8. Kapitel
Jan knipste die Schreibtischlampe an und überflog eine engbedruckte Seite. Anamnese, Vulnerabilitätsfaktoren, differentielle Diagnostik, posttraumatische Belastungsstörung, dissoziativer Stupor ... die Worte tanzten vor seinen Augen. Er las langsam die Überschrift: ‚Psychiatrischer Bericht für die Patientin Anna Herrera (*15.11.1994) vom 22.09.2006‘.
Damals war Anna erst zwölf gewesen!
‚... wiederholte psychogene Anfälle mit deutlicher prodromaler Symptomatik ... Evidenz intensiver peritraumatischer Dissoziation ...‘
Zitternd schlug er eine andere Seite auf, weiter hinten in der Mappe. Ein Brief an Carmen, in dem jemand berichtete, dass Annas Zustand sich erfreulich entwickele, sie aktiver an der Suizidprävention mitwirke und sie seit dem letzten Schreiben keinen Pfleger mehr angegriffen habe. Datiert vom 31.01.2007.
An den Brief war ein liniertes Blatt geheftet: ein Versprechen, sich nicht umzubringen oder sonst wie zu schädigen und über alle derartigen Gedanken und Versuche mit den Therapeuten zu sprechen. Es war mit vier verschiedenen Namen unterschrieben, in vier verschiedenen Kinderhandschriften, die sich doch ähnelten.
Ein anderer Gedanke bahnte sich durch Jans Schmerz: Woher hatte Farid diese Akte? Anna war heute überraschend bei ihm eingeliefert worden. Am frühen Nachmittag. Und beim Verlassen der Klinik ... Jan vergegenwärtigte sich noch einmal, wie er den Arzt zum ersten Mal im Gespräch mit der Empfangsdame gesehen hatte. Farid war auf ihn zugekommen, gelassen, die Arme auch beim Gehen ruhig an den Seiten. Er hatte keine Mappe getragen, keine Tasche, keinen Rucksack. Annas Krankenunterlagen mussten bereits hier gewesen sein!
Jan schreckte auf, seine Zähne schlugen aufeinander. Jemand war im Zimmer!
Im Fenster sah er das Spiegelbild einer hellen Gestalt hinter sich und fuhr herum.
Farid stand in der offenen Tür, er trug einen dünnen, beigefarbenen Kaftan, dessen weite Ärmel fast den Elektroschocker in seiner Hand verdeckten.
„Entschuldige!“, sagte Jan jämmerlich. „Ich ... Ich weiß nicht, wie ...“
Farid kam auf ihn zu. „Habe ich den Schlüssel stecken lassen?“
Jan nickte.
„Dann habe ich es so gewollt.“
„Ich hätte nicht –“
„Klar hättest du nicht – aber Adam hat auch. Und wahrscheinlich hast du geahnt, dass du etwas über deine Freundin finden würdest. Was sonst könnte mich so spät noch beschäftigt haben?“
Jan nickte wieder.
„Du hast sicher einige Fragen.“ Farid legte den Elektroschocker auf den Tisch und ließ sich im Korbstuhl nieder.
Jan schaute ihn unsicher an.
Der Elektroschocker lag wie ein dickes Insekt auf dem Schreibtisch, in Jans Reichweite, und Farid saß zwei Meter entfernt, die Beine übereinandergeschlagen.
Jan sagte sich, dass er die Kontrolle über die Situation hatte. Er würde Farid erst zu Anna befragen und danach zur Akte. „Woran leidet Anna?“
„An einer dissoziativen Identitätsstörung. An einer Gabe, die ihr vielleicht das Leben gerettet hat.“ Farid hielt inne und fuhr sich mit dem Finger übers Kinn. „Ich habe einen Fehler begangen und die Tür nicht wieder abgeschlossen. Ein kluger Fehler, der meinen mangelnden Mut kompensiert hat. Denn wenn Anna jemanden kontaktiert, dann dich – du musst also ihre Geschichte kennen, damit du richtig mit ihr umgehen kannst. So schwer es mir fällt, ich muss die ärztliche Schweigepflicht brechen. Aber du darfst nie erzählen, was ich dir jetzt sagen werde.“
„Kein Wort ohne deine Erlaubnis.“
Farid rieb sich nochmals das Kinn und sagte: „Wir Menschen können sein, wo wir nicht sind. Wir nennen es Fantasie. Es gibt kaum etwas Nützlicheres! Nimm den Steinzeitmenschen, der sich vorstellt, wie es wohl ausgehen mag, wenn er mit seinem Faustkeil ein Mammut angreift. Er wird darauf kommen, dass es gesünder für ihn ist, das Mammut über eine Klippe zu treiben. Unsere Fantasie hilft uns, angemessen zu handeln.“
Jan nickte ungeduldig. Wieso hielt sich Farid mit einer solchen Vorrede auf? Wahrscheinlich um ihm die Zeit zu geben, zur Ruhe zu kommen, ehe er schwer Erträgliches zu hören bekommen würde.
„Sie hilft uns auch, Situationen auszuhalten, in denen wir nicht handeln können. Du kennst das sicher, ganz harmlos, von langweiligen Vorlesungen an der Uni, durch die du dich hindurchträumst. Das ist eine schwache Form von Dissoziation. Kinder haben ein besonderes Talent, sich von der Realität abzukoppeln. Sie können viel leichter in Fantasiewelten entschlüpfen. Das ist ein wundervolles Geschenk. Es verzaubert die Kindheit. Und nebenbei fördert es die Entwicklung und gleicht Belastungen aus. Nur manchmal wird es zu einem Fluch.“
„Anna fantasiert wie ein Kind?“
Farid lächelte. „In gewisser Weise, ja. Nur reicht ihre Dissoziation viel tiefer in ihre Persönlichkeit hinein. Jungs spielen Seeräuber, Mädchen kleiden sich wie Prinzessinnen, und für eine Weile ohne Uhrzeit befehlen sie ein Schiff oder einen Hofstaat. Bei identitätsgestörten Patienten gewinnen diese Tagträume ein Eigenleben. Sagen wir, ein Junge wird immer wieder zum gleichen Seeräuber, der einen Namen und eine Biografie zugelegt bekommt. Der Seeräuber hat seine eigenen Gefühle und Verhaltensweisen, er spricht rau und grob und stößt seine Spielkameraden herum. Er hat zudem ein eigenes Gedächtnis: Als Seeräuber kann sich der Junge nicht an seine ursprüngliche Identität erinnern und umgekehrt. Und er hat keine Kontrolle, wann er zum Seeräuber wird. Plötzlich ist er ein anderer. Er merkt nur auf Dauer, dass die Dinge irgendwie seltsam sind, weil er ständig Probleme hat und sich nicht erinnern kann.“ Farid seufzte. „Die Dissoziation hilft den Betroffenen, unerträgliche Gedanken und Erinnerungen auszublenden und innere Spannungen aufzulösen, indem sie sie in separate Identitäten auslagern. Aber das ist ein Teufelskreis: Die Betroffenen kommen dadurch mit dem richtigen Leben immer schlechter zurecht, sie verlieren den Kontakt zu den Mitmenschen, ihre traumainduzierte Depression verstärkt sich – und sie reagieren darauf mit ihrer bevorzugten Strategie: der Dissoziation.“
Jan verglich das Gehörte mit den Erfahrungen des vergangenen Tages. Das Unerklärliche begann, sich zu erschließen. „Was ist mit Anna genau geschehen? Das Trauma, dem sie entfliehen musste?“
„Du kennst ihre Mutter Carmen und weißt, dass ihr Vater gestorben ist ...“
Jan wusste nicht, ob das eine Frage oder Aussage war, und nickte.
„Rolf Böhm war Angestellter bei einer Versicherung, 31, als er Carmen, die Tochter spanischer Gastarbeiter, kennenlernte.“ Farid sprach nun anders, man merkte, dass ihm Annas Fall nicht so vertraut war wie die allgemeine Theorie der Dissoziation. „Herr Böhm war sehr attraktiv, er hat mit großem Aufwand um Carmen geworben und sie vorbehaltlos bewundert. Das gefiel ihr. Sie heiratete ihn zwei Jahre später, 1993. In der Akte befindet sich eine detaillierte Familienanalyse, ich werde mich kurzhalten. Die Ehe gestaltete sich schwierig, sie hasste seine Labilität und Anhänglichkeit, er klagte über ihre gehässige Dominanz. Ende 99 warf sie ihn raus. Ab da rackerte sie sich als Alleinerziehende ab, um in der Marketingbranche Karriere zu machen. Das Verhältnis zwischen der impulsiven, extrovertierten Mutter und der zurückgezogenen, trotzigen Tochter verschlechterte sich über die Jahre. Als Carmen befördert wurde, bat sie ihren Ex-Mann, bei Annas Erziehung zu helfen. Herr Böhm hatte bis dahin sein Besuchsrecht nur sporadisch wahrgenommen. Dass er nun regelmäßig bei ihnen war, schien Anna gut zu tun. Carmen war erleichtert, immerhin war Anna wegen Konzentrationsstörungen, Aggressivität und depressiver Tendenzen bereits in psychologischer Behandlung gewesen. Nach kurzer Zeit, ich glaube, schon nach wenigen Wochen, zog Herr Böhm wieder bei den Herreras ein – in das Gartenhaus, das Carmen zu diesem Zweck ausbauen ließ.“
Irgendwo knackte es.
Farid hob den Kopf und entspannte sich wieder. „Das kommt gelegentlich vor. Ein großes, altes Haus ... Wo war ich stehengeblieben? Bei Herrn Böhm, der sich um den Haushalt und seine Tochter kümmerte und dabei wieder unter Carmens Fuchtel stand. Wahrscheinlich atmeten sie alle auf, als Carmens Arbeitgeber ihr anbot, ein hinzugekauftes Unternehmen in Spanien zu managen. Das war im Herbst 2005, kurz vor Annas elftem Geburtstag. Zu Beginn flog Carmen jeden Monat nach Hause, doch da erlebte sie sich als störenden Eindringling, und außerdem hatte sie eine Affäre mit einem jüngeren Arbeitskollegen in Barcelona begonnen. Und so kam es, dass sie ihre Tochter seit Mai nicht mehr gesehen hatte, als sich das Unglück ereignete.“
„Der Vater ist mit dem Rad gestürzt, er hatte einen epileptischen Anfall.“ Jan erinnerte sich genau, wie Anna ihm das an ihrem ersten Abend im Tal anvertraut hatte – und er wollte zeigen, dass auch er etwas über seine Freundin wusste.
„Nein, er ist verbrannt.“
„Verbrannt?“
„Das Feuer brach am Nachmittag des 17. August 2006 im Gartenhäuschen aus. Als die Feuerwehr den Brand gelöscht hatte und die verkohlte Leiche zwischen den Resten des Holzhauses fand, lag nahe, dass es kein Unfall gewesen war. Das Häuschen hatte nur ein Zimmer und ein Bad. Wieso war er nicht durch die Tür oder aus einem Fenster entkommen? Die einzige Zeugin war die elfjährige Anna, die alles vom Garten aus beobachtet hatte. Doch sie stand unter Schock und konnte sich auch später nicht erinnern. Die Obduktion ergab, dass Herr Böhm mit Spiritus übergossen und angezündet worden war.“
Jan dachte daran, wie Gregor Anna im Tal mit Spiritus verbrennen wollte.
„In der folgenden Nacht lief Anna weg. Ein morgendlicher Jogger fand sie schlafend in einem Park, die Polizei brachte sie zurück. Anna konnte sich auch an die Flucht nicht erinnern. Carmen besann sich, dass Annas Zustand schon im Mai bedenklich gewesen war. Sie ging mit ihr zum psychologischen Notdienst, dann zur Gynäkologie. Anna war vergewaltigt worden. Allen Hinweisen nach von ihrem Vater.“
Jan wäre am liebsten weggerannt, zurückgerannt in die Vergangenheit, um Anna vor diesem Schicksal zu bewahren. Er sah Farid hilflos an und der nickte traurig. „Im Laufe des Tages zeigte sich auch, dass Annas psychische Störung mit dem Tod ihres Vaters außer Kontrolle geraten war. Ihre Mutter brachte sie in eine geschlossene Anstalt. Dort blieb sie zwei Jahre. Dann konnten die beiden in eine betreute Wohneinheit zusammenziehen. Anna stabilisierte sich, das Verhältnis zu ihrer Mutter besserte sich, und nach einem knappen Jahr wechselten sie in eine normale Wohnung. Das Haus hatte Carmen mittlerweile verkauft, sie wollte damit nichts mehr zu tun haben. Anna besuchte eine Sonderschule und wurde zusätzlich ambulant therapiert. Mit fünfzehn wechselte sie aufs Gymnasium. Sie holte schulisch schnell auf, hatte jedoch Schwierigkeiten in der Klasse und litt an ihrem Stigma als Verrückte. Deshalb beschloss man, dass ein Neuanfang in einer anderen Stadt wichtiger war als die Beziehung zu den vertrauten Therapeuten.“
Jan sah den Klassenlehrer vor sich, der mitten im zehnten Schuljahr ein schönes, verschlossenes Mädchen vorgestellt und alle aufgefordert hatte, auf sie zuzugehen. Er meinte, sich sogar an ihren Blick zu erinnern: wie aus einer Schießscharte. Natürlich hatte er sich nicht getraut, sie anzusprechen, und die Mutigeren hatten sich schnell eine Zurückweisung eingehandelt. Und so war sie gut zwei Jahre lang allen fremd geblieben, bewundert, beneidet und begehrt.
„Ich habe nichts davon geahnt“, sagte Jan stockend. „In der Schule ... sie war abweisend, aber ...“
„Den Berichten nach hatte sie in dieser Zeit nur leichte Symptome und mit ziemlicher Sicherheit keinen Zugang zu ihren Teil-Identitäten. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie gesund war.“ Farid legte die Stirn in Falten. „Ich muss etwas weiter ausholen, um dir das zu erklären. Wenn Kinder einer extremen Belastung ausgesetzt sind, oder sagen wir deutlicher: wenn sie missbraucht werden, erleben sie Schmerz, Angst, Scham und völlige Hilflosigkeit. Dem können sie sich teilweise entziehen, indem sie depersonalisieren, das heißt, sie trennen sich von ihrer Selbstwahrnehmung und ihren Gefühlen und beobachten sich aus der Distanz. Das kann so weit gehen, dass die Opfer von der Zimmerdecke aus zusehen, wie ihr Körper gequält wird. Und nach dem Trauma errichten sie eine amnestische Barriere, sie erinnern sich nicht an das Schreckliche, das ihnen widerfahren ist. Das ermöglicht ihnen auch, eine positive Beziehung zu den Eltern aufrechtzuerhalten, in der Regel zum missbrauchenden Vater und zur hinnehmenden Mutter. Kinder erleben sich existenziell und affektiv abhängig, sie wollen den Glauben an die Eltern um jeden Preis bewahren. Dabei gehen sie oft so weit, sich selbst die Schuld am Missbrauch zuzuschreiben, sie glauben an ihre eigene Schlechtigkeit, dass sie nichts anderes verdienen, oder was immer ihnen die Eltern eingeben.“
Jan spürte die Wut, die in Farid brannte. Wie vielen Opfern mochte er zugehört haben? Farid öffnete die Hände, mit denen er die Lehnen des Korbstuhls umschlossen hatte, und sagte: „Ich möchte auf zwei Dinge hinaus. Zum einen, dass diese Erfahrungen so schrecklich sind, dass das kindliche Gehirn sie nicht normal verarbeiten kann. Es werden daraus keine rational erfassten, in einem größeren Kontext verorteten Erinnerungen, sondern es bleiben Fragmente, die jederzeit ins Bewusstsein gespült und als gegenwärtig wahr empfunden werden können. Zum anderen wollte ich dir erklären, wie sogenannte Täterintrojekte entstehen. Das sind Teil-Identitäten, die sich mit dem Täter identifizieren, weil die Kinder seine Autorität akzeptieren und die Elternbeziehung erhalten wollen. Solche Teil-Identitäten können die Opfer quälen und bestrafen, wenn sie längst keinen Kontakt mehr mit dem Täter haben. Sie sind der verlängerte Arm des Täters, der in das Opfer selbst hineinreicht. Erwachsene Frauen, die sich ins eigene Fleisch schneiden, sind keine Seltenheit.“
Farid, der sonst immer einen dezenten Augenkontakt hielt, hatte seinen Blick nun an Jan vorbei zur Wand gerichtet. Er schwieg einige Sekunden und sagte mit weicherer Stimme: „Anna war also gewiss nicht gesund. Sie trug unbewältigte Erfahrungsfragmente in sich und bösartige Täterintrojekte. Sie hatte einen problematischen Bewältigungsstil entwickelt: sozialer Rückzug und exzessive Disziplin. Und sie hatte die gefährliche Technik des Dissoziierens erlernt.“
„Und dann kam Alaska und hat sie aus der Bahn geworfen!“
„Einiges spricht dafür, dass es so gewesen ist. Aber darüber weiß ich sehr wenig.“
„Woher weißt du überhaupt all das über Anna?“
„Ja, eigenartig, heute Mittag kannte ich noch nicht einmal ihren Namen. Und als sie bei uns eintraf, war aus ihr nichts herauszubekommen. Zum Glück hatte ihre Mutter alle Krankenunterlagen parat, die sie über die Jahre gesammelt hatte, und sie hat sie mir sofort zustellen lassen. Der Eilbote brachte mir die Akte gegen 21 Uhr, ich habe sie studiert und über Anna nachgedacht, bis du geklingelt hast. Ich war so in Gedanken, dass ich eine Weile gebraucht habe, um dir die Tür zu öffnen.“
Jan erinnerte sich an die Assoziation, die Annas Stimme in ihm hervorgerufen hatte, als sie am Telefon von Farid sprach: etwas Grauenhaftes, das aus den Tiefen des Nordmeeres auftauchte. Die Begegnung mit Farid in der Psychiatrie musste sie in ihre Vergangenheit zurückversetzt haben, und Jan hatte einen Hauch dieses Grauens gespürt.
Ihre Erkrankung erklärte die Verschwörungstheorie, in die sie reale Informationsstücke geschickt eingebaut hatte. Und zusammengenommen hatten diese überzeugend gewirkt. Zum Beispiel die Täterbeschreibung, die ein Kletterer der Polizei schon vor einem Jahr gegeben haben wollte. Das sagte nüchtern betrachtet sehr wenig. Die Polizei musste mit Hinweisen überschwemmt worden sein. Oder der Kletterer hatte die Story nachträglich erfunden, um sich wichtig zu machen. Solche Spinner gab es überall.
Damit nicht erneut ein Zweifel aufkommen könnte, fragte Jan: „Woher weißt du das alles auswendig, wenn du es nur auf die Schnelle gelesen hast?“
„Ich kann mir Dinge gut merken. Und sie leider schlecht vergessen.“
„Hat dir die Polizei gesagt, dass Anna dich beschuldigt, mit dem Kommissar unter einer Decke zu stecken? Sie glaubt an eine große Verschwörung, die mit unseren Erlebnissen in Alaska zusammenhängt.“
Farid nickte bedächtig. „Das ist plausibel. DIS-Patienten leben in einer fragmentierten Realität: Ständig werden sie in eine neue Identität katapultiert. Um eine kohärente Erklärung für die seltsamen Vorgänge um sie herum zu konstruieren, also um sozusagen die Löcher zu stopfen, werden sie zu Meistern der Erfindung. Dabei können sie erstaunlich überzeugend sein. Und ich verstehe auch Annas Wut auf mich. Sie hat mich heute als einen Mann erlebt, in dessen Gefangenschaft sie sich befand. Jemand, der behauptete, sich um sie zu sorgen, und sie zugleich bedrängte, wenn auch nur mit Fragen. Und auch ohne die Gedankenverbindung zu ihrem Vater erinnere ich sie an ihren Leidensweg in der Psychiatrie, der gerade von neuem beginnt. Also macht sie aus mir einen Verschwörer.“ Er senkte seine Stimme und hatte offensichtlich geendet, da fiel ihm noch etwas ein: „Eine Verschwörung – das ist kein Zufall. Dass ihre Mutter sie ihrem Vater überlassen hat, muss Anna damals so wahrgenommen haben. Eine Verschwörung derjenigen, die auf sie aufpassen sollten.“
„Ich frage mich, ob Annas Krankheit ...“
„DIS, Dissoziative Identitätsstörung“, kam Farid ihm zur Hilfe.
„Ob ihre DIS schon im Tal wieder akut geworden ist. Ein Klassenkamerad, Gregor, ist über sie hergefallen. Das erste Mal in einer Vorratskammer, da kam ich dazwischen. Beim zweiten Mal hat er sie beinahe verbrannt. Ist das nicht eigenartig? Ihr Vater ist verbrannt, und dann beinahe sie.“
„Ja, das ist bemerkenswert.“
„Aber Gregor wusste nichts von ihrer Vergangenheit! Wie konnte er auf die Idee kommen, sie anzuzünden?“
„Anna muss sie ihm gegeben haben.“
Jan dachte nach. „Ja, Gregor hat sie gewissermaßen imitiert. Sie hat ihn mit einer Kerzenflamme gefoltert, er wollte sie daraufhin mit einer Kerze in Brand stecken. Ich denke, dass der Vergewaltigungsversuch in der Vorratskammer ausgereicht hat, um ihre DIS zu reaktivieren. Dadurch war sie überhaupt erst in der Lage, Gregor zu foltern.“
In jener Nacht mussten ihre alten Identitäten aus den Gräbern gestiegen sein. Ein Terror und auch eine Entlastung, wie der erste Schluck eines Alkoholikers, der die Abstinenz aufgibt: sich zurücktreiben lassen in eine vertraute Welt. Hatte Anna dagegen angekämpft oder sich dankbar ergeben? Sie hatte gekämpft! Die letzten Wochen hatte er ihrem Kampf beigewohnt. Das Entsetzen über den Rückfall hatte ihr Kraft verliehen und sie hatte es über sich gebracht, sich den Menschen zu öffnen. Doch nun hatte sie verloren.
„Sie hatte anscheinend erneut“, Tränen traten Jan in die Augen, er blinzelte sie weg, „einen epileptischen Anfall, und hat dagegen Medikamente genommen. Aber die waren abgelaufen. Kann das die psychische Krise ausgelöst haben?“
„Antiepileptika? Sie hatte sicher keinen derartigen Anfall.“
Jan musste an die Lüge denken, dass ihr Vater bei einem epileptischen Anfall vom Fahrrad gefallen und tödlich verunglückt war. Hieß das, dass sie selbst auch nie an Epilepsie gelitten hatte?
Farids Korbstuhl knirschte. „Sie hatte nach dem Tod ihres Vaters einige psychogene Anfälle, die den epileptischen stark ähneln. In ihrer Erinnerung hat sie aus ihrer DIS und den Jahren in psychiatrischer Behandlung eine Epilepsie gemacht. Das war besser verträglich.“
„Im Tal hat Anna mir erzählt, dass sie ihren ersten epileptischen Anfall nach einer Geburtstagsfeier gehabt habe, an der ihre Mutter einen Clown engagiert hatte.“
„Passt das nicht zu ihrem Vater? Er war in gewisser Weise Carmens Clown, der auf Befehl die Tochter unterhielt. Und sie hat sich wirklich mit ihm amüsiert. Anfangs. Vielleicht hat er sie gekitzelt, ehe er begonnen hat, sie zu betatschen. Es ist ein gutes Bild.“
„Und ihr Vater ist daran umgekommen: an ihrer Epilepsie – an ihrer Störung. Sie hat ihn also wirklich angezündet.“
„Sie hat sich nie daran erinnert. Oder zumindest hat sie nie davon gesprochen. Niemand weiß mit letzter Gewissheit, dass sie es getan hat. Und erst recht nicht, wie – sie war damals erst elf.“
„Keine Epilepsie ...“, sagte Jan ungläubig. „Aber wieso hatte sie dann diese Tabletten? Luminal.“
„Luminal? Eine Überdosis davon ist tödlich.“
Jan erschrak. „Die Packung war leer. Vielleicht hat sie die Tabletten herausgenommen und irgendwo versteckt.“
„Wie hast du die Packung gefunden?“
„Sie lag offen im Bad rum.“
„Wenn sie eine tödliche Dosis Tabletten als heimlichen Vorrat anlegen will, hättest du die Packung dann gefunden?“
„Nein, die hätte sie in irgendeinen Mülleimer auf der Straße gestopft.“
„Das heißt: Die Packung sollte eine Botschaft vermitteln. Wahrscheinlich hat sie sich die leere Packung schon vor Jahren zugelegt, um ihre Epilepsie-Geschichte auszustaffieren.“
„Aber was wollte sie mir jetzt damit sagen?“
„Eine leere Packung Luminal ...“ Farids Blick wurde unscharf, er senkte die Lider. „Das könnte eine Suiziddrohung gewesen sein. Hast du das eben nicht so ausgelegt? Aber sie konnte nicht annehmen, dass du das auf diese Weise interpretieren würdest. Du hättest zwar selbst hinter die Tödlichkeit einer Überdosis kommen können, es lag allerdings nicht auf der Hand. Was hätte sie dir sonst damit sagen können?“
„Keine Ahnung, eigentlich haben wir über alles gesprochen. Die Tabuzone war vor allem ... ob wir miteinander schlafen. Sie hat sich im Wohnzimmer die Couch eingerichtet. Ich habe ihr natürlich das Schlafzimmerbett angeboten, aber sie bevorzugte es andersherum. In der Nacht, bevor sie Rainer vom Schwebebett gestoßen hat, haben wir darüber gesprochen. Und sie schien sich gerade dazu durchgerungen zu haben, mit mir zu schlafen, als das alles passiert ist.“
„Und an diesem Tag hat sie dich eine leere Packung Luminal finden lassen. Wahrscheinlich wollte sie dir damit sagen, dass du keinen Druck auf sie ausüben solltest, weil sie das in einen Anfall treiben könnte. Oder, dass du ihr Angebot nicht annehmen sollst. Eine ihrer Identitäten war damit nicht einverstanden, dass sie mit dir schläft, und wollte es verhindern.“ Farids Blick verdüsterte sich zusehends.
„Was ist?“
„Gleich, ich muss das erst noch ...“ Farids Worte wurden leiser und seine Augen schlossen sich. Auf seiner Stirn vertieften sich zwei senkrechte Falten. Endlich öffnete er die Augen, die Stirn glättete sich. Aus seinem Blick ließ sich nichts ablesen. „Wie würdest du ihr Verhältnis zu gleichaltrigen Männern beschreiben?“
„Sie wusste, dass sie hinreißend war. Sie hat so getan, als wäre ihr das gleichgültig. In Wirklichkeit, glaube ich jetzt, hat sie damit gespielt. Eine Tänzerin aus ihrer Schule hat mir erzählt, dass Rainer scharf auf sie war und sie ihn angespitzt hat. Das könnte typisch für sie sein: dass sie Männer zugleich anzieht und zurückstößt. Aber nicht wie manche Frauen, die das zum Vergnügen tun. Es war mehr ...“
„Eine Zwangshandlung? Ein psychischer Ausgleichsmechanismus?“
„Ja, so etwas in der Richtung.“
„Ich werde dir jetzt eine eigenartige Frage stellen. Hat sie Gregors Vergewaltigungsversuche im Tal herausgefordert?“
„Nein! Sie konnte ihn nicht leiden und hat mit ihm fast nicht gesprochen. Und wenn, dann haben sie sich gestritten.“
„Sie hat sich nicht für ihn in Pose geworfen?“
„Nein.“
„Und –“
„Warte! Sie hat Michael in dieser Zwischenposition gehalten, in der er weder von ihr weg noch an sie ran kam. Er hat sich im Tal darüber beklagt, dass sie das schon seit längerem mit ihm macht und er deswegen sogar seine Freundin verlassen hat. Und Michael hat eine tragische Rolle darin gespielt, dass alles so außer Kontrolle geraten ist. Er hat Gregor ganz subtil gewähren lassen, weil er sich Hoffnung machte, so selbst an Anna ranzukommen.“ Jan hatte das Gefühl, auf einem Weg abwärts zu laufen und nicht mehr anhalten zu können. „Und mit Gregor ... Sie hat ihm nie schöne Augen gemacht oder so, aber dass sie sich so isoliert und mit allen zerstritten hat, ich meine, wenn sie einen Schritt auf die anderen zugemacht hätte, dann hätte Gregor sie nicht so wie Freiwild behandeln können. Und ich habe mich auch gefragt, warum sie überhaupt mitgekommen ist. Ich glaube, es war allen klar, dass es bei der Reise auch um Sex ging. Michael und Gregor haben das untereinander ganz offen zugegeben und bei Laura war das selbstverständlich, sie hat ja auch gleich damit losgelegt, und Jenny hat es insgeheim wohl auch gehofft, so wie ich. Anna war nicht als Einzige so naiv, dass sie nichts geahnt hat.“
Farid wartete, bis Jan Atem geschöpft hatte, und sagte: „Ich werde dir meine Hypothese darlegen. Sie wird dir nicht gefallen, mir gefällt sie auch nicht. Im Kern lautet sie: Anna hat Vergewaltigungsversuche provoziert. Dem muss ich gleich zwei Anmerkungen hinterherschicken. Erstens ist es ein widerwärtiges Klischee von Männern, dass Frauen ‚es so gewollt haben‘. Meine Hypothese hat damit nichts gemein. Zweitens will auch Anna ganz sicher nicht vergewaltigt werden. Ganz im Gegenteil, die Furcht vor sexueller Gewalt beherrscht ihr Unbewusstes. Deswegen sprach ich von Vergewaltigungsversuchen. Indem sie diese zurückschlägt, beweist sie sich, dass sie kein wehrloses Mädchen mehr ist.“
„Und deswegen“, Jan rang um Luft, „hat sie auch Rainer hinabgestoßen?“
Farid nickte. „Sie wollte sich vermutlich ihre Kontrollfähigkeit beweisen, indem sie einen zudringlichen Mann drastisch abwehrte – bevor sie sich dir hingeben würde.“
Es war wie ein Schlag. Sie hatte es für ihn getan! Er stützte sich benommen auf dem Schreibtisch ab. Wie sie in dem schwarzen Kleid auf ihn zugekommen war, um ihn zu verführen – dafür hatte Rainer den Preis bezahlt. Sie war sich dessen nicht bewusst, aber sie hatte jene Identitäten, die sie vom Sex abhalten wollten, ruhiggestellt.
Jan erhob sich. „Ich muss auf Toilette.“
„Du weißt ja, wo sie ist.“
Er öffnete die Tür und machte Licht an, der Gang lag leer da. Er ging an Farids Schlafzimmer vorbei zur angelehnten Muscheltür, drückte sie auf, knipste das Licht im Bad an und zog den Duschvorhang zur Seite – er war wirklich allein.
Im Spiegel begutachtete er den blauen Fleck an seinem Hals, den ihm Annas Schlag in der Küche beigebracht hatte. An der abgeschürften Stelle hatte sich eine dünne Kruste gebildet. Er ließ kaltes Wasser laufen und schöpfte sich mehrere Handvoll ins Gesicht.
Auf dem Rückweg beeilte er sich, ein wenig wie ein Kind, das aus einem bedrohlichen Keller zurück in die belebte Stube läuft. Er riss die Tür auf. Farid stand am Fenster und zuckte zusammen.
„Entschuldigung.“
Farid lächelte. „Heute Abend sollten wir uns keinen Gruselfilm mehr ansehen.“
Jan schloss die Tür. „Wird Anna ins Gefängnis kommen?“
„Nein, sie ist nicht schuldfähig. Aber der Richter wird eine Sicherheitsverwahrung anordnen.“
„Für wie lange?“
„So lange, wie sie gefährlich für sich und andere ist. Und möglicherweise wird sie danach weiterhin in stationärer Behandlung bleiben. Ihre Störung geht sehr tief. DIS ist die Extremform der Dissoziation. Jüngere Kinder entwickeln diese Fähigkeit eher als ein größeres Mädchen wie Anna, die zum Zeitpunkt des Missbrauchs elf Jahre alt war. Vielleicht hat sich ihr Vater schon an ihr vergangen, bevor Carmen ihn Ende 1999 rausgeworfen hat.“
Jan wollte diesem Gedanken nicht folgen und fragte rasch: „Wie lange dauert die Therapie?“
„Ich fürchte ...“ Farid setzte neu an. „Der Behandlungserfolg ist sehr individuell. Möglicherweise ist sie in einem Jahr wieder draußen.“
„Und kann sie dann ein normales Leben führen?“
„Grundsätzlich ja. Die erste Behandlung war ausgesprochen fundiert und hat ihr Trauma doch nicht hinreichend aufarbeiten können. Nun ist sie älter, die kognitiven Fähigkeiten sind weiter entwickelt. Oft lassen sich solche Traumata erst im Erwachsenenalter richtig angehen, wenn die oberflächlich verheilte Wunde aufbricht. Grundsätzlich bestehen daher jetzt bessere Heilungsaussichten, auch wenn Narben zurückbleiben werden.“
Jan dachte, dass er sich schon immer älter empfunden hatte, als er war. Erst recht nach den Erfahrungen in Alaska. Trotzdem fühlte er sich dem nicht gewachsen, was ihm bevorstand.
„Sollen wir nochmal versuchen zu schlafen?“, fragte Farid.
„Ja.“ Jan atmete tief aus. „Der Missbrauch von Kindern ist so furchtbar, dass man sich das gar nicht vorstellen kann.“
„Damit bist du nicht allein.“ Farid stand auf und stellte sich ans Fenster. „Freud hatte zu Beginn seiner Arbeit eine Verführungstheorie aufgestellt, um die Hysterie seiner Patientinnen zu erklären. Ehrlicher wäre es gewesen, von einer Vergewaltigungstheorie zu sprechen. Aber selbst unter geschöntem Namen war die Überlegung, dass Väter ihre Töchter sexuell missbrauchen und damit lebenslang schädigen, gesellschaftlich nicht hinnehmbar. Zumal die hohe Zahl der hysterischen Frauen auf ein damals unvorstellbares Maß an Missbrauch hingewiesen hätte. Wenn man zudem bedenkt, dass Freuds Patientinnen häufig die Töchter seiner Freunde und Bekannten waren, überrascht es nicht, dass er seine Theorie revidierte. Die Patientinnen litten nun am verdrängten ödipalen Wunsch, mit dem Vater zu schlafen – dem der Vater natürlich nie stattgegeben hat.“
„Und damit gingen die Väter straflos aus.“
„Nicht bei Anna.“