2. Kapitel

Lustlos blätterte Jan in einem Magazin. Anna war nach dem späten Frühstück in die Ballettschule gegangen, obwohl sie samstags keinen Unterricht hatte. Nur die Sonntage nahm sie sich frei. Er akzeptierte das, zumal er wusste, wie wichtig der Ehrgeiz und die harte Arbeit für sie waren, um sich von der Last aus Alaska zu befreien. In einigen Wochen oder Monaten würde er wieder mehr Antrieb verspüren und sie mehr loslassen können.

Und dann würde sie auch nicht länger die Nächte auf der Couch verbringen. Er hatte ihr das Bett angeboten, aber sie bestand darauf, dass er dort schlief, schließlich war sie diejenige, die es nicht mit ihm teilen wollte. Die Couch war insofern ein schwieriger Ort für ihn. Wenn er hier saß, stellte er sich manchmal vor, wie Anna einige Stunden zuvor nackt unter einer Decke gelegen hatte und er nur hätte zu ihr schlüpfen zu brauchen.

Selbstverständlich hatte Anna recht: Sie sollten warten, bis sie bereit dafür waren und es genießen konnten. Er wollte am Morgen danach in den Tag hinein fliegen! So, wie es ihm gegenwärtig ging, könnte er sich selbst nach ihrer ersten Nacht mies fühlen und das wäre scheußlich.

Hätte sie gestern tatsächlich mit ihm geschlafen, wenn er ihr versichert hätte, dass ihn das gewissermaßen erlösen würde? Zum Glück hatte er verneint. Allerdings, wenn er ehrlich war, hatte er das Nein so formuliert, dass sie es auch als unterschwelliges Ja deuten konnte: als habe er aus Anstand oder Rücksicht die Wahrheit verheimlicht. Dafür schämte er sich nun. Er würde ihr heute Abend unzweideutig sagen, wie glücklich er war, mit ihr zusammen zu sein, und dass alles andere warten konnte.

Ohnehin trennte sie weniger und weniger vom Sex. In den ersten Wochen hatte sie immer die Kontrolle behalten und sich beim Küssen rasch befreit, wenn es ihr zu innig wurde. Mittlerweile ließ sie es zu, dass er sich auf der Couch über sie beugte und an sie presste, und am vergangenen Wochenende hatte er sie durch die Kleidung hindurch so liebkost, dass sie beide kaum an sich halten konnten. Vielleicht hatte sie wirklich noch keine Erfahrung mit Männern und brauchte auch deswegen Zeit.

Er legte das Magazin zur Seite, suchte im Stapel am Boden nach anderer Lektüre und zog einen gehefteten Computer-Ausdruck hervor, an die hundert Seiten dick, übertitelt mit ‚Area 51 und die geheimen Waffenprogramme der US Air Force‘. Er schlug die Titelseite um und begann zu lesen. Es handelte sich um einen Bericht über ein Testgebiet namens Area 51 in Nevada, auf dem die Amerikaner über Jahrzehnte hin Aufklärungsflugzeuge, Stealth-Bomber und Dronen erprobt hatten. Russische und chinesische Flugzeuge waren dort während des Kalten Krieges auseinandergenommen worden – und UFOs laut den Verschwörungstheoretikern. 2013 hatten die USA erstmals die Existenz dieser Anlage anerkannt. Na und? Jedes Land, das es sich leisten konnte, baute Waffen, was unvermeidlich der Geheimhaltung unterlag, und ebenso unvermeidlich spionierten sich die Länder gegenseitig aus. Was kümmerte sich Anna darum? Sie hatten selbst genug Probleme. Und es passte nicht recht zu ihr, genauso wenig wie ihre Bücher über die CIA und die NSA.

Ungehalten stopfte er den Ausdruck zurück in den Stapel und richtete sich mit Laptop und einigen Büchern am Tisch ein. Tatsächlich gelang es ihm, sich auf die Seminararbeit über Poetik einzulassen.

Das Telefon klingelte. Er versuchte, sich den Gedanken zur Arbeit zu merken, stand auf und nahm ab. „Jan Reber, hallo?“

„Hi, hier Chris. Wie geht’s?“

„Unausgeschlafen, und ein bisschen der Party-Blues. Nach so einem tollen Abend ist der nächste Tag bei mir eher mau. Und bei dir?“

„Ich hab bis mittags gepennt. Tat mir echt leid, euch mit dem ganzen Chaos sitzen zu lassen.“

„Das war weniger, als es aussah. Wir haben schon wieder alles auf Vordermann gebracht.“

„Ihr oder du? So früh, wie Anna mit dem Training angefangen hat, kann sie heute Morgen nicht viel aufgeräumt haben.“

„Wir haben eine Nachtaktion eingelegt, als ihr weg wart.“

„Und?“

„Wie und?“

„Ich meine, ihr seid zufrieden mit der Party? Alles paletti bei euch?“

„Klar.“

„Und wie hat es Anna gefallen?“

„Hast du nicht mit ihr zu Mittag gegessen?“

„Doch, doch. Wir haben uns bloß nicht darüber unterhalten. Egal. Was machst du denn gerade?“

„Ich sauge mir etwas zu Enjambements aus den Fingern.“

„Das klingt nach einer Ballettfigur, bei uns ist auch alles auf Französisch. Hast du das Tanzen angefangen?“ Sie lachte. Zum ersten Mal während des Gesprächs, fiel Jan auf, und nicht so überschwänglich wie üblich.

„Ich kann mir auf einem Bein die Schuhe anziehen, mehr ist bei mir nicht drin. Enjambements hat damit zu tun, ob im Gedicht eine Sinneinheit mit einem Vers endet oder darüber hinausreicht. Was gibt’s bei dir Neues?“

„Seit gestern? Nicht viel. Oder doch, immerhin: Wir planen eine gemeinsame Aufführung mit dem Fachbereich Artistik, und der Höhepunkt soll eine Pärcheneinlage auf einem fliegenden Bett werden. Das ist heute in der Tanzhalle aufgehängt worden.“

„Ein fliegendes Bett, nicht schlecht.“

„Du wirst es ja sehen. Krass hoch. Da würde ich gerne die weibliche Hauptrolle übernehmen und endlich mal wieder etwas in einem Bett erleben.“ Sie fand ansatzweise zu ihrer charakteristischen Lebhaftigkeit und jammerte: „Das ist natürlich den Artistik-Schülern vorbehalten. Wobei ich mir überlege, ob ich nicht wechseln sollte, die Artisten sind einfach lockerer als die steifen Ballerinen. Und im Schnitt wesentlich männlicher.“

„Das könnte dir mehr liegen. Vom Typ her.“

„Männer?“

„Artistik.“

„Ja, eine Primaballerina wie Anna wird aus mir bestimmt nicht. Sie ist aber auch gnadenlos, dass sie samstags trainiert, obwohl es ihr nicht so doll geht.“

„Wieso soll es ihr nicht so doll gehen?“, fragte Jan irritiert.

„Was? Ach so, sie hat beim Mittagessen fast alles stehen lassen und wirkte nicht so fit.“

„Vielleicht ein Hangover.“

„Möglich. Dabei hatte ich nicht das Gefühl, dass sie zu viel getrunken hatte, als ich gestern abgezogen bin. Du?“

„Richtig betrunken sicher nicht.“

„Und dir ist heute Morgen nichts aufgefallen?“

„Das Einzige, was mir auffällt, ist, dass du mich über Anna aushorchst. Was ist los?“

Eine kurze Pause entstand. „Nichts, ich hatte nur den Eindruck, dass sie heute nicht so fit war. Kein Wunder, nach der Party.“

„Und deswegen rufst du an?“

Wieder eine Pause. „Es war halt komisch, aber ich will daraus keine Geschichte machen.“

„Jetzt erzähl mir endlich genau, was los war.“

„Ja, also, das Mittagessen war echt seltsam. Manchmal hat sie mich nicht gehört. Ich habe irgendwas gesagt und sie hat einfach nicht reagiert. Oder sie hat eine Frage beantwortet, über die wir schon gesprochen hatten, aber so, als hätte ich sie eben erst gestellt. Was zwischendrin gesagt worden ist, war ausgelöscht. Am Anfang dachte ich, dass wir heute total aneinander vorbeiquatschen, und dann, dass sie mich aufzieht. Aber das ging zwanzig Minuten lang so, und sie wirkte dabei ziemlich gestresst, nicht wie jemand, der einen Scherz macht.“

Jan versuchte zu verarbeiten, was er gerade gehört hatte. „So was habe ich bei ihr noch nie erlebt. Wo ist sie jetzt?“

„Zurück beim Training. Sie hat es sich nicht ausreden lassen.“

„Ich werde gleich kommen und nach ihr schauen.“

„Ich weiß nicht. Ich habe ihr ein bisschen zugeguckt, und sie tanzt top. Irgendwas ist ihr beim Mittagessen durch den Kopf gegangen und hat sie mega abgelenkt, aber beim Tanzen hat sie alles unter Kontrolle. Vielleicht ist es das Beste, sie in Ruhe zu lassen.“

Jan dachte an Carmen. Anna nervten die häufigen Anrufe und bohrenden Fragen ihrer Mutter. Sie hasste es, für hilfsbedürftig gehalten zu werden, und Jan wollte ihr dieses Gefühl nicht vermitteln. Wozu auch? Sie konnte ihn jederzeit anrufen. Und spätestens am Abend konnte er mit ihr über alles sprechen, was sie durcheinanderbrachte.

Er verabschiedete sich von Chris und setzte sich zurück an die Arbeit. Dionysius Halikarnassos hatte den Begriff ‚Zäsur‘ geprägt ... Was hatte das nochmal mit den Enjambements zu tun? Es half nichts, er musste ständig an Anna denken. Setzte ihr Alaska mehr zu, als sie eingestand? Was sonst könnte sie derart mitnehmen? Chris hatte ihm zwar abgeraten, in die Tanzschule zu gehen, aber dennoch angerufen. Sie war also ebenfalls beunruhigt.

Rastlos durchstreifte er die Wohnung, räumte die Geschirrspülmaschine aus, setzte sich mit Michaels Gitarre auf die Couch und spielte Akkorde. Er hatte passable Fortschritte gemacht – kein Wunder, so reichlich Zeit, wie Anna ihm fürs Üben ließ.

Der Tod seines Freundes ging ihm am meisten nach. Jan hatte darüber nachgesonnen, weswegen sich Michael im Tal so seltsam benommen hatte: der Überdruss des Erfolgreichen, dem stets alles in den Schoß gefallen war, die Versessenheit auf Anna, die er nicht für sich gewinnen konnte, und dann die grausame Dynamik aus Machtkampf, Sex, Gewalt und Angst, und noch mehr Angst, als der Mörder um ihr Haus schlich und sie verfolgte – all das waren nur Erklärungsansätze. Was wirklich im Kopf eines anderen vorging, ließ sich nie nachvollziehen. Selbst das eigene Innenleben blieb oft rätselhaft.

Was feststand, war, dass Michael am Ende die Zähne zusammengebissen und sich mit übermenschlicher Willenskraft bis in die Schlucht gequält hatte. Und dass sie ohne Michaels Opferbereitschaft nicht davongekommen wären. Jan versuchte, Michaels letztes Gitarrenspiel vor der Flucht aus dem Haus zu imitieren, aber er war längst nicht so gut, er konnte die Seiten nicht so nervenaufreibend klar zum Klingen bringen. Eines Tages würde er dieses Spiel nicht mehr in sich hören, und so sehr er sich wünschte, Alaska zu vergessen, fürchtete er doch, dass auch Michael seinem Gedächtnis entgleiten und zu einem Schatten zurücksinken würde. Wenn Jan neue Leute an der Uni kennenlernte, fühlte sich das immer ein ganz klein wenig wie Verrat an dem toten Freund an.

Nach einer Weile schmerzten seine Fingerkuppen. Er legte die Gitarre beiseite und wischte Staub von den Regalen. In den wenigen Wochen seit ihrem Einzug hatte sich kaum etwas angesammelt, dennoch fuhr er auch über die Fenster- und Türrahmen und die Oberseiten der Schränke. Dann reinigte er die Teekanne in der Küche von innen und entfernte überflüssige Zettel von der Pinnwand. Da ihm keine weiteren häuslichen Tätigkeiten einfielen, aß er ein Käsebrot. Danach holte er die Seminararbeit wieder hervor und zwang sich zum Weiterschreiben, obwohl er morgen mindestens die Hälfte davon löschen würde.

Um 19:00 Uhr klappte er den Laptop zu. Er hatte schon viel zu lange gewartet! Mit jäher Entschlossenheit eilte er die Treppe hinunter und radelte die Greifswalder Straße nach Norden. Kühle Windstöße wirbelten das Herbstlaub auf, das in den letzten Tagen zu fallen begonnen hatte. Die Straßenlaternen brannten bereits, die Autos fuhren mit Licht und die Bäume verloren in der Dämmerung ihre Farben. Er trat fest in die Pedale und erreichte nach wenigen Minuten die Ballettschule: ein weißer Kasten inmitten von Mietskasernen, so wenig künstlerisch, wie ein Ort nur sein konnte.

Er durchquerte eine Grünfläche und betrat den Hauptbau. Lediglich die Gänge waren beleuchtet, die Fenster über den Seitentüren dunkel. Kein Laut war zu hören außer dem Hall seiner Schritte. Er suchte das Erdgeschoss ab. In einem Eckzimmer brannte Licht, doch es schien sich um den Verwaltungstrakt zu handeln. An der Tür hing ein Namensschild mit Doktortitel. Jan stieg in den ersten Stock hinauf. Hier lagen die Türen weiter auseinander, das Linoleum am Boden wellte sich. Eine Tür war angelehnt, der Übungsraum dahinter leer. Jan war es ein wenig unangenehm, so tief in ein Gebäude einzudringen, in dem er eigentlich nichts verloren hatte. Erst recht nicht an einem Samstagabend. Dennoch durchsuchte er auch den verlassenen zweiten und dritten Stock, ehe er sich geschlagen gab.

Als er das Fahrrad aufschloss, kam ihm die Idee, noch in der Tanzhalle nachzusehen. Er schob das Rad um das Hauptgebäude herum und lehnte es an eine der Kastanien, die vor dem schlichten Betonbau wuchsen. Er begnügte sich damit, die Kette durch die Speichen zu schieben, zog den Schlüssel ab und betrat den Vorraum. Vor einer Woche hatte es hier vor Menschen gewimmelt, so viele Familienangehörige und Freunde wollten die erste Aufführung des neuen Jahrgangs sehen. Nun lag alles wie ausgestorben da. Er durchquerte den Vorraum, nahm die Stufen, die hinauf zur kleinen Zuschauertribüne führten, und öffnete die Tür zur Halle.

Zuerst sah er im Licht eines einzelnen Scheinwerfers das Bett, das wie in einem Traum unter der Decke schwebte, dann Anna, auf den Spitzen, die erhobenen Arme leicht gewölbt, den Kopf zur Seite gedreht. Ihre weiße Gestalt spiegelte sich auf dem dunkelgrauen, glänzenden Boden. Sie war nicht allein. Starke Arme umschlangen sie an der Taille. Lüstern, nicht tänzerisch. Plötzlich tauchte Rainers Gesicht auf, ganz nah an ihrem, er schien sie zu küssen. Jan unterdrückte einen Schrei und wandte sich ab, eilte einige Stufen hinunter, blieb stehen, unschlüssig, ob er richtig gesehen hatte, aber es gab kein Leugnen.

Mit dem Dreckskerl, den sie angeblich nicht leiden konnte, den sie gezwungenermaßen auf die Geburtstagsparty eingeladen hatte, ausgerechnet mit dem! Sie hatte Jans Misstrauen gespürt und zerstreuen wollen und war deswegen über Rainer hergezogen und nun küssten sie sich in der Ballettschule, wenn alle anderen längst gegangen waren, und vielleicht nahm er sie mit in sein Zimmer im Wohnheim auf der anderen Seite des Geländes.

Alles war verloren. Jan stürzte ins Freie, warf fast das Fahrrad um, während er das Schloss aus den Speichen zerrte, und stieg auf den Sattel. Sie konnte ihn unmöglich noch lieben, falls sie ihn je geliebt hatte. Alles war aus und vorbei. Es ging nur noch darum, die Trennung zu vollziehen. Er würde ihr die Wohnung lassen, er könnte es ohnehin nicht mehr darin aushalten.

Nein! Er würde ihr die Wohnung nicht geben! Sie betrog ihn mit einem anderen, er würde ihnen nicht auch noch ein Liebesnest schenken. Sollte er in die Tanzhalle stürmen, die beiden zur Rede stellen? Er musste erst einen klaren Kopf bekommen, sich bewegen, bis er die Vorstellung ertragen konnte, Anna entgegenzutreten. Oder noch besser: erst mit jemandem sprechen – mit Chris, die sich zwar mit Anna angefreundet hatte, aber indirekt auch mit ihm, und die er für zu anständig hielt, um ihm ins Gesicht zu lügen. Was immer ihr aufgefallen war, er würde es aus ihr herausbekommen.

Er radelte über den begrünten Hof zum Block, in dem die Ballettschüler untergebracht waren, stellte sein Fahrrad ab und ging hinein. Olga kam ihm entgegen, noch stärker geschminkt als am Vorabend, mit auffälligem Rouge auf den hohen Wangenknochen.

„Ich suche Chris.“ Seine Stimme klang fremd im kahlen Foyer.

Sie musterte ihn. „Chris?“

„Ja.“

„Dringend?“

Was sollte er sagen? Was sollte die Frage? Am liebsten hätte er sie geschüttelt. „Es geht. Wo ist sie?“

„Wird Anna da nicht eifersüchtig?“

„Wohl kaum“, antwortete er sarkastisch.

Sie nickte, als habe sie das erwartet. „Eine Ballettschule ist kein Kloster.“

„Wo ist Chris?“

„In der Küche.“ Olga blickte lasziv unter den geschwärzten Lidern hervor. „Meld‘ dich bei mir, ich muss jetzt zu meinem Date.“

Er ließ sie stehen und lief in den Flur, auf den sie gedeutet hatte.

In der Gemeinschaftsküche saßen fünf Mädchen und ein Junge, der Nudeln aus einem großen Topf zusammenkratzte.

„Hallo Jan!“, rief Chris mit vollem Mund. Sie blickte erst erfreut, dann erhob sie sich besorgt und sagte zu dem Jungen: „Du kannst meinen Rest auch noch haben.“

Sie brachte Jan in ihr Zimmer, das aussah, als habe sie beim Einzug ihre Kartons einfach nur ausgeschüttet. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, fragte sie: „Ist ihr was passiert?“

„Nein.“

„Sorry, ich sehe Gespenster. Eben bin ich echt erschrocken, als du reingeplatzt bist. Ihr geht es also gut?“

„Mehr als das.“ Jan war zum Heulen.

„Da stimmt doch was nicht.“ Sie räumte ihren einzigen Stuhl frei und hockte sich auf das Bett. „Schieß los!“

Er blieb stehen, holte mehrmals Atem und würgte schließlich ein Wort hervor: „Rainer!“

„Rainer und Anna?“

Jan nickte heftig.

Ihr Gesicht wurde traurig und nachdenklich. Er hoffte, dass sie ihm versichern würde, dass das völlig unmöglich sei und noch nie jemand so geliebt habe wie Anna ihn. Doch sie schwieg und knabberte auf der Unterlippe. Er fühlte sich wie abgestorben. Nach einer unerträglichen Weile fragte er: „Wusstest du davon?“

„Nein! Auch wenn ich mir ein bisschen Sorgen gemacht habe, das hätte ich nicht gedacht. Ihr seid so ein klasse Paar, und sie hat so von dir geschwärmt.“ Er hing an ihren Worten, sie lächelte wehmütig und fuhr fort: „Wir hatten einige lange Gespräche. Sie hat versucht, mich zu mehr Disziplin zu erziehen, weil ich hier sonst nicht mithalten könnte. Sie hat mich sogar dazu verdonnert, samstags mit ihr zu üben. Echt nett von ihr, wobei ich natürlich nicht lange durchgehalten habe. Ja, und mit der Zeit habe ich den Eindruck bekommen, dass es ihr nicht so prima geht, wie sie immer tut. Das hat sie auch ein bisschen zugegeben und mir gesagt, wie wichtig du für sie bist. Dass sie eigentlich gar nicht so ein umgänglicher Typ ist, aber dass sie das von dir hat.“

„Von mir?“ Für einen Moment vergaß Jan seinen Schmerz vor Verwunderung. „Ich bin alles andere als ein umgänglicher Typ!“

„So meinte sie das auch nicht. Es hatte damit zu tun, dass sie mit dir Vertrauen gefasst hat. Sie hat das nicht im Detail erzählt, nur dass es eine dunkle Phase in ihrem Leben gab und sie daraufhin zugemacht hat, und dann bist du gekommen.“ Chris‘ Blick huschte über Jans Gesicht und im Zimmer umher.

„Warum hat sie dann Rainer –“ Jan versagte die Stimme. Er verschränkte die Arme, als ginge ihn das nichts an. „Du hast gesagt, du hast dir Sorgen gemacht. Was ist dir aufgefallen?“

Jetzt fixierte Chris einen Punkt am Boden. „Zwischen den beiden hat es von Anfang an geknistert. Mehr von seiner Seite, er hat sie immer angeschaut und versucht, mit ihr zusammen die Übungen zu machen und im Unterricht neben ihr zu sitzen. Aber ... sie hat sich darauf eingelassen, sie hat ihn irgendwie unterschwellig angezogen. Du wirst jetzt denken, dass ich mir das einbilde, aber ich hatte den Eindruck, dass Anna sich extra für ihn in Szene gesetzt hat, ganz unauffällig, aber immer wieder so, dass er sie in einem Moment beobachten konnte, in dem sie noch attraktiver rüberkam als sonst.“

Jan nickte gelassen und versuchte, seinen bebenden Kiefer in den Griff zu bekommen. „Das habe ich mir in etwa so gedacht“, sagte er gepresst.

„Willst du noch mehr hören oder reicht das?“

„Erzähl mir alles.“

Sie schaute aus dem Fenster. „Ich habe die beiden nie bei etwas erwischt, einem Kuss oder so. Aber Olga behauptet, dass er in den Tanzraum zurückkehrt, nachdem alle außer Anna gegangen sind. Keine Ahnung, ob da was dran ist. Ich habe mir gedacht, sie üben halt. Sie sucht ja immer Trainingspartner.“ Ihr Blick sprang zu ihm zurück. „Eine Sache habe ich dir noch nicht erzählt.“ Sie stand auf, ging behände zwischen den herumliegenden Schuhen, Zeitschriften und Klamotten hindurch zur Tür und schloss ab. Dann lehnte sie sich neben Jan an die Wand und flüsterte: „Rainer nimmt Speed.“

„Drogen?“

„Pst! Ja.“

„Er ist drogensüchtig?“

„Ich glaube nicht. Er nimmt nur wenig und hat das wohl unter Kontrolle.“

„Bist du sicher? Woher weißt du das?“

Chris schüttelte den Kopf.

„Hat Olga ausgepackt?“

„Jedenfalls passt es zu ihm. Einmal ist er nachts zurück ins Wohnheim gekommen und war krass drauf.“

„Was für eine Scheiße!“

„Kannst du laut sagen. Auch in der Anwesenheit einer Dame.“

Jan grinste schwach, so wenig ihm danach war. Chris und Dame ...

„Hast du es eben erst herausgefunden?“

Sein Grinsen erstarb mit einem Schlag. „Ich habe die beiden in der Tanzhalle überrascht.“

„Was?“

„Sie haben sich umarmt. Und geküsst – vielleicht, das habe ich nicht genau gesehen.“

„An einem Samstagabend geht zwar kein Mensch in die Tanzhalle, aber trotzdem, das ist kein Ort für ein heimliches Tête-à-Tête.“

„Vielleicht wollten sie erwischt werden.“

„Wieso das? Außerdem ist die Tanzhalle dafür wiederum zu abgelegen. Klingt eher, als ob es nicht geplant gewesen wäre. Sie tanzen und auf einmal liegen sie sich in den Armen. Was hast du denn genau gesehen, wenn ich fragen darf?“

Jan schüttelte den Kopf, er wollte sich nicht daran erinnern.

„Bist du dir sicher, dass sie nicht nur getanzt haben? Das kann manchmal ganz schön intim aussehen. Und sich auch so anfühlen.“ Sie machte eine Grimasse und fasste sich mit der flachen Hand an die Innenseite ihrer Schenkel, wo sie wohl gehoben wurde.

Konnte er sich getäuscht haben? Es war so schnell gegangen, und der Schreck hatte alles verwischt. Die Erinnerung war undeutlich, aber die Wahrheit unbestreitbar. „Anna hat gesagt, dass sie Rainer nicht leiden kann. Trotzdem trifft sie sich heimlich mit ihm zum Tanzen. Laut Olga nicht zum ersten Mal.“

„Klingt nicht gut. Du musst mit ihr reden.“

Jan nickte. „Wahrscheinlich ist sie noch nebenan.“

„Aber warte, bis Rainer weg ist.“

„Du hast recht. So friedlich ich sonst bin ...“ Er dachte an seine Rainer-Vermöbel-Fantasien, die er gepflegt hatte, als ihm noch ein vernünftiger Anlass gefehlt hatte. Den hatte er jetzt. Allerdings hatte Rainer weiterhin nichts von ihm zu befürchten, denn dazu fehlte ihm der Mut.

„Frauen stehen gar nicht so auf Rambos. Die verausgaben sich beim Rumproleten, und im Bett sind sie dann Flaschen.“

Er erhob sich. „Ich werde zu Hause auf sie warten.“

„Das ist wahrscheinlich das Gescheiteste.“ Chris öffnete ihm die Tür. Als er ging, klopfte sie ihm auf die Schulter. „Es wird schon wieder werden.“

Er lief den Gang hinunter. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Chris einen Besuch abzustatten. Jetzt war er ruhiger und konnte vernünftig mit Anna reden. Dass sie den Eindruck erweckte, als könne sie Rainer nicht riechen, obwohl sie mit ihm trainierte, war nicht korrekt. Sogar verdächtig. Möglicherweise gab es jedoch eine akzeptable Erklärung. Er verließ das Wohnheim. Die kühle Luft tat gut, er schloss die Augen und atmete tief. Ein Geruch irritierte ihn.

„Du tust mir leid.“

Jan fuhr zusammen und riss die Augen auf. Olga stand an die Wand gelehnt und rauchte. Das Neonlicht warf ihren Schatten überlang auf den brüchigen Asphalt des Vorplatzes.

„Ich habe es nicht über mich gebracht, es dir zu sagen.“

„Wovon sprichst du?“, fragte er heiser.

„Das weißt du.“

„Musst du nicht zu einem Date?“

„Er wird auf mich warten.“ Sie nahm einen Zug, die Zigarettenspitze glühte auf.

„Und warum hast du auf mich gewartet?“

„Um mich um dich zu kümmern.“

Er wollte sie abwimmeln, fragte dann aber: „Hat er dich wegen Anna verlassen?“

„Hat er. Ziemlich riskant.“

„Weil du so nachtragend bist?“

„Wenn ich eine Hexe wäre, hätte er die größte Warze der Welt direkt auf seiner Stirn. So fett, dass nicht mal seine coolen Strähnen sie verdecken könnten.“ Sie kicherte. „Nein, weil er mich schon abserviert hat, als er sie noch gar nicht gevögelt hatte.“

„Sie haben Sex?“ Schwarze Schleier verhüllten Jans Blick.

„Wusstest du das nicht? So aufgeregt, wie du vorhin angerannt gekommen bist – ich dachte, du hättest sie dabei erwischt.“

„Nein.“

„Da hast du Glück gehabt. Sie machen kein großes Geheimnis daraus. Am Anfang habe ich ihm nachspioniert. Jetzt ist es mir egal, wie er es mit ihr treibt.“

Jan fasste mit einer Hand nach der Wand und atmete durch. Sein Blick wurde wieder klar. „Ich gehe lieber.“

„Du lässt die beiden weiterbumsen?“

„Ich will mit ihr reden.“

„Er steckt ihr seinen Schwanz rein und du willst mit ihr reden?“

Jan hatte Mühe zu atmen. „Lass mich!“

„Vielleicht bläst sie ihm gerade einen. Da ist er scharf drauf.“

Jan verlor die Beherrschung und rannte davon, dachte an das Rad, aber es war ihm egal, er wollte nicht zurück, nur weg. Ziellos irrte er umher, einmal hupte ein Auto, ein anderes Mal schrie ihn ein Fußgänger an, sonst verschwamm alles in einem Nebel aus Bewegungen, Lichtern und Geräuschen. Ihr gemeinsames Glück war eine Illusion gewesen, noch im zärtlichsten Augenblick, wenn sie ihn umarmte und küsste, musste Rainer in ihrem Bewusstsein gewesen sein, ja, gerade da! Er sah die beiden nackt in einem Saal voller Spiegel tanzen, sie sprang auf Rainer zu, er packte sie in der Luft und spreizte ihre Beine, küsste ihre Brüste, ließ sie entfliehen und fing sie in einer Ecke erneut ein, presste sie gegen die Stangen vor ihrem vielfachen Spiegelbild und holte sich, was sie Jan verwehrt hatte. So stolperte Jan durch die Stadt und seine überreizten Fantasien. Die letzte Sicherheit, die er nach dem Trauma in Alaska bewahrt hatte, zerbrach.

Als er wieder zu sich kam, stand er auf einem der Hügel im Volkspark Friedrichshain. Er fühlte sich erschöpft, wie nach einer Fiebernacht, und seine Kleidung klebte auf der feuchten Haut. Zwischen den Bäumen schimmerte Berlin, eine Gruppe Jugendlicher lagerte, dem kühlen Oktoberabend zum Trotz, um ein Grillfeuer und hörte Musik. Punks mit pinken und grünen Haarkämmen, nietengespickten Lederjacken und gepiercten Nasen und Lippen.

Eine Weile stand er nur da und weigerte sich zu denken. Er schaute den Punks zu, die mit Stöckchen eine verbrannte Wurst vom Grill ins Gras katapultierten, wo ihr Schäferhund sie fraß. Sein Halsband war ebenfalls mit einer Reihe silbriger Nieten besetzt, das Fell jedoch gepflegt und gestriegelt, dass er in einer Werbung für glückliche Hunde hätte umhertollen können. Er rieb sich mit der Pfote die Schnauze, als wolle er den Ruß entfernen, und hockte sich erwartungsvoll vor den Grill. Die Punks lachten und stießen mit den Bierflaschen an.

Ausgekühlt und einsam machte sich Jan auf den Weg nach Hause. Sogleich verfiel er wieder ins Traben. Er wollte es möglichst schnell hinter sich bringen. Und danach? Was würde er tun, wenn es keine Anna mehr in seinem Leben gab?

Sein Herz hämmerte, als er die Wohnungstür aufschloss. Er rief ihren Namen. Keine Antwort. Ohne das Licht einzuschalten, lief er durch die vollgestopften Zimmer, die noch so taten, als wäre das hier ihr gemeinsames Heim. Hatte Rainer ihn an der Tür der Tanzhalle gesehen und Anna zu sich genommen? So musste es gewesen sein, sonst wäre sie zurückgekehrt und hätte ihm weiterhin die liebevolle Partnerin vorgespielt, die ihn aus seiner Depression erlösen wollte.

Das Telefon klingelte. Er stürzte ins Wohnzimmer, nahm ab und brachte nur ein Ja heraus.

„Jan?“

„Ja.“

„Hier ist Chris.“

„Ich bin eben erst reingekommen“, sagte er außer Atem.

„Ich versuche schon die ganze Zeit, euch zu erreichen.“ Ihre Stimme war schrill.

„Was ist?“

„Rainer ist gestürzt. Aus dem schwebenden Bett in der Tanzhalle. Sieben Meter.“

„Was?“

„Er lag auf dem Boden und alles war voller Blut, es sah grauenhaft –“

„Erzähl von vorne!“

„Ich habe die Bekannten aus der Küche überredet, mal bei Anna vorbeizuschauen. Ich habe ihnen vorgeschlagen, dass wir Anna dazu bringen, mit uns ein Glas Wein zu trinken. In Wirklichkeit habe ich mir Sorgen gemacht, dass du rüber bist und einen Streit mit Rainer angefangen hast. Du warst zwar ruhig, als du gegangen bist, aber ich hatte halt so ein Gefühl. Und wie er dalag, sein Kopf sah so komisch aus, er war tot, das sah man sofort. Wir sind alle raus, um keine Spuren zu zerstören, und haben die Polizei gerufen.“

Jan setzte sich auf den Boden.

Chris klang den Tränen nahe. „Ein Rettungswagen ist gekommen und die Polizei hat uns getrennt verhört. Es war ein fürchterliches Chaos und ich hatte Angst, dass du ihn hinuntergestoßen hast, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte.“

„Was hast du ihnen gesagt?“

„Ich habe einen Heulanfall vorgetäuscht und nichts Vernünftiges von mir gegeben.“

Als Chris ihm erzählt hatte, dass Rainer Speed nahm, war in ihm die Hoffnung aufgeblitzt, dass sich Rainer damit ins Jenseits befördern könnte. Aber jetzt, da Rainer verunglückt war, fühlte sich Jan betroffen. Fast schuldig. Wenn ich eine Hexe wäre, hatte Olga gesagt. Aber böse Gedanken konnten niemanden umbringen.

„Du warst es doch nicht, oder?“ Chris klang so verängstigt, als wäre die Antwort nicht selbstverständlich.

„Nein, natürlich nicht. Wo ist Anna?“

„Sie ist nicht bei dir?“

Jans Herz begann wieder zu rasen. „Nein. Ich bin bis eben herumgelaufen, ich habe sie nicht mehr gesehen, seit –“

„Irgendwas ist los. Einen Moment, ich bin gleich wieder dran.“

Er hörte leise Hintergrundgeräusche. Dann ein Aufschrei, wahrscheinlich war Chris im Durcheinander ihres Zimmers gestolpert. Sie meldete sich: „Die Polizei sagt, dass er lebt. Ein Schädelbasisbruch. Sein Zustand ist kritisch.“