgegen.

„Weg!“, kreischte eine gepflegte Dame und lief die Treppe hinunter, eine Hand am Geländer, die andere um ihre Handtasche gekrallt.

Jan stürmte an ihr vorbei. Anna war bereits an der Radarkugel und rannte auf den Schornstein zu. Sie steckte in der Falle.

Da sah Jan die Leiter, die den Schornstein hinaufführte. Wie riesige Heftklammern aus Stahl ragten die Sprossen in Abständen von einem halben Meter aus der Verschalung. Doch selbst die unterste war so hoch angebracht, dass sich kein unvernünftiger Passagier daran hinaufwagen könnte.

Anna schien noch einmal zu beschleunigen, sprang, flog auf die Wand zu, schlug dagegen und blieb hängen. Mit einer Hand hielt sie die Sprosse umklammert, schon griff sie auch mit der zweiten zu und zog sich hinauf.

Jan verlangsamte. „Anna! Ich bin’s, warte auf mich!“

Sie hielt in der Bewegung inne und blickte über die Schulter zu ihm hinab. Verklebte Haare fielen ihr ins Gesicht, der Verband über ihrem Auge war abgerissen, die Lippe erneut aufgeplatzt.

„Komm, Anna!“, schrie er verzweifelt. „Komm zurück!“

Sie kletterte weiter, schien die Höhe nicht zu fürchten oder von einem inneren Grauen getrieben zu sein, das alle Ängste der Außenwelt betäubte.

Zwei Uniformierte der Fährgesellschaft rannten an Jan vorbei. Der eine schlang die Finger ineinander, der andere trat in die gefalteten Hände, erreichte die unterste Sprosse und kletterte Anna hinterher. Sie hatte bereits über die Hälfte der Strecke bewältigt, der Verfolger konnte sie nicht auf der Leiter einholen.

„Halt!“, schrie Jan.

„Runter!“, befahl Thomsen neben ihm.

Der Uniformierte hangelte sich wieder herab.

Thomsen packte Jan an den Schultern und sagte eindringlich: „Bleiben Sie ruhig und sprechen Sie mit ihr.“ Den Umstehenden befahl er: „Räumen Sie die Decks!“

Anna hatte die Spitze der Schornsteinverschalung erreicht und richtete sich neben den silbrigen Röhren auf. Ihr Gesicht war nicht mehr zu erkennen, sie war nichts als eine dunkle Gestalt gegen den tiefblauen Himmel.

„Anna!“, brüllte Jan. „Komm runter zu mir!“

Sie stand regungslos auf dem sanft schwankenden Schornstein, der in der Abendsonne glänzte. Über ihr kreisten Möwen.

„Sprich mit mir!“ Jans Stimme überschlug sich.

Sie drehte sich zur fernen Küste.

„Anna! Schau mich an!“

Sie rannte über den Schornstein, ihr Mantel wehte auf und verschwand hinter den Röhren.

Jan hörte seinen Schrei. Er taumelte, jemand stützte ihn und ließ ihn vorsichtig zu Boden sinken.

Thomsen und die übrigen Männer stürmten die Treppe hinunter, sie schrien sich Anweisungen zu, um die Rettungsboote klarzumachen. Jan wusste, dass das eine sinnlose Pflicht war. Von der Spitze des Schornsteins waren es mindestens dreißig Meter bis zum Wasser, und falls sie nicht beim Aufprall zerschlagen oder in der Schiffsschraube zerfetzt worden war und auch nicht durch den Schock das Bewusstsein verloren hatte, müsste sie in voller Kleidung minutenlang im kalten Meer schwimmen, bis die Rettungsboote sie gefunden hätten. Aber sie würde sich sinken lassen.

Er richtete sich auf. Es war vorbei. Unten herrschte noch unnützer Tumult, über ihm erhob sich der Schornstein friedlich zum Himmel. Dem Mörder im Tal waren sie entkommen, aber nicht dem Fluch der Vergangenheit.

Etwas bewegte sich oben am Schornstein. Ein Kopf schob sich über den Rand, eine Mädchenstimme plärrte: „Hilfe! Ich habe Angst! Es ist so hoch! Hol mich hier runter!“