6. Kapitel
Das Telefon klingelte.
Jan senkte den Blick von der Decke zum Wecker. Es war 22:04 Uhr.
Das Telefon klingelte zum zweiten Mal.
Er setzte sich auf dem Bett auf. Einer der Polizisten kam ins Schlafzimmer und schaute ihn drängend an.
Das Telefon klingelte erneut. Diesmal nahm Jan ab.
„Bist du es, Jan?“ Annas Stimme schnürte ihm den Hals zu.
„Ja“, stieß er hervor.
„Bist du allein?“ Die Frage, die sie trainiert hatten. Er musste sofort bejahen.
„Ich bin allein.“ Er hatte das Gefühl, kein Wort mehr sagen zu können, doch er zwang sich dazu: „Ich will dich sehen.“
„Gut, wir müssen miteinander reden.“
„Ich kann sofort los. Wo treffe ich dich?“ Er lieferte sie aus – wie es der Kommissar gefordert hatte. Aber er verriet Anna nicht, wiederholte er sich, er konnte sie gar nicht verraten, weil sie nicht sie selbst war.
„Warum hast du mich so zugerichtet?“
„Weil du mich mit einem Messer angreifen wolltest.“
„Vielleicht hast du eine Bewegung falsch gedeutet. Ich war beim Obstschälen. Wenn ich mit dem Messer schwungvoll hantiere, macht dich das immer nervös.“
„Nein, Anna, du hast mich davor geschlagen. Zwischen dem Obstschälen und unserem Kampf ist eine Viertelstunde verstrichen, an die du dich nicht erinnern kannst.“
Sie dachte einen Augenblick nach. „Es ist alles sehr schwer zu rekonstruieren, weil sie uns Drogen gegeben haben.“
„Was?“
„Du bist noch nicht dahintergekommen? Ich bin mir nicht sicher, ob sie dir auch welche verabreicht haben, aber ich glaube schon, du wirkst auch verwirrt.“
Jan blickte hilflos auf. Der Polizist, der sich ihm gegenüber an die Wand gelehnt hatte und auf den Knopf in seinem Ohr drückte, nickte ermutigend.
„Es ist eine Verschwörung, Jan.“
„Und wer soll dahinterstecken?“
„Es ist riskant, das am Telefon zu besprechen.“
Der Polizist deutete mit dem Zeigefinger zur Tür. Jan sagte: „Wir sollten uns lieber zusammensetzen.“
„Wenn du zu mir kommst, könnten sie dir folgen. Und wenn du bleibst, werden sie dich verschwinden lassen. Du musst sofort untertauchen.“
„Erkläre mir erst deine Theorie.“
„Du vertraust mir doch?“
„Ja.“ Er vertraute der wahren Anna, sagte sich Jan. „Aber du musst mich einweihen.“
Sie zögerte. „Okay, unterbrich mich nicht, die Zeit ist knapp. Denk an all die Morde im Tal, die sich im Laufe von vier Jahren ereignet haben. Weshalb hat niemand begriffen, was sich da abspielt? Plötzlich verschwinden ungewöhnlich viele Bergsteiger und Trekker, und das geht vier Jahre lang, ohne dass jemand dahinterkommt, dass ein Serienmörder sein Unwesen treibt? Extrem unwahrscheinlich. Und tatsächlich habe ich im Internet die Aussage eines Kletterers gefunden, der die Polizei gewarnt hat. Er hat den Mord nicht direkt beobachtet, aber gesehen, wie der Wahnsinnige im Nationalpark einem Ehepaar nachgeschlichen ist, von dem danach nie wieder was gehört wurde. Warum ist die Polizei selbst diesem Hinweis nicht nachgegangen?“
„Ich weiß davon nichts. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass die Polizei Fehler gemacht hat und im Nachhinein ziemlich dumm dasteht.“
„Vier Jahre, Jan! Das ist zu lange für eine normale Polizeipanne! Die Ermittlungen sind von ganz oben blockiert worden.“
„Wer sollte so etwas getan haben?“
„Die Geheimdienste. Das Militär.“
„Das ist doch Wahnsinn!“, entfuhr es Jan.
„Hast du eine Ahnung, was die schon alles hinter dem Rücken der Öffentlichkeit gemacht haben? Zum Beispiel in Vietnam. Sagt dir Phönix etwas? Ein US-Programm, unter dem Tausende von Zivilisten mit möglicher Verbindung zum Vietcong gefoltert und ermordet wurden. Das Grausamste, was du dir vorstellen kannst.“
„Das war im Krieg.“
„Die USA befinden sich im Krieg gegen den Terrorismus. Bush hat ihn ausgerufen, und Obama lässt ihn weiterlaufen. Er hat die Geheimdienste sowieso nie unter Kontrolle bekommen.“
„Und was haben die davon, wenn ein Verrückter in Alaska Naturliebhaber umbringt?“
„Die Amerikaner haben seit dem Zweiten Weltkrieg ihre geheimen Waffen in Nevada entwickelt. Über dieses Testgelände ist zu viel bekannt geworden. Deshalb haben sie ein neues Zentrum in Alaska aufgemacht, und das müssen sie geheim halten.“
„Hätten sie nicht ein Sperrgebiet errichtet?“
„Dann hätten die Chinesen und Russen ihre Spionagesatelliten darauf angesetzt. Stattdessen haben sie einen Nationalpark genommen, in den sowieso kaum Leute hineindürfen, und außerdem stellen sie nur Permits für Gebiete aus, die weit von ihrem versteckten Zentrum entfernt liegen. Der Killer kam ihnen gerade recht: Je gefährlicher die Gegend war, desto weniger Menschen wollten dorthin. Und vielleicht haben Sie den einen oder anderen selbst verschwinden lassen, wohl wissend, dass sie es eines Tages dem Killer in die Schuhe schieben könnten.“
„Zu so etwas sollen die Amerikaner in der Lage sein?“
„Die haben ihre eigenen Soldaten gleich nach Atombombentests durch verseuchtes Gebiet marschieren lassen, um zu schauen, ob sie umkippen. Die haben nichtsahnenden Zivilisten für militärische Studien LSD verabreicht und an Gefängnisinsassen chemische und biologische Kampfstoffe erprobt. Sie tun alles, was sie für erforderlich halten. Denk an Afghanistan. Erst bilden sie die Mujahedin aus, um die Sowjets zu bekämpfen, und dann foltern sie sie, weil sich diese Fundamentalisten jetzt al-Qaida nennen und sich gegen ihre Förderer gewandt haben. In Guantanamo auf die moderne Art ohne Blut, und klassisch bis zum Tod in irgendwelchen Diktaturen, die ihnen etwas schuldig sind, weil sie Militärhilfe bekommen.“ Ihre Stimme wurde flehend: „Jan, du darfst die Augen nicht davor verschließen. Sonst bringen sie dich um.“
„Warte, nicht so schnell, ich muss nachdenken.“ Er musterte den Polizisten, die Waffe im Holster, das unbewegte Gesicht. „Wieso halten sie uns für eine Bedrohung?“
„Weil ich Nachforschungen im Internet angestellt habe. Darauf muss die NSA aufmerksam geworden sein.“
„Und warum haben sie uns nicht einfach kaltgestellt?“
Anna antwortete auf der Stelle: „Weil das Aufsehen erregt hätte. Jemand hätte darauf kommen können, dass man uns am Reden hindern wollte. Sie wollen uns in eine Psychiatrie sperren. Vielleicht lassen Sie uns in zehn oder zwanzig Jahren wieder gehen, wenn unser Hirn nicht einmal mehr dazu ausreicht, uns die Schnürsenkel zu binden. Oder wir schneiden uns nach ein paar Monaten die Adern auf. Wenn das in einer Psychiatrie geschieht, denkt sich niemand etwas dabei.“
„Kann die Polizei uns nicht schützen?“ Jan griff nach dem Wasserglas, das auf dem Nachttisch stand, und nahm einen Schluck. Er hatte es sich selbst eingeschenkt, da konnten keine Drogen drin sein.
„Dieser Kommissar Schiefer ist ein Spitzel. Und der Psychiater steckt mit unter der Decke.“
„Herr Benounes?“
„Ja.“
„Herr Benounes ist ein verantwortungsvoller Psychiater, Anna. Bitte ruf ihn an! Lass dich von ihm beraten.“
„Hast du mir überhaupt zugehört? Herr Benounes ist dafür verantwortlich, dass wir seine Klinik nie wieder mit klarem Verstand verlassen. Gleich nach meiner Einlieferung hat er mich auf Drogen gesetzt. Nicht einmal an meine Flucht kann ich mich erinnern. Dieser Mann ist ein Verräter.“
Die untergründige Wut in ihrer Stimme erschütterte Jan. Für einen Moment sah er sich auf einer Eisscholle im Nordmeer treiben, die schwarze Wasseroberfläche begann zu beben, etwas Grauenhaftes tauchte aus den Tiefen auf. Er verscheuchte das Bild.
„Ich muss auflegen. Wer weiß, vielleicht können Sie ein langes Gespräch auch auf Skype zurückverfolgen. Ich bitte dich, Jan, bring dich in Sicherheit!“
„Lass uns –“ Anna hatte aufgelegt.
Der Polizist lobte ihn, dass er Anna so lange in der Leitung gehalten hatte, die Chancen stünden gut, dass es für eine genaue Ortung gereicht habe. Falls sie sich nochmals melde, solle Jan wieder versuchen, sie in eine Diskussion über ihre Theorien zu verwickeln. Dann klopfte ihm der Polizist auf die Schulter und ging hinaus.
Jan ließ sich aufs Bett sinken. Was mochte sich nur in Annas Kopf abspielen? Wie war es möglich, die Wirklichkeit so zu verdrehen und nicht zu merken, welche Absurditäten man fabrizierte? Zugegebenermaßen war ihre illusionäre Welt nachvollziehbar, aber jede Erklärung hatte ihrem Kartenhaus ein weiteres Stockwerk aufgesetzt: Nicht nur die Geheimdienste hatten es auf sie abgesehen, sondern auch Schiefer und Benounes. Und er hatte sie verprügelt, wahrscheinlich, weil auch er unter Drogen stand.
Er überlegte, was er an ihrer Stelle unternehmen würde. Entweder sich mit Lebensmitteln für eine Woche eindecken und in den Wäldern nördlich Berlins verschwinden oder ein Auto klauen und nach Polen fahren, soweit der Tank reichte. Doch was würde Anna tun, nicht seine, sondern die geisteskranke?
Er ging ins Bad, machte sich bettfertig, trödelte und blieb schließlich vor der Schlafzimmertür stehen. Aus dem Wohnzimmer kamen leise Stimmen. Es hatte sich wohl nichts ergeben, sonst hätte man ihn informiert. Dennoch erkundigte sich Jan bei den Polizisten. Sie berichteten, dass das Internetcafé lokalisiert worden sei, von dem Anna den Anruf getätigt hatte. Sie war kurz vor dem Eintreffen des ersten Streifenwagens gegangen. Und obwohl der Inhaber eine genaue Beschreibung ihrer Kleidung abgegeben hatte, war sie entkommen. Zum Gesicht konnte der Mann nichts sagen, da sie einen Schleier getragen hatte. Womit sie in Kreuzberg nicht allzu sehr auffiel, der Ort war geschickt gewählt.
Nachdem Jan sich eine Weile im Bett gewälzt hatte, ohne Schlaf zu finden, griff er unters Bett und zog seinen Laptop hervor, den ihm die Polizei wieder ausgehändigt hatte. Während das Betriebssystem startete, dachte er nach, wie er Annas Theorie prüfen könnte. Auf Wikipedia fand er Informationen zum Phönix-Programm in Vietnam und eine gruselige Liste von militärisch motivierten Versuchen an Menschen. Aber das war eigentlich nebensächlich – er zweifelte ohnehin nicht daran, dass die Amerikaner prinzipiell bereit waren, Unschuldige zu töten, wenn das der nationalen Sicherheit diente. Der Drohnen-Krieg war schließlich ein Synonym für Kollateralschäden. Woran er zweifelte, war die Existenz des geheimen Testgeländes im Nationalpark. Die Suche ergab schnell einen Wikipedia-Artikel über ein militärisches Forschungszentrum im Norden Alaskas, das mit Radiofrequenzen die Ionosphäre und damit das Wetter beeinflussen sollte. Konnte es nicht ein weiteres Zentrum geben?
Jan war nun hellwach. Welcher Ort wäre besser geeignet als ihr unzugängliches Tal? Und die Frau, die den Besitzer des Hauses vor zwei Jahren dorthin begleitet hatte und verschwunden war: Vielleicht war sie auf diese Anlage gestoßen.
Aber hätte das Militär den Mörder nicht daran gehindert, ihre Abi-Gruppe zu dezimieren? Damit musste er auffliegen und das weltweite Medieninteresse auf das Tal lenken. Dieses Argument untergrub Annas Theorie. Andererseits – das Militär konnte erkannt haben, dass das Testgelände ohnehin nicht länger geheim zu halten war, oder dass es zu viele Menschenleben kostete, und so hatte es den Mörder ein letztes Mal gewähren lassen. Anna hatte ihm kürzlich erzählt, dass der Nationalpark noch immer geschlossen sei, weil die Polizei nach dem Mörder und potentiellen Mittätern fahndete. Das konnte dem Militär ausreichend Zeit verschaffen, die Anlage abzubauen, die ihren Dienst bereits geleistet haben mochte. Eine saubere Sache – solange nicht eine Überlebende aus dem Tal anfing, Beschuldigungen zu erheben. Die mochten nicht stichhaltig sein, schließlich war Anna keine investigative Journalistin, aber sie würden Aufmerksamkeit erregen.
Jan suchte weiter im Internet und stieß mit etwas Mühe auf die Aussage des Kletterers, der sich bereits vor einem Jahr mit einer groben Täterbeschreibung an die Polizei gewandt hatte und abgewimmelt worden war. Auch da hatte Anna die Wahrheit gesagt.
All die Informationen drehten sich in seinem Kopf. Er klappte den Laptop zu und schloss die Augen. Wurde er auch schon paranoid, oder war er auf ein tödliches Geheimnis gestoßen? Er ging das Gespräch mit Anna nochmals durch. Wie hasserfüllt sich ihre Stimme angehört hatte, als sie von Herrn Benounes gesprochen hatte! Jan musste wieder an das Bild vom Nordmeer denken. Tatsächlich war ihm ein wenig kalt, die Eindringlichkeit dieser Vorstellung mochte daher rühren. Er legte sich die Decke über die Beine. Obwohl Anna Herrn Benounes kaum kannte, sah sie in ihm den Feind. Könnte sich an ihm rächen wollen? Jan sah den freundlichen Arzt wieder vor sich. Der konnte kein Verräter sein.
Oder war es möglich, dass Anna den Kommissar angreifen würde? Nein, an den käme sie nicht heran. Und außerdem stand er nur für die äußere Bedrohung, wohingegen Anna eingesehen hatte, dass ihre Probleme auch innerlich waren. Sie hatte davon gesprochen, dass man ihr Drogen verabreicht hatte. Sie wusste, dass sie nicht sie selbst war. Ihre Gedanken mussten um den Psychiater kreisen.
Jan ging ins Wohnzimmer und erklärte den Polizisten, dass sie Herrn Benounes warnen müssten. Sie teilten ihm gelassen mit, dass dieser bereits zu erhöhter Achtsamkeit angehalten worden sei. Jan bat um die Telefonnummer des Psychiaters. Sie wurde ihm ebenso verweigert wie sein Wunsch, dass ein Polizist für ihn anrufen und ihm das Telefon weiterreichen möge. Die Polizei hielt Anna für gefährlich – aber wie gefährlich sie sein konnte, begriff nur, wer sie im Tal erlebt hatte.
Zurück im Bett trieb Jan die Sorge um Herrn Benounes um. Er konnte nicht abschätzen, wie begründet sie war, sie kam aus dem Bauch und raste durch seinen Kopf, ohne sich in Ruhe untersuchen zu lassen. Und Anna würde ihre Lage noch weiter verschlimmern, wenn sie dem Psychiater etwas antat. Er überlegte, wie er mit Herrn Benounes in Kontakt treten könnte, und holte den Laptop wieder hervor.
Die erste Suche war erfolglos: Kein Benounes hatte sich ins Berliner Telefonbuch eingetragen. Welcher Psychiater wollte schon nachts von Patienten angerufen werden?
Jan dachte zurück an die Klinik-Mitarbeiter, die er heute dabei beobachtet hatte, wie sie dem Feierabend entgegenstrebten – und sah die Mitteilungen wieder, die er im Empfangsbereich zum Zeitvertreib gelesen hatte. Es war ihm, als habe da etwas über Benounes gestanden und der Vorname hatte ... Farid gelautet. Das war es, Farid! Jan hatte zunächst Fakir gelesen, und so war der Name in seinem Gedächtnis hängen geblieben.
Er probierte sein Glück mit einigen Seiten, die alle Informationen zu einer Person aus dem Internet zusammentragen, wurde jedoch nur mit einem algerischen Fußballer zugemüllt, der in Frankreich spielte. Überhaupt war Algerien das Land, das am häufigsten im Zusammenhang mit diesem Namen auftauchte.
Jan fasste zusammen, was er wusste: Farid Benounes, Psychiater, Mitte fünfzig, unter einssiebzig groß, vermutlich Algerier, wohnhaft in Berlin. Wahrscheinlich nicht allzu weit entfernt von seiner Arbeitsstelle, irgendwo in einer Villengegend am westlichen Stadtrand.
Er kam nicht weiter und dachte wieder an Anna, wie sie sich in Kreuzberg als Muslimin getarnt hatte, das war eine bizarre –
Muslimisch! Farid Benounes war zuständig für die muslimische Seelsorge in der Psychiatrie, das war es gewesen, was auf dem Anschlag gestanden hatte. Und später, als Jan sich mit Herrn Benounes unterhalten hatte, ohne den Zusammenhang herzustellen, hatte der sich über seine eigene Ausdrucksweise belustigt: Wie ein Seelsorger würde er schon klingen, dabei sei er doch eigentlich Arzt.
Jans Suche zeigte, dass es in Berlin 61 Moscheen gab.
Er probierte einige Kombinationen aus Farid Benounes und Moschee, Islam, Seelsorge, Psychiater und Berlin, überflog jeweils die erste Trefferseite, klickte hier und da auf einen Link und stieß schließlich auf ein Foto, das einen Koordinationskreis islamischer Krankenhausseelsorger bei Herrn Benounes zu Gast am Müggelsee zeigte. Der Eintrag stammte vom August. Man hatte anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Koordinationskreises eine Wanderung um den Müggelsee unternommen, war im Restaurant Forelle eingekehrt und hatte anschließend den Abend bei Herrn Benounes in der nahegelegenen Villa verbracht.
Schnell hatte Jan festgestellt, dass es nur eine einzige Villa in der Nähe des Restaurants gab, sonst befand sich weit und breit kein Gebäude an diesem Seeufer.
Dem Ende der Privatsphäre sei Dank! Er hatte Herrn Benounes verortet. Hinter die Telefonnummer würde er dennoch nicht kommen – es blieb ihm nichts übrig, als dorthin zu fahren, wenn er Herrn Benounes warnen wollte.
Den Laptop würde er vorsichtshalber in einem Rucksack mitnehmen, damit niemand seine Suche nachvollziehen könnte. Er glaubte nicht an Annas Verschwörungstheorie, aber er vertraute der Polizei nicht mehr. Herrn Benounes hingegen schon, auch wenn das nicht logisch war. Er fühlte sich einfach hingezogen zu diesem ruhigen Mann, der ihm Rat geben konnte. Zudem hegte er die träumerische Hoffnung, dass Herr Benounes und er Anna im Gespräch dazu bringen würden, in die Klinik zurückzukehren, statt in Handschellen von der Polizei eingeliefert zu werden.
Jan kleidete sich an und meldete sich von den Polizisten unter dem Vorwand ab, er wolle noch einen Freund besuchen – und zwar ohne Begleitung. Sie versuchten ihn zurückzuhalten, mussten jedoch zugeben, dass sie keine rechtliche Handhabe gegen ihn hatten, wenn er auf eigenes Risiko losziehen wollte.
Draußen war es kalt, über dem Hof schienen die Sterne. Es tat gut, der Wohnung entkommen zu sein. Jan ging zur Ringbahn und fuhr zum Ostkreuz. Dort stand sein Anschluss, die S3 Richtung Friedrichshagen, am Gleis. Die Türanlage piepte, er sprang hinein. Hinter ihm drängten sich zwei Männer in den Waggon, die Jan schon in der letzten S-Bahn aufgefallen waren. Beide hielten eine offene Bierflasche in der Hand – und wirkten sehr nüchtern.
Wahrscheinlich war es die Polizei. Vielleicht war es irgendjemand anderes. Jan wollte nicht von Unbekannten beschattet werden.
Nach zwei Stationen fasste er einen Plan. Bei der vierten stieg er aus und verschwand hinter einem Kiosk auf der Bahnsteigmitte, rannte darum herum und stieg im letzten Moment wieder ein. Seine beiden Verfolger kamen zu spät, die Tür schloss sich, als der Vordere die Hand ausstreckte, um sie aufzuhalten.
An der nächsten Station wechselte Jan in ein Taxi. Er zog sein Handy aus der Hosentasche, um es auszuschalten, damit die Polizei ihn nicht orten könnte. Das Display war erloschen, der Akku musste leer sein. Das passierte ihm immer wieder.
Sie fuhren durch eine menschenleere Siedlung, dann über eine schmale Uferstraße. Niemand folgte ihnen. Jans Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf sein Ziel. Es hatte ihn keine halbe Stunde gekostet, Herrn Benounes ausfindig zu machen. Wäre Anna nicht ebenso dazu in der Lage? Wenn Anna sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, erreichte sie es auch. Falls sie Herrn Benounes finden wollte, würde sie einen Irrweg nach dem anderen ausprobieren, bis sie zu ihm gelangte.
Je näher sie der Villa kamen, desto mehr wuchs Jans Anspannung.