11. Kapitel
Das goldene Licht des späten Nachmittags veredelte selbst das Wohnheim. Der hässlich braune Putz leuchtete warm, und die schmucklose Fassade schien sich zurückhalten zu wollen, ein dezenter Hintergrund für die farbenprächtigen Kastanien. Jans Fahrrad stand nicht mehr auf dem Vorplatz. Er hatte es unabgeschlossen zurückgelassen, als er von der Tanzhalle zu Chris geeilt war, um ihr von seinem Verdacht gegen Anna zu erzählen. Und nachdem Olga ihn mit ihren verlogenen Gemeinheiten verrückt gemacht hatte, war er zu Fuß davongerannt. Wie falsch er damals gelegen und wie wenig er vom wahren Ausmaß der Katastrophe geahnt hatte!
Sie betraten das Foyer. Obwohl die Polizisten keine Uniformen trugen, wurden sie von zwei Bewohnerinnen misstrauisch beäugt, die in Ballettkleidung auf der Treppe zum ersten Stock standen. Jan ließ die Polizisten zurück und lief zu Chris‘ Zimmer.
Sie öffnete sogleich. Trotz der milden Temperaturen trug sie einen ausgeleierten Wollpulli. Das kannte er von ihr, sie war verfroren. „Das ging ja schnell. Gut.“ Sie wirkte angespannt. „Komm rein.“
Jan schloss die Tür hinter sich und folgte ihr durch den breiten Gang, den sie im Durcheinander des Zimmers freigelegt hatte. „Warum hast du mich denn geholt?“, flüsterte er ungeduldig.
Sie setzte sich aufs Bett und wies auf den Stuhl. „Ich habe eine Nachricht für dich.“
„Von wem?“ Sein Herz klopfte.
Sie wartete, bis er Platz genommen hatte. „Von Anna.“
„Nein!“ Fast wäre er aufgesprungen. „Von Anna? Wie das?“
„Sie hat mich angerufen.“
„Wann?“
„Bevor ich dich angerufen habe. Es ging nicht lange, höchstens drei Minuten. Sie sagte, das letzte Mal sei sie geortet und fast erwischt worden, und deshalb hat sie extrem kurz gemacht.“
Jan nickte. „Und?“
„Sie will dich treffen. Morgen Mittag, an der Ostsee bei Rostock. Wiedortschneise heißt der Strandabschnitt. Ich musste ihn dreimal wiederholen.“
„An der Ostsee? So weit ist sie schon?“
„Es geht ja um morgen.“
„Was hat sie noch gesagt?“
„Dass sie dich bei dem Psychiater kontaktieren wollte, aber dass die Polizei dich überwacht hat. Und dass sie weiß, dass du ihr keine Falle stellen wolltest und die Verschwörer dich als Köder benutzen. Wenn du nach Rostock fährst, sollst du vorsichtiger sein.“
„Wie sie sich ihre Geschichten zusammenfantasiert!“, entfuhr es Jan.
„Der ganze Anruf war krass gespenstisch. Sie stand unter fürchterlichem Druck und wollte alles auf mal sagen. Ich glaube, ihre Drohung, dass sie sich etwas antut – dabei, das war keine Drohung, mehr ein Hilferuf, der ihr rausgerutscht ist. Jedenfalls hatte sie Angst, dass sie sich etwas antut, wenn du ihr nicht hilfst.“
Jans Blick glitt über ein verknicktes Comic-Heft, auf dem ein Körbchen voller bunter Armbänder aus Stoff, Leder und Glasperlen stand. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Sie hat darauf bestanden, dass ich dir die Nachricht persönlich übermittle, weil deine Gespräche abgehört werden. Das ist alles, sie hat in einem Stück durchgeredet und ich habe nur Ja gesagt.“
Jan wartete, dass das Rauschen in seinem Kopf nachlassen würde.
„Soll ich dir ein Glas Wasser holen?“ Chris war aufgestanden und blickte besorgt auf ihn herab. Sie schien weit weg zu sein.
„Was machen wir jetzt?“, fragte er dumpf.
„Ich weiß nicht.“
„Es der Polizei mitteilen?“
„Wahrscheinlich. Ich weiß nicht.“
„Die kann Beamte in Zivil an den Strand schicken. So wie Anna zugerichtet ist, ist sie leicht zu erkennen.“
„Wie viel Touristen zu dieser Jahreszeit wohl am Strand sind?“
„Kommt darauf an, wo der Strand liegt.“
„Das wissen wir gleich.“ Sie nahm ihren Laptop vom Tisch, setzte sich wieder und stellte ihn auf den Schoß. „Komm rüber, wir schauen uns das an.“
Er setzte sich neben sie. Bald hatte sich die Karte aufgebaut. Chris zoomte noch ein Stück heran und drehte den Bildschirm zu ihm. Die Wiedortschneise befand sich mitten in der Rostocker Heide. Graal-Müritz war die einzige Ortschaft in der Nähe, ansonsten erstreckte sich der Wald ununterbrochen die Küste entlang und bis weit ins Hinterland. Jan blickte auf den Maßstab und schätzte die Länge des Waldstücks auf 15 Kilometer – und das war ohne die vollständig grün markierte Halbinsel gerechnet, die nach Nordosten hin einen Bodden umschloss.
„Wie weit ist es zur polnischen Grenze?“
Chris scrollte hinüber. „Schon noch über hundert Kilometer.“
„So dünn besiedelt.“ Wie sollte die Polizei Anna dort fassen? Sie brauchte gar nicht nach Polen hinüberzuwechseln, wo sie die Sprache nicht verstand. Mecklenburg-Vorpommern bot genug Gelegenheit, sich unsichtbar zu machen. „Jedenfalls bedeutet das, dass sie sich nicht hier in Berlin den großen Endkampf liefern will. Sie will möglichst weit weg, in eine menschenleere Gegend, in der sie sich längere Zeit verbergen kann. Ist das nicht ein gutes Zeichen?“
„Das kann man so sehen.“
„Und weshalb schaust du so zweifelnd?“
„Weil ich nicht verstehe, warum sie dich für morgen Mittag dorthin bestellt.“
„Die Bahn kann sie nicht nehmen, selbst wenn sie an Geld gelangt. Trampen kann sie erst recht vergessen. Irgendwie muss sie sich ein Auto beschaffen.“
„Klar, dass das Reisen für sie schwierig ist. Aber warum dann morgen Mittag? Wenn sie ein Auto hat, ist sie heute Abend dort. Und du mit dem Zug auch.“
„Vielleicht hat sie das Auto noch nicht. Oder sie hat zu wenig Benzin und muss erst eine Möglichkeit finden, um unauffällig nachzutanken. Und sie kann nicht wissen, wie lange es dauert, bis du mir die Nachricht persönlich übergeben kannst. Da hat sie lieber Reserve eingeplant. Ich kann sie ja nicht zurückrufen und sagen, ich komme ein paar Stunden später.“
Chris starrte ins Nichts und fuhr mit ihrer Zungenspitze gedankenverloren die Schneidezähne ab. Schließlich sagte sie: „Schon möglich. Andererseits, so hektisch, wie sie am Telefon war, dass sie dann so viel Reserve einplant ...“
„Hast du eine andere Erklärung?“
„Nein, das nicht. Ich weiß ja nicht, wie sie tickt. Identitätsstörung, das ist für mich bloß ein Wort.“ Sie schob den Laptop zur Seite und schwieg.
Sollte er ihr von Farids Erläuterungen berichten? Nein, das brachte nichts. All die Psychologie erlaubte nur, Annas Verhalten nachträglich zu interpretieren, nicht, es vorherzusagen. Bestenfalls würde es ihm helfen, mit ihr umzugehen, falls er tatsächlich morgen mit ihr sprechen würde. „Was würde die Polizei tun, wenn sie weiß, dass Anna auf dem Weg zur Ostseeküste ist?“, nahm er das Gespräch wieder auf.
„Die Autobahn absperren wäre ein bisschen radikal.“
„Außerdem könnte Anna auf Nebenstraßen unterwegs sein. Vermutlich würde die Polizei einfach weitermachen wie bisher, schließlich würde die nicht wissen, ob es nicht ein Täuschungsmanöver ist, mit dem Anna sie loswerden will. Also suchen sie sie weiter in Berlin und bereiten parallel die Verhaftung am Strand vor.“
„Stimmt!“ Chris klopfte sich an die Stirn. „Dass das ein Trick sein könnte, daran habe ich gar nicht gedacht.“
„Dann müssen wir die Polizei nicht sofort informieren. Um die Falle an der Ostsee aufzustellen, müssten ein paar Stunden reichen.“
„Was bringt das Aufschieben?“ Chris zog eine Grimasse. „Nicht dass ich so was nie täte ...“
„Ich muss das erst sacken lassen. Es steht so unglaublich viel auf dem Spiel. Anna könnte einen Unschuldigen umbringen, oder sich selbst, oder bei der Verhaftung könnte etwas danebengehen – ich habe solche Angst, einen Fehler zu begehen.“
„Okay, dann lass dir die Sachen durch den Kopf gehen.“
Er nickte, erleichtert, dass er nicht auf der Stelle entscheiden musste. „Wollen wir ein bisschen rausgehen? Ich habe den ganzen Tag in der Wohnung festgesteckt.“
Sie stand auf, kramte in einem Stapel hinter dem Bett und tauchte mit einem triumphierenden Lächeln wieder auf. Dabei streckte sie zwei billige Tischtennisschläger mit rotgenoppten Schlagflächen in die Höhe.
„Nein, ehrlich nicht“, winkte Jan ab.
„Komm schon, du brauchst Ablenkung.“
„Mir reicht es, wenn wir uns in die Sonne setzen.“
„Nichts gibt’s!“ Sie schnappte seine Hand und zog ihn in den Stand. Er folgte ihr in den Flur und weiter ins Foyer, wo die Polizisten Zeitung lasen. Gemeinsam gingen sie hinaus, um das Wohnheim herum und in eine Seitenstraße. Ein Polizist murmelte etwas von der Art, dass junge Leute Nerven hätten. Der andere wirkte zufrieden, seine Arbeitszeit so entspannt zu verbringen, und zündete sich eine Zigarette an.
Sie bogen nochmals ab und gelangten zu einem Spielplatz. Die Tischtennisplatte war aus Stein, das Netz aus Metall, und wenn der Ball dagegen schlug, schepperte es. Chris spielte geschickt, Jan fehlte die Übung. In der Unter- und Mittelstufe hatte er viele Pausen damit verbracht, um nicht allein herumzustehen, wenn Michael beschäftigt war. Aber damals waren sie in der Gruppe um die Platte gerannt, und die wenigen Ballkontakte hatten nicht gereicht, um aus ihm einen anständigen Spieler zu machen.
Das Handy des Polizisten, der pausenlos rauchte, klingelte. Er saß mit dem Kollegen etliche Meter abseits auf einer versprayten Bank, und Jan konnte die Worte nicht verstehen. Aber Chris, die ihnen deutlich näher stand, brach den Ballwechsel ab und lauschte. Ein Kind rollte auf seinem Dreirad heran und gab blubbernde Motorengeräusche von sich.
Der Polizist drückte die Zigarette aus und kam zur Tischtennisplatte. „Das war die Zentrale. Rainer Spoerl ist seinen Verletzungen erlegen.“ Er machte ein pflichtbewusst betretenes Gesicht. „Es tut mir leid.“
Jan legte den Schläger auf die Platte und stützte sich ab. Chris lief zu ihm herüber und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Sie ist nicht schuldfähig. Das weißt du, das hast du selbst gesagt.“
„Aber wenn es ihr besser geht, wird sie sich schuldig fühlen.“ Und irgendwie, ganz entfernt, war auch er an Rainers Tod mitschuldig.
Das Kind war mit seinem Dreirad umgekippt und schrie. Die Mutter kam gelassen hinzu und sagte, es sei doch gar nichts passiert. Der Kleine streckte ihr trotzdem die Hände entgegen. Jan schloss die Augen. Rainer war tot, und Anna hatte ihn umgebracht. Damit würden sie für den Rest ihres Lebens klarkommen müssen.
Der Polizist setzte sich wieder. Chris ging zu ihrer Seite der Platte und sammelte Schläger und Ball ein.
„Müssen wir jetzt die Polizei informieren?“, fragte Jan leise und halb zu sich selbst.
Chris kam zu ihm zurück. „Eigentlich ändert das nichts an der Lage. Klingt hart, ist aber so.“
„Mir kommt es so vor, als habe das etwas verschoben. Gegen Anna. Ein Mensch ist ihretwegen gestorben, es darf kein weiterer folgen.“
„Wenn sie wirklich in der Rostocker Heide auf dich wartet, kann die Polizei sie schnappen, ohne dass irgendjemand sonst was abbekommt.“
„Wir dürfen Anna nicht unterschätzen. Dort halten sich normalerweise wenig Leute auf. Die Polizei braucht aber eine ganze Menge, wenn sie die Gegend abdecken will. Und wer weiß, ob Anna wirklich an dieser Schneise ist. Sie kann mich von dort auch irgendwo anders hinlotsen, und wie bekommt dann die Polizei ihre Leute unauffällig vor Ort?“
Chris knabberte an ihre Unterlippe. „Mann, das sind Überlegungen! Ich hätte mehr Krimis schauen müssen.“
„Anna ist aus der Psychiatrie geflohen, und die haben Vorkehrungen, weil sie mit so etwas rechnen. Sie scheint am Müggelsee entwischt zu sein, obwohl die Polizei sie als höchst gefährlich eingestuft und einen Riesenaufwand betrieben hat, um sie einzufangen. Anna hat einen solchen Instinkt und eine solche Willenskraft – sonst wären wir nie aus dem Tal entkommen.“
„Aber selbst wenn du dir nicht ganz sicher bist, dass die Polizei sie –“
„Ich bin mir überhaupt nicht sicher, dass die Polizei sie bei diesem Treffen zu fassen bekommen würde. Ich denke eher, sie schickt mich von einem Ort zum anderen, und irgendwo hat sie sich versteckt und beobachtet die Szene. Und dann, kann ich dir versichern, kriegt sie mit, dass ich beschattet werde. Das Ergebnis? Sie taucht unter und verliert das Vertrauen in mich. Und dann? Entweder sie greift an oder sie bringt sich um.“
„Aber du kannst doch nicht einfach so hingehen!“
„Ich schulde ihr das. Im Tal wollte sie zurückbleiben, um mir den Rücken freizuhalten. Ich sollte allein durch die Schlucht fliehen, während sie von einem Felsen aus den Mörder aufhalten wollte.“
Chris zupfte an den Noppen des Schlägers, den Kopf gesenkt. „Manchmal beneide ich euch. Das klingt verrückt, schon klar, ich meine auch nur darum, wie ihr zusammengehört. So bedingungslos – und daran ändert nichts, dass du bei Rainer ausgeflippt bist. Wahrscheinlich ist es wegen dem Tal. Verstehst du, meine Beziehungen waren immer: ein bisschen verliebt, ein bisschen genervt, soll ich weitermachen oder mir einen anderen suchen? Mittlerweile habe ich die Nase voll davon, und dann kommt ihr mit dieser krassen Geschichte, und irgendwie spürt man ... Egal, das interessiert jetzt nicht.“
Jan schluckte. Was Chris da sagte, machte alles nur schlimmer. „Ich glaube, ich fahre jetzt wieder nach Hause.“
Sie gingen zum Wohnheim, und Jan ließ sich zurückbringen. Die Polizisten parkten ein Stück von Jans Straße entfernt und geleiteten ihn bis zu seiner Wohnungstür. Ehe er den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, öffnete Herr Reisig. Jan unterhielt sich kurz mit ihm und erfuhr, dass die Polizei dabei war, den Wald zu durchkämmen. Aufgrund der Größe des Gebiets musste sie etappenweise vorgehen und würde bis zum Einbruch der Dunkelheit nur einen Teil absuchen können.
Jan legte sich hin und hörte Musik. Wuchtige, virtuose Orchesterstücke, die dem inneren Aufruhr etwas entgegensetzen konnten.
Zu Abend aßen sie Sandwichs. Herr Reisig wirkte überarbeitet. Sein Kollege, der ebenfalls über Nacht bleiben sollte, war ein muffeliger Typ, der ständig zwischen Talkshows hin und her schaltete. Jan zog sich möglichst rasch in sein Zimmer zurück, grübelte weiter, während er Musik hörte, und schlief bekleidet auf der Bettdecke ein.
Ein Klopfen weckte ihn.
„Herr Reber!“, rief jemand, verhalten, doch drängend. „Herr Reber!“
„Ich komme.“ Verschlafen stolperte Jan zur Tür. Im Zimmer war es noch dunkel. Er schloss auf und öffnete. Das Licht im Flur blendete ihn. Er kniff kurz die Augen zusammen. Das Bild von Herrn Zeisig wurde klarer – und beunruhigender. Eine Braue zuckte unkontrolliert, die randlose Brille saß schief.
„Kommissar Schiefer ist ermordet worden. Seine –“
„Das kann nicht sein!“, rief Jan dazwischen. Zugleich erkannte er, dass es die Wahrheit war und kein Alptraum ihn heimsuchte. Alles war gnadenlos wirklich bis ins letzte Detail: Das Loch im Flur, wo sie ein Bild probeweise aufgehängt und dann wieder entfernt hatten, war ebenso da wie das leise Surren des Kühlschranks, das ihn in den ersten Tagen nach dem Einzug genervt hatte. Und auf Herrn Zeisigs Gesicht waren Ansätze von Bartstoppeln zu sehen.
„Seine Leiche ist eben gefunden worden.“
„War es ...“ Es musste Anna gewesen sein, sonst hätte man ihn nicht mitten in der Nacht geweckt. Dennoch konnte Jan nicht daran glauben. Der Kommissar war bewaffnet. Und seine Wohnung musste mit Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet sein.
Herr Zeisig nickte gedankenverloren, sein Mund stand halboffen. Schließlich sagte er: „Sie hat ihn verbrannt.“
„Wie ist das möglich?“
„Frau Herrera ist irgendwie in die Wohnung eingedrungen, ohne Alarm auszulösen, und hat ihn überwältigt. Es ist rätselhaft.“ Herr Reisig schob sich die Brille zurecht. „Was wir wissen, ist, dass sie ihn in der Badewanne gefesselt und die Badewanne mit Zeitungen und Pappe gefüllt –“ Sein Blick verlor sich wieder.
Jan blieb seltsam ruhig. Was Kommissar Schiefer durchlitten haben mochte, existierte für ihn nicht. Diese Emotionen musste er unter Quarantäne stellen. Herr Schiefer ging ihn nichts an! „Mein Beileid“, stieß er hervor.
Herr Reisig straffte sich. „Ich muss sie zu einer Sache befragen. Auf dem Esszimmertisch lag die Zeichnung eines Schwans. Frau Herrera muss sie angefertigt haben. Vermutlich hat sie ihre Identität gewechselt, nachdem sie Herrn Schiefer getötet hatte. Es ist eine kindliche Zeichnung. Verbinden Sie damit etwas?“
Anna und er waren an den Seen um Berlin gewesen und hatten dort jede Menge Schwäne gesehen. Und an einem Abend hatten sie einen Thriller angeschaut, in dessen Titel ein Schwan vorkam. Etwas mit einer jungen, überambitionierten Tänzerin. Tschaikowskys Schwanensee, die Assoziation lag auch auf der Hand. Allerdings waren das alles beliebige Einfälle, nichts davon hatte einen besonderen Eindruck auf Anna gemacht.
Herr Reisig streckte ihm sein Handy entgegen, das ein Foto der Zeichnung zeigte. Die Linien waren mit einem schwarzen Kugelschreiber gezogen und die umgebende Fläche schraffiert worden, so dass sich der Schwan weiß abhob. Dabei war ‚schraffiert‘ das falsche Wort. Der Kugelschreiber war immer wieder neu angesetzt worden, die Linien wiesen in unterschiedliche Richtungen, es war mehr ein Patchwork überlappender Krakelflächen. An einer Stelle hatte Anna zu fest gedrückt und das Papier eingerissen.
„In Annas Krankenakte –“, Jan stoppte, da er offiziell nichts davon wissen durfte, setzte den Satz dann aber fort: „befindet sich die Zeichnung eines Monsters. Anna hat sie wahrscheinlich erstellt, nachdem ihr Vater sie missbraucht hatte. Das heißt, sie war mindestens elf. Die Zeichnung sah allerdings wesentlich kindlicher aus, ähnlich wie diese.“
„Fällt Ihnen noch etwas ein?“
Jan kreiste mit seinen Gedanken um Anna, Schwäne, Zeichnungen. „Ich glaube nicht.“
„Lassen Sie sich Zeit.“
Es kam nichts mehr. „Tut mir leid.“
„Sonst melden Sie sich.“
„Ja.“
„Dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Nacht.“ Herr Reisig presste die Lippen aufeinander.
„Ihnen auch.“ Jan ging in sein Zimmer, schloss ab und machte Licht. Anna hatte den Kommissar verbrannt – eine Weile konnte er an nichts anderes denken. Er sah Herrn Schiefer vor sich, mit seinen dürren Armen und Beinen, wie ein Weberknecht, und malte sich aus, wie seine verkohlte Leiche aussehen mochte. Nein, er durfte das nicht an sich rankommen lassen! Er musste Anna morgen gegenübertreten! Er durfte weder Angst noch Abscheu empfinden. Es war ein fremder Mensch, der einen ihm fast fremden Menschen ermordet hatte. Das war fürchterlich, aber es geschah ständig irgendwo auf der Welt. Für ihn ging es darum, seine Anna zu retten.
Ihm würde Anna nichts tun!
Dennoch betrachtete er unruhig das Fenster. Es war unmöglich von außen zu erreichen, selbst wenn Anna an der Regenrinne hochkletterte. Theoretisch könnte sie in die Wohnung über ihm eindringen und sich von dort mit einem Seil ablassen. Aber die Polizei überwachte das Haus, sie würde nicht weit kommen. Er zog die Vorhänge zu und setzte sich aufs Bett.
Ein Schwan. Was konnte das bedeuten?
Bedeutete es überhaupt etwas?
Er nahm das Handy und rief Chris an. Sie nahm nicht ab.
Gleich darauf ein Summen – ihr Rückruf.
„Hallo Chris.“
„Was ist?“
„Anna hat Kommissar Schiefer umgebracht. Sie ist in seine Wohnung eingedrungen und hat ihn in der Badewanne verbrannt.“
Chris atmete laut aus.
„Die Polizei hat das Bild eines Schwans gefunden, das sie wohl nach der Tat gezeichnet hat. Kannst du damit was anfangen?“
„Ich hab schon noch Platz an den Wänden. Aber ich bin nicht so scharf drauf.“
„Chris!“
„Sorry. Ich muss erstmal damit klarkommen.“ Erneut ein Schnaufen. „Verdammt, sie einen Menschen verbrannt!“
„Fällt dir was ein?“
Eine Pause. „Schwanensee, das hat sie gemocht.“
„Sehr?“
„Sie hat vieles sehr gemocht.“
Jan schluckte, es klang, als sprächen sie von einer Verstorbenen. „Irgendwas anderes?“
„Nein.“
„Hat sie im Unterricht gezeichnet?“
„Nein.“
„Ich habe sie auch nie zeichnen sehen. Das muss auf die eine Identität beschränkt sein.“
Sie schwiegen.
„Ein Schwan“, murmelte Chris.
Erneutes Schweigen. Jan wollte nachhaken, da kam Chris ihm zuvor: „Gab es keinen Feueralarm?“
„Was?“
„Als sie ihn verbrannt hat.“
„Anscheinend nicht. Ich habe nicht danach gefragt. Wahrscheinlich hat sie die Brandmelder außer Betrieb gesetzt.“
„Dumme Frage. Im Bad gibt es ja keine Brandmelder, weil der heiße Wasserdampf die sonst ständig auslösen würde. Sie musste nur die Tür geschlossen halten.“
„Müssen wir darüber sprechen?“
„Was anderes: Hast du der Polizei von Annas –“
„Ja“, unterbrach er sie, da sie auf Annas Anruf zusteuerte. Durch den Schock hatte sie vergessen, dass die Polizei das Telefon abhören dürfte. „Natürlich habe ich der Polizei alles erzählt.“
„Fährst du –“
„Ich werde morgen früh bei dir vorbeikommen. Dann“, das Wort betonte er besonders, „können wir alles Weitere besprechen.“
„Oh, ja, klar.“ Sie schien ihre Unvorsichtigkeit erkannt zu haben. „Also bis morgen. Ich werde mit der Matratze zu einer Zimmernachbarin umziehen. Dann schlafe ich ruhiger.“
„Mach das. Und gute Nacht.“