7. Kapitel

Das Taxi hielt neben einem geparkten Kombi. Jan zahlte, verzichtete auf Rückgeld und sprang aus dem Wagen. Vom Haus war nichts zu sehen, eine schwarze Wand aus dichtgedrängten Nadelbäumen versperrte die Sicht auf das Grundstück. Auch die Tür war zu hoch, um darüber hinwegzusehen. Auf ihrem halbrunden Abschluss saß ein Zackenkranz, kein moderner, scharfer, um Einbrecher abzuwehren, sondern ein wilhelminischer, der an die Pickelhelme des Ersten Weltkriegs erinnerte. Eine der Zacken war abgebrochen und überall blätterte der Anstrich von der Tür, darunter blühte der Rost. Die Sprechanlage aus Messing sah hingegen aus, als wäre sie gerade erst angeschraubt worden. Jan klingelte und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich war Herr Benounes zu Hause – und noch am Leben.

Das Taxi wendete und fuhr davon. Er hätte den Fahrer bitten sollen, kurz zu warten!

Ungeduldig legte Jan die Hand auf die kalte Klinke. Er drückte sie probehalber herunter, die Tür war verschlossen.

Ein Vogel flog vom See über das Grundstück und landete zwischen den Baumwipfeln auf der anderen Straßenseite.

Jan klingelte erneut.

Gleich darauf rauschte die Sprechanlage. „Hallo?“

„Sind Sie es, Herr Benounes?“

„Ja. Wer ist da?“

„Jan Reber, der Freund von Anna Herrera. Ich bin extra mit dem Taxi gekommen, um sie zu warnen. Ich habe Angst, dass Anna Ihnen etwas antun könnte.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Die Polizei hat mich ebenfalls auf diese Möglichkeit hingewiesen.“

„Die Polizei nimmt das nicht ernst!“, rief Jan.

„Und wenn ich die Polizei ernst nehme, darf ich Sie nicht hereinlassen.“

Daran hatte Jan nicht gedacht: Herr Benounes würde keinen unbekannten Besuch empfangen.

Ein Summen.

„Wieso öffnen Sie mir?“, fragte Jan irritiert.

„Weil ich Ihnen zumindest einen Tee anbieten möchte. Und außerdem kann ich nicht schlafen.“

Jan drückte die Tür auf und trat in einen verwilderten Garten. Es war hier heller als auf der anderen Seite der Hecke, der See spiegelte das Mondlicht. Ein Kiesweg führte zu einer verspielten Jugendstilvilla, in der nur ein großer Raum im Erdgeschoss beleuchtet war. Jan zog die Tür zu, das Schloss rastete mit einem scharfen Klacken ein. Er ging am matten Weiß einiger Birken vorbei und bewunderte, wie schwungvoll der runde Turm, der vergitterte Balkon und das säulengetragene Vordach ineinanderflossen, zusammengewoben durch Mosaikbänder und Blumenfresken.

Plötzlich erstarrte er. Neben einem der schmalen Fenster im ersten Stock, in einem dunklen Winkel, hielt sich eine Frau versteckt! Sie war nackt. Und es war nicht Anna – Jan atmete aus und lächelte nervös –, sondern eine Statue. Nun entdeckte er weitere Männer und Frauen aus Marmor.

Herr Benounes öffnete die Tür, Licht fiel über einige flache Stufen. Er wartete, bis Jan herangekommen war, nickte ihm zu und trat zurück ins Innere. Jan folgte ihm.

Die Formen des Saals waren so ausgefallen wie das Äußere der Villa, doch der Schmuck war verloren gegangen. Am Kuppeldach drehte sich eine Spirale hinauf, die früher einmal mit Mosaiken ausgelegt gewesen sein mochte, sich nun jedoch nur noch durch die hellere Farbe des Putzes abhob. Zwei Stahlbügel kreuzten sich am höchsten Punkt, bestimmt hatten sie einst als Halterung für einen Kronleuchter gedient. Und die Treppe, die von astartigen Stützen getragen frei an der Wand hinaufschwebte, konnte damals nicht mit diesem spießigen Geländer gesichert gewesen sein.

„Entschuldigen Sie“, sagte Jan, „erst sage ich, es ist dringend, und dann schaue ich herum und komme nicht zur Sache.“

„Ich freue mich, wenn dieser Ort zu Ihnen spricht, und bin gerne so lange still.“ Herr Benounes trug einen braunen Morgenmantel mit goldenen Stickereien an den Borten und angegraute Frotteepantoffeln, wie man sie in Hotels geschenkt bekam. „Kann ich Ihnen die Jacke abnehmen?“

Jan reichte sie ihm. „Natürlich, danke.“

„Welchen Tee bevorzugen Sie?“

„Ähm ... Darjeeling?“

„Wie wäre es mit einem weißen Tee? Bai Mudan? Der trinkt sich gut zur späten Stunde.“

„Einverstanden. Aber falls es nochmal klingelt, dürfen Sie niemand einfach so reinlassen.“

Herr Benounes wiegte den Kopf. „Diese Villa gehörte zwar bedauerlicherweise während des Dritten Reichs einem General, aber er ist nicht dazu gekommen, daraus eine Festung zu machen. Ein Besucher, der mir Böses will, wird nicht klingeln. Das Grundstück ist zum See hin offen und an einer Seite hat mein Märchenwall eine Lücke, weil einige der Eiben abgestorben sind.“

„Und Sie haben keine Angst?“

„Es gehört zu meinem Beruf, Umgang mit Menschen zu pflegen, die abrupt aggressiv werden können. Ich arbeite auch im forensischen Bereich, wo ich immer wieder Kranken begegne, die getötet haben.“

„Anna hat voller Hass von Ihnen gesprochen.“

„Mir drohen Patienten ab und an, dass sie mir die Augen auskratzen werden. Und Schlimmeres.“

„Aber Anna hat in rascher Folge drei Menschen angegriffen. Haben Sie wirklich keine Angst?“

„Ein wenig schreckhaft bin ich seit dem Anruf der Polizei.“ Jan wusste nicht, ob der spöttische Blick der Schreckhaftigkeit galt oder einem anderen Gedanken, jedenfalls blieb Herr Benounes eine Weile in diesem Ausdruck stumm verhaftet, ehe er sagte: „Jetzt trinken wir einen Tee und unterhalten uns in aller Ruhe. Inschaallah.“

„Eine Frage hätte ich davor. Haben Sie vielleicht ein Ladegerät für mein Handy?“ Jan holte es hervor.

„Nein, tut mir leid. Ich habe ein anderes System.“

Herr Benounes begleitete ihn zum angrenzenden Salon, dem das gleiche Schicksal widerfahren war wie dem Empfangssaal: Die Reliefs an den Wänden waren abgeklopft worden. Die Einlegearbeiten des Parketts waren hingegen erhalten, anmutige Musikerinnen und wilde Tiere. Dem vormaligen Besitzer mochte es genügt haben, sie mit einem großen Teppich zu überdecken.

Jan schlenderte an den Bücherregalen entlang. Romane und philosophische Werke, auf Deutsch, Englisch, Französisch und Arabisch, oftmals mit alten Leinen- oder Ledereinbänden.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Herr Benounes bugsierte ein Tablett zu dem verschnörkelten Jugendstiltischchen im hinteren Teil des Raumes. Während er servierte, fragte er: „Sie mögen Bücher?“

Jan kam zu ihm und setzte sich. „Sogar sehr. Vor allem Gedichte. Und Theaterstücke. Natürlich auch Romane.“

„Da haben wir eine gemeinsame Leidenschaft.“ Herr Benounes nahm das Sieb aus dem Tee und schenkte ein. „Wie haben Sie mich übrigens gefunden?“

„Übers Internet. Ein Eintrag einer islamischen Seelsorgergruppe.“

„Ach so! Ich dachte, dieser Schiefer habe meine Adresse rausgerückt, um mir eins auszuwischen.“

„Mag er Sie nicht?“ Soviel zu Annas Theorie, dass der Kommissar und der Arzt unter einer Decke steckten.

„Er hat Zweifel erhoben, ob in meiner Abteilung alle notwendigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden seien. Natürlich wolle er meiner Karriere nicht schaden, hat er mir großherzig versichert, und da es bei allen Vorschriften einen gewissen Auslegungsspielraum gebe, sei er optimistisch, dass sich das regeln ließe – solange ich mich kooperativ verhielte, das verstand sich von selbst.“ Die sonst so freundlichen Augen funkelten empört. „Daraufhin habe ich meine ärztliche Schweigepflicht eng ausgelegt.“

„Sie haben ihm nichts über Anna gesagt?“

„Doch, das Wesentliche schon. Schließlich muss die Polizei sie finden, ehe sie sich oder anderen Schaden zufügen kann. Aber das Unwichtige habe ich ihm verschwiegen, und da er nicht wissen konnte, ob da nicht etwas Entscheidendes dabei war, hat er sich geärgert. Wie schmeckt Ihnen der Tee?“

Jan probierte. „Sehr gut. Und Ihre Villa, die gefällt mir auch sehr.“

„Sie ist spannend. Von außen lebensfroh und von innen zerfressen. Und ich darf sie wieder instand setzen. Kein Wunder, dass mir die Symbolik gefällt.“ Er blieb für einen Moment bei seinen Gedanken. „Ich würde gerne wissen, was für ein Mensch dieser General gewesen ist. Er hat an der Ostfront gekämpft und war nur einmal hier, im Frühjahr 44. Da hat er wohl die Zerstörung all der Elemente angeordnet, die zu sehr an den jüdisch-liberalen Kaufmann erinnerten, der das Haus 1911 hatte erbauen lassen.“

Jan ließ den Blick durch den Raum schweifen, drehte den Kopf zur Seite, um weiter hinter sich zu blicken – und stieß vor Schreck so heftig gegen das Tischchen, dass seine Teetasse umkippte, auf den Boden fiel und zersprang. Er kümmerte sich nicht darum, sondern hastete zum Fenster, zerrte am Griff, bis er sah, dass ein Riegel die beiden Fensterhälften zusammenhielt, klappte ihn zurück und riss das Fenster auf.

Er hatte sie gesehen! Ihre weiße Binde über dem Auge. Sie war hier!

Der nächtliche Garten lag still und leer vor ihm.

Er beugte sich weiter hinaus, nichts.

Die dunklen Büsche in einigen Metern Entfernung bewegten sich leicht. Verbarg sie sich dahinter oder war das der Wind?

„Ist Ihnen schlecht?“, fragte Herr Benounes besorgt.

Ohne den Garten aus den Augen zu lassen, flüsterte Jan: „Ich habe Anna gesehen. Sie hat uns durch das Fenster beobachtet.“

„Ist das das erste Mal, dass Sie sie seit Ihrer Flucht gesehen haben?“

„Ja.“

„Vielleicht sind Sie überspannt. Ich habe mir auch schon –“

„Ich bin nicht verrückt!“

Herr Benounes gab ein kaum vernehmbares Lachen von sich. „Jeden Tag produziert unser Gehirn Hunderte von Fehlleistungen. Bloß merken wir das normalerweise nicht, weil wir ihnen keine Bedeutung beimessen. Wenn wir sehr angespannt sind, funktioniert diese Kontrolle nur abgeschwächt. Ich würde das nicht als verrückt bezeichnen, sondern als evolutionsbiologisch genialen Mechanismus der Informationsauswertung: Bei Gefahr sehen wir den Feind lieber einmal zu oft als zu wenig.“

Jan schloss das Fenster. Es ging ein leichter Wind, alle Büsche bewegten sich, die Birken rauschten sacht. Er würde Anna nicht mehr entdecken. Falls sie überhaupt am Fenster gestanden hatte.

Herr Benounes sammelte die Scherben vom Boden auf und breitete einige Taschentücher auf die Teelache.

„Ich sehe ihre schwarzen Locken und die hellen Augen so klar vor mir ...“

„Erinnern Sie sich, worüber wir uns eben unterhalten haben?“, fragte Herr Benounes sanft. „Ich habe von dem jüdischen Kaufmann gesprochen, den die Nazis im KZ vergast haben. Seinen Tod habe ich nicht erwähnt, aber Sie konnten sich ein solches Schicksal aus dem Kontext ableiten. Das Haus ist gewissermaßen verwünscht, könnten Sie gedacht haben, einen Sekundenbruchteil, bevor Sie ein Gesicht aus den Augenwinkeln erspäht haben. Schwarze Haare, ein kränklicher Ausdruck ... Anne Frank drängt sich da auf. Anne, Anna ...“ Er lächelte. „Das ist nur eine Möglichkeit der Assoziation, ihr Gedankenfluss mag ganz anders verlaufen sein. Jedenfalls liegt es nahe, dass Sie bei all der Anspannung Anna zu sehen meinen.“

Jan nickte, wollte sich fügen, konnte jedoch das Bild nicht loswerden.

Herr Benounes legte die durchtränkten Taschentücher auf das Tablett zu den Scherben. Jans Blick sprang immer wieder zu den Fenstern.

„Ich bin gleich zurück.“ Herr Benounes ging aus dem Zimmer. Bald darauf kam er zurück, auf dem Tablett stand diesmal nur eine Tasse. „Ja, diese Villa, das ist eine faszinierende Geschichte. Der General verschwand in den Wirren der letzten Kriegstage.“ Er stellte das Tablett ab und goss Jan ein. „Vielleicht ist er beim Kampf um Berlin gefallen, vielleicht hat er sich nach Südamerika abgesetzt, jedenfalls plünderten die Russen das Haus. Unter den Kommunisten galt Jugendstil nicht mehr als entartet, das hieß nun bourgeois.“

„Könnten wir draußen nachschauen, dass sie wirklich nicht da ist?“

Herr Benounes zögerte, dann sagte er ernst: „Das können wir machen.“

„Gut.“ Jan fühlte sich nicht wohl beim Gedanken an den nächtlichen Garten, aber noch unangenehmer war ihm die Vorstellung, dass sich Anna in der Dunkelheit herumtrieb und er wie blind drinnen im Licht saß.

„Lassen Sie mich erst den Tee austrinken“, Herr Benounes nahm die Porzellantasse in seine schmalen Hände, „sonst wird er kalt.“

Er trank im Stehen, dann stieg er in den ersten Stock und kam mit Cordhose und Pullover bekleidet zurück.

Während sie sich die Jacken anzogen, fragte Jan, der nicht verkrampft wirken wollte: „Seit wann wohnen Sie hier?“

„Seit Mai. Ich habe das Haus im Februar übernommen und einige größere Reparaturen ausführen lassen. Es war eine Versteigerung nach einem Todesfall, und der alte Besitzer hatte seit Jahren nichts mehr gerichtet.“

„Deswegen sind die Räume noch so leer.“

„Ja, ich habe die meisten meiner Möbel in der alten Wohnung zurückgelassen. Sie passten nicht vom Stil und ... ich wollte sie nicht mehr sehen. Jetzt kaufe ich peu à peu einzelne Stücke in Antiquitätenläden und auf Trödelmärkten.“

Einer grünen Kommode, auf der sich ein Strauß idealisiert gezeichneter Feldblumen rankte, entnahm Herr Benounes eine Taschenlampe, die er Jan gab, und ein metallisches Gerät. Es hatte einen anatomisch gewellten Griff, darüber eine Taste, die an den Abzug eines Gewehres erinnerte, und am Kopf zwei kurze, aufeinander zugerichtete Drähte.

„Den habe ich mir angeschafft, als ich hier rausgezogen bin. Das nächste Haus ist ein Restaurant, das nachts unbewohnt ist, und dann kommt wieder einen Kilometer nichts, bis die Siedlung anfängt. Tagsüber sind zwar viele Spaziergänger und Radler unterwegs, aber nachts, in der kalten Jahreszeit, sieht man keine Menschenseele. Der Vorbesitzer hatte einen Schäferhund. Ich dachte mir, ein Elektroschocker ist pflegeleichter.“ Er lächelte breiter als gewöhnlich. Auch ihm schien mulmig zumute zu sein. Als er die Hand nach der Türklinke ausstreckte, hielt er inne. „Übrigens, ich heiße Farid. Wenn wir uns schon gemeinsam hinauswagen ...“

„Sie wissen ja – äh, dass ich Jan bin, weißt du ja.“

„Na dann mal los, Jan.“ Farid löschte das Licht, öffnete die Tür und blickte forschend umher, ehe er heraustrat. Jan folgte ihm und Farid schloss ab.

Die Nacht war bis auf wenige große Wolken sternenklar. Eine davon verdeckte den Mond, der Garten lag dunkler da als bei Jans Ankunft.

Das von den Eiben umfasste Gelände mochte etwa hundert Meter breit sein. Zwanzig Meter trennten die Villa von der landseitigen Hecke, dreißig oder vierzig Meter vom See. Dieser Teil fiel leicht ab und war etwas gepflegter als die Wildnis, durch die Jan gekommen war.

Sie schlichen über den Kiesweg zum Tor und blieben immer wieder stehen, um zu lauschen und in die dunklen Büsche zu spähen. Jan ließ seine Taschenlampe wie einen Suchscheinwerfer kreisen. Der Strahl reichte nicht weit, die Batterien waren schwach. Ab und an raschelte es am Boden, einmal leuchteten die Augen eines kleinen Nagers auf.

„Was machen wir, wenn wir sie finden?“, flüsterte Jan.

„Wir versuchen, mit ihr zu sprechen. Falls sie uns angreift, lähme ich sie. Der Schock wirkt für mehrere Minuten, in der Zeit tragen wir sie ins Haus und fesseln sie, dann lassen wir sie vom psychiatrischen Dienst abholen.“

„Wahrscheinlich wird sie davonlaufen. Sie ist mindestens so schnell wie ich.“

„Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie gar nicht hier.“

Sie schlichen weiter und erreichten das verschlossene Tor. Von dort hielten sie sich links an der Hecke. Obwohl es seit dem Nachmittag nicht mehr geregnet hatte, hingen Wassertropfen an den Sträuchern und im hohen Gras, und der Matsch schmatzte unter ihren Füßen. Jans Schuhe und Hosenbeine waren bald durchnässt.

An einer Stelle versperrte ihnen ein mächtiger Brombeerstrauch den Weg, den sie durch das Gestrüpp weiter innen im Garten umgehen mussten. Als sie zu den abgestorbenen Eiben gelangten, gab die Wolke den Mond wieder frei. Das bleiche Licht flutete über den Garten, die schwarzen Finger der nackten Eiben traten aus der Nacht. Jan leuchtete den Untergrund ab, konnte jedoch nicht einschätzen, ob Anna zwischen den Stämmen hindurchgekrochen war.

Sie gingen weiter, stiegen ein Mäuerchen hinab, das ein aufgelassenes Beet begrenzte, und gelangten ans schilfige Ufer. Ein Steg führte hinaus zum Wasser. Sie gingen an ihm vorbei zur gegenüberliegenden Hecke. Dort stand ein Gartenhäuschen, wohl nur ein einziger Raum. Die Vorderseite des Häuschens ließ sich in der Mitte aufklappen, so dass die Türen einen Teil der Veranda wie Wände umgeben würden. Jan konnte sich wundervoll ausmalen, hier Abend um Abend zu lesen und zu schreiben.

Als er sich wieder dem Haus zuwandte, packte Jan Farid am Ärmel und zeigte nach oben. „Das Fenster!“

„Das ist mein Schlafzimmer.“

„Es ist offen!“

„Ich brauche nachts frische Luft.“

Jan musterte das Gebäude und suchte nach Wegen, auf denen Anna hätte einsteigen können. Das Fenster lag zu hoch, um es ohne Leiter vom Boden aus zu erreichen, selbst wenn man auf das Sims im ersten Stock stieg. Und sich vom Dach aus hineinzuhangeln ... das schaffte nicht einmal Anna.

Sie drehten ihre Runde zu Ende und betraten die Villa. Für einen Moment hielten sie beide den Atem an und lauschten, dann lächelte Farid und sagte wieder mit voller Stimme: „Ich gehe nach oben und ziehe mich um. Wie nass bist du? Meine Hosen dürften dir ein gutes Stück zu kurz sein. Auf jeden Fall bringe ich dir trockene Socken.“ Er verschloss die Tür hinter ihnen und hängte die Kette ein.

„Danke, das ist nett. Socken reichen.“

Farid stieg die eigentümliche Schwebetreppe hinauf.

Jan drehte eine Runde durchs Erdgeschoss und kontrollierte die Fenster in der Küche, in der Vorratskammer, im Speisesaal und in einer provisorischen Werkstatt, die wohl für die Dauer der Renovierungsarbeiten angelegt worden war. Danach kehrte er in den Salon zurück, nahm ein arabisches Buch heraus und betrachtete die seltsamen Lettern.

Wo Farid nur blieb?

Jan schlug das Buch zu und suchte nach der schmalen Lücke im Regal, um es zurückzustellen, da hörte er leise Schritte hinter sich. Es war Farid, der ihm ein paar Wollsocken reichte und das Buch abnahm. Jan setzte sich an das Tischchen und zog sie an, die feuchten Turnschuhe hängte Farid an den Schnürsenkeln über den Griff eines Fensters.

Jan war froh, dass sie die Tour hinter sich hatten, und stellte eine der Fragen, die ihn den Nachmittag über beschäftigt hatten: „Warum werden Menschen verrückt?“

Farid setzte sich zu ihm. „Habt ihr im Biounterricht diese Kleinstlebewesen unter dem Mikroskop betrachtet, die überall im Wasser schwimmen?“

Jan nickte. Die winzigen, stacheligen Biester hatten ihn geekelt.

„Man verschluckt sie zu Tausenden, ohne sich ihrer je bewusst zu werden. Sie selbst werden sich ihrer wohl auch nicht bewusst, ihre Intelligenz reichte gerade einmal aus, auf Lichtquellen zuzusteuern. Die benötigen gewiss keine Psychologen. Der Mensch hingegen besitzt einen freien Willen, er kann komplexe Situationen analysieren, Millionen von Informationen speichern und Gefühle empfinden.“

Jan hatte den Eindruck, dass Farid diesen Vergleich schon oft genutzt hatte und doch in diesem Moment authentisch für die Möglichkeiten des menschlichen Gehirns schwärmte.

„Supercomputer schlagen uns im Schach, Vögel orientieren sich besser, Insekten reagieren schneller, aber keine Maschine und kein Tier kommt uns in unserer Vielseitigkeit gleich. Und dieses System funktioniert fast immer bei fast allen Menschen. Vergleiche das mit der Fehlerfreudigkeit von Computern und Handys und man könnte meinen, dass jede Kleinstadt eine psychiatrische Anstalt bräuchte.“

Jan dachte an ihre Waschmaschine, bei der die Hälfte der Programme nicht mehr lief. „Wie viele Menschen werden im Laufe ihres Lebens denn psychisch krank?“

„Wann ist ein Mensch psychisch krank?“

Jan überlegte. Er glaubte nicht, dass man auf den bunten Computertomographien des Gehirns solche Erkrankungen ablesen konnte. Vielleicht in Extremfällen, aber nicht so standardmäßig, wie man Grippe mit einem Fieberthermometer erkannte. Man musste das an den Auswirkungen festmachen. „Wenn einer mit dem Leben nicht zurechtkommt, obwohl er die geistigen Fähigkeiten dazu hat“, sagte er und fand, dass das eine kluge Definition war.

Farid überlegte. „Kommst du immer mit dem Leben zurecht? Und willst du das überhaupt? Wie fändest du einen Menschen, dessen Partner stirbt, und er geht am nächsten Tag zur Arbeit und am Abend zur Skatrunde? Und meinst du, alle Obdachlosen sind psychisch krank?“

„Okay, man muss auf verschiedene Aspekte achten. Wie schwer es den Leuten fällt, ein halbwegs normales Leben zu führen. Und dann auch, wie lange dieser Zustand anhält. Und ... wie sehr sie daran leiden, und wie sie innerlich darauf reagieren.“

„Ja, so ähnlich würde ich das auch sehen.“

„Wie gut kann man solche Störungen denn mittlerweile behandeln? Gibt es da viel Fortschritt?“

Farid wiegte den Kopf, dann hielt er inne, er schien seine Antwort gefunden zu haben. „Menschen mit schweren Störungen ergeht es heutzutage sicher besser als früher, nicht nur wegen der Medikamente. Sie werden zum Beispiel von den sogenannten Gesunden nicht mehr verbrannt wie während der Hexenverfolgungen. Zugegebenermaßen war das die schlimmste Zeit für alle Nicht-Normalen, vom Dritten Reich abgesehen, aber dass wir uns um Pflege und Heilung solcher Menschen bemühen, ist eine späte Errungenschaft der Zivilisation. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden Geisteskranke in den Hinterzimmern der Bürgerhäuser verborgen oder aus armen Bauernfamilien ausgestoßen, und wenn sie für Aufruhr sorgten, in Irrenhäuser gesperrt. Das berühmteste war das Hôpital de la Salpêtrière in Paris, wo auch Freud studierte. Bis zu achttausend Zwangseingewiesene vegetierten dort vor sich hin. Und das war noch ein Fortschritt gegenüber der alten Praxis, Geisteskranke einfach zu den Straffälligen in die Zuchthäuser zu werfen. Man kettete sie an und ließ sie von den gewöhnlichen Gefangenen versorgen – soweit denen der Sinn danach stand, die Essensrationen zu teilen. Und wenn man sie hervorholte, dann um sie auf Jahrmärkten zur Schau zu stellen oder um sie zu foltern und ihnen so die Unvernunft auszutreiben.“ Farids Augen leuchteten vor Zorn, er ließ sich zurücksinken und lächelte schmerzlich.

Jan schaute beklommen auf die Bücherregale. Manche dieser Novellen und Romane schwärmten von ritterlicher Liebe oder priesen bürgerliches Glück – und stammten aus Zeiten, als Verrückte schlechter behandelt wurden als die Tiere. „Es ist wie ein Hass der Gesunden auf die Kranken“, murmelte er.

„Es ist die verdrängte Angst.“

„Dass jeder von uns ebenso den Verstand verlieren kann?“

„Das und mehr.“

Jan dachte an Annas Angriff in der Küche. „Die Menschen fürchteten sich bestimmt vor Dämonen. Verrückte wirken so fremd, man kann tatsächlich glauben, dass sie von einem Geisterwesen besessen sind.“

„So fremd – oder so vertraut? Erschreckt uns bei Verrückten nicht gerade die innere Nähe? Dass sie uns zeigen, was wir uns verbergen, dass sie ausleben, was wir in uns unterdrücken? Hattest du nie Lust, eure Küche zu zertrümmern? Vielleicht sogar, nach einem Messer zu greifen?“

Jan schaute aus dem Fenster. Er sah die Spiegelung des beleuchteten Raumes, sich selbst und die hellen Birken draußen zwischen den Sträuchern.

„Sollen wir versuchen zu schlafen?“, fragte Farid. „Ich habe oben ein Gästezimmer, falls du hierbleiben möchtest.“

Jan hätte das Gespräch gerne fortgesetzt, um mehr über Anna zu erfahren. Er hatte nicht direkt nach ihr gefragt, da er Farid nicht in Verlegenheit bringen wollte. Als behandelnder Arzt durfte der ihm bestimmt nichts mitteilen. Aber auch die allgemeine Unterhaltung über die Psyche hatte Jan ein wenig beruhigt. Und vielleicht würde sich morgen eine Gelegenheit ergeben, etwas Konkreteres über Annas Krankheit und die Therapie zu erfahren. „Gerne“, antwortete Jan ein wenig verspätet.

Farid lächelte – erleichtert, wie es Jan schien. Ihm war wohl doch unbehaglicher zumute, als er zugab. Er geleitete Jan in den ersten Stock. Von einem langen Flur gingen zu beiden Seiten je drei Zimmer ab, wobei die zur Linken noch nicht renoviert und daher verschlossen waren. Zur Seeseite hin kam zunächst das Gästezimmer, in dem nur ein Schrank und ein Bett standen. Dahinter lägen sein Arbeits- und sein Schlafzimmer, sagte Farid, und wenn man dem Flur um die Ecke folge, gelange man zum Bad, zur Dachterrasse und über die zum Turm. Im Schrank befänden sich Bettwäsche und auch eine Zahnbürste. Er würde noch einige Gedanken notieren und dann ebenfalls zu Bett gehen.

Jan ließ das Licht ausgeschaltet, trat ans Fenster und schaute hinunter in den Garten, über das Schilf, hinaus auf das Flimmern des Mondes im See. Wie schön es hier mit Anna sein könnte, wenn sie gesund wäre. Er stellte sich vor, die Villa gehöre ihnen und Anna tanze auf der Veranda.

Er wandte sich ab, machte Licht, bezog das Bett und ging mit der Zahnbürste ins Bad. Der Türrahmen war mit Muscheln gespickt, die Tür zum Balkon hingegen schmucklos und aus Metall – wahrscheinlich hatte der General sie einsetzen lassen. Jan putzte sich die Zähne und lief dabei im bunt gekachelten Bad umher, das fast so geräumig war wie sein Zimmer.

Als er zurückging, trat Farid in den Flur, wünschte ihm nochmals eine gute Nacht und schloss das Arbeitszimmer hinter sich ab.

Jan legte sich ins Bett und zählte seine Atemzüge. Er fand keinen Schlaf. Annas hasserfüllter Blick in der Küche, ihr Griff nach dem Messer, ihr Sprung zur Regenrinne, ihre Flucht aus der Psychiatrie, der blutende Hals der Krankenschwester, Annas bleiches Gesicht in der Nacht, das offene Fenster bei ihrer Rückkehr aus dem Garten – die Eindrücke ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Wo mochte Anna in diesem Augenblick sein?

Leise Schritte im Flur, der Schlüssel wurde umgedreht, ein Stuhl verschoben.

Weswegen begab sich Farid so spät noch einmal ins Arbeitszimmer? Nach einigen Minuten hörte Jan wieder den Stuhl, die Schritte entfernten sich, es wurde ganz ruhig im Haus.

Der Schlüssel war nicht wieder umgedreht worden!

Jans Herz schlug schneller, ohne dass er recht wusste, wieso.

Er zählte erneut seine Atemzüge.

Konnte Farid im Arbeitszimmer Unterlagen über Anna aufbewahren? Wohl kaum, sie war erst seit heute seine Patientin.

Außerdem ließ er seine Unterlagen vermutlich im Krankenhaus in einem gegen Einbruch und Feuer gesicherten Schrank. Jan drehte sich zur Wand und versuchte zu schlafen.

Schließlich kam ihm der Gedanke, dass Farid wahrscheinlich sowieso abgeschlossen und er es überhört hatte. Das Beste war, aufzustehen und sich zu versichern. Dann hätte die liebe Seele ruh.

Nur durfte er sich nicht dabei erwischen lassen. Das wäre äußerst peinlich, wenn sein Gastgeber sähe, wie er sich an der Tür des Arbeitszimmers zu schaffen machte. Schließlich konnte Farid nicht wissen, dass er gar nicht hinein wollte, sondern bloß nachschauen, damit er endlich schlafen konnte.

Jan erhob sich und schlich in den Flur. Der Schlüssel steckte. Farid hatte wohl nur einen Moment im Arbeitszimmer verbringen wollen, den Schlüssel daher nicht abgezogen, als er hineinging, und ihn danach vergessen.

Im Haus war es immer noch totenstill.

Jan legte das Ohr an die Tür. Kein Geräusch war zu vernehmen. Und auch das Licht war erloschen – vorhin, auf seinem Weg zum Bad, hatte er es unter dem Türspalt hindurch brennen gesehen.

Er hielt den Atem an und öffnete die Tür gerade so weit, dass er hineinspähen konnte. Die üblichen schmalen, hohen Fenster zum See, Bücherregale an den Seitenwänden, ein Schreibtisch, ein Korbstuhl. Er trat ein und schloss die Tür behutsam hinter sich.

Auf dem Schreibtisch lagen einige Stifte und eine dicke Mappe. Jan beugte sich darüber, um die Aufschrift zu lesen.

Anna Herrera.

Er blickte hinter sich zur Tür. Sollte er abschließen? Das war laut und nutzlos. Er würde nur einen raschen Blick riskieren und in sein Bett zurückschlüpfen.

Die Mappe wurde von zwei Gummizügen zusammengehalten, die über die Ecken gespannt waren. Er schob sie zur Seite und schlug die Mappe auf, irgendwo in der Mitte, wo ein Blatt ein wenig an den Rändern herausstand. Eine krakelige, schwarze Kindermalerei: ein Mädchen, aus deren Augen Tränen flossen, daneben, viel größer, ein Monster mit klauenbewehrten Händen, alles umringt von einer finsteren Wolkenwand.