5. Kapitel

Aus dem offenen Fenster schaute Jan an der Regenrinne hinab. Der Psychiater, der bei ihm geblieben war, um Informationen über Anna einzuholen, durchquerte gerade den Hof. Er hatte auch keine Erklärung abgeben können, was Anna dazu getrieben hatte, hier herunterzuklettern. Oder zu versuchen, den eigenen Freund mit einem Messer abzuschlachten.

Es war unbegreiflich. Und obwohl Anna nun in Gewahrsam war, trieb Jan die Angst um. Ein Angriff von dort, wo er es am wenigsten vermutet hatte. Er lachte zynisch. Viel Arbeit für seine Psychologin! Dabei wusste er nicht, ob er je wieder zu ihr gehen würde. Was sollte der Quatsch? Nichts war verlässlich im Leben. Nicht einmal seine Liebe mit Anna.

Er schloss das Fenster und nahm das Telefon. Es führte kein Weg daran vorbei, er musste Carmen anrufen. Er hatte sich angewöhnt, sie mit ausufernden, oberflächlichen Schilderungen abzuspeisen, und nun musste er eingestehen, dass es die Probleme gab, die sie offensichtlich vermutet hatte – und dass diese zur Katastrophe geführt hatten.

Nach dem fünften Klingelton nahm sie ab. „Herrera, guten Tag.“

„Hallo Carmen. Jan hier.“

„Wie nett, dass du anrufst! Wie geht es euch? Ich bin gerade am Staubsaugen, die Handwerker waren da. Ich habe die Fenster im Gästezimmer austauschen lassen, und bei der Gelegenheit habe ich auch gleich neu streichen lassen. Es wird euch gefallen. Ihr kommt doch bald?“

Es ärgerte ihn, wie sie sich nach ihrem Befinden erkundigte und dann übergangslos ihr eigenes Programm abspulte. Er musste daran denken, wie Anna, das kleine Mädchen, auf seinem Schoß geklagt hatte, er höre ihr nie zu. Sie musste es als Kind schwer gehabt haben, zu ihrer Mutter durchzudringen. Wenn sich Carmen nicht im Ausforschmodus befand und alles über Anna wissen wollte, war sie kaum zu erreichen. „Ich fürchte, das wird eine Weile dauern“, sagte er kühl.

„Muss sie so viel üben? Na, nach allem, was du mir erzählt hast, könnte sie es eigentlich ein bisschen lockerer angehen lassen.“

„Vielleicht ist das ihre Art, mit der Vergangenheit fertig zu werden.“.

„Was hat sie dir erzählt?“, fragte Carmen scharf.

„Viel zu wenig!“

„Man kann nur in der Gegenwart glücklich sein“, versuchte es Carmen wieder süß.

„Ihr verschweigt mir etwas.“ Sie reagierte nicht, er setzte nach: „Ihre Epilepsie –“

„Anna hatte gesundheitliche Probleme.“ Carmen sprach die Konsonanten jetzt härter aus und rollte das R ein wenig. Das hatte Jan bereits zuvor an ihr beobachtet, wenn etwas ihren Unmut erregte. „Jetzt geht es ihr gut und wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Denk nicht darüber nach, Jan!“

„Ich fürchte, das wird unvermeidlich sein.“

„Was soll das? Warum willst du sie nicht in Frieden lassen? Du kannst dir nicht vorstellen, wie hart das für uns war und wie froh wir sind, dass wir das hinter uns haben.“ Ihre Stimme wurde wieder wärmer, der spanische Akzent schwächer. „Ich bin so stolz auf sie. Es fällt mir schwer, sie loszulassen, aber eigentlich bin ich froh darüber, dass sie ohne mich zurechtkommt, sehr froh, und auch, dass sie solch einen tollen Freund gefunden hat. Du bist Teil der Familie, Jan, und ihr müsst wirklich in den Herbstferien mit nach Spanien kommen, damit du alle kennenlernen kannst.“

Jans Magen zog sich zusammen. Irgendwie musste er es ihr sagen. „Das würde ich sehr gerne –“

„Keine Widerrede. Ihr kommt mit! Ich lade euch ein.“

„Carmen, ich muss dir etwas sagen.“

Eine Schrecksekunde, dann fragte sie: „Was ist mit ihr?“

„Sie ist in der Psychiatrie.“

Schweigen.

„Carmen?“

Sie gab einen schluchzenden Ton von sich.

„Ich habe sie vor einer halben Stunde einliefern lassen. Sie hat sich heute Morgen erst wie ein kleines Mädchen verhalten und dann wollte sie mit einem Messer auf mich los. Ich habe mich gewehrt und sie verletzt. Wahrscheinlich nicht schwer, aber ich musste sie behandeln lassen.“ Er wartete einen Moment, um ihr die Möglichkeit zu geben, etwas zu sagen, und fuhr fort: „Gestern ist ein Kollege von ihr verunglückt. Er ist von einem Bett gefallen, das in sieben Metern Höhe angebracht ist, die Polizei nimmt an, dass er gestoßen wurde. Wir sind beide heute Nacht verhaftet worden. Mittlerweile haben sie wohl die wahre Täterin, aber der Stress war zu viel für Anna.“

Carmen weinte.

„Sie ist in der Charité, das ist eine exzellente Klinik. Heute darf sie niemand besuchen. Vielleicht lassen sie dich morgen zu ihr. Willst du nicht nach Berlin kommen? Du kannst in unserer Wohnung übernachten. Gemeinsam halten wir das Warten besser aus.“

„Ich weiß nicht –“ Ihre Stimme erstickte.

Zunächst musste er sie beruhigen. Und versuchen, etwas in Erfahrung zu bringen. „Es scheint, dass Annas psychische Probleme mit einem erneuten epileptischen Anfall zu tun haben. Sie hat Medikamente dagegen genommen, die allerdings abgelaufen waren. Ich weiß nicht, wie das genau zusammenhängt. Wahrscheinlich müssen die Ärzte bloß die Medikamente neu einstellen und sie ein paar Tage überwachen, ehe sie wieder entlassen wird. Übrigens, hatte sie früher schon einmal eine psychische Störung nach einem Anfall?“

„Ich kann nicht mehr, Jan. Ich rufe dich wieder an. In einer Stunde oder zwei.“ Sie legte auf.

Jan fühlte sich alleingelassen. Er hatte sich vor dem Anruf gegrault, aber auch gehofft, den Schock mit Carmen teilen und mehr über Annas Vergangenheit erfahren zu können. Ihm blieb nichts, als Carmens Reaktion hinzunehmen und dem Mitleid mehr Platz einzuräumen als dem Ärger, den er zugleich über sie empfand.

Er blieb am Fenster und blickte hinaus. Er mochte den Herbst nicht, diese verräterische Jahreszeit. Das trübe Wetter, die sinkenden Temperaturen, die kürzeren Tage – diesen elendig hingezogenen Verfall des Lebens, der so schnell heranrückte: Ehe man laue Abende genießen konnte, war es Mai, im Juni überschritt die Sonne schon ihren Zenit, den ganzen heißen Sommer über beraubte die Nacht den Tag und schon nahte der Herbst. Gewiss, die prächtigen Laubkronen waren ein erhebender Anblick, aber eben auch ein tragischer: der letzte Glanz, auf Blätter gemalt, die bald verrotten würden. Eine deprimierende Jahreszeit, in der sich Jan verletzlich fühlte, selbst wenn sein Leben halbwegs glattlief. Und so, wie die Dinge jetzt standen ...

Nein, er würde sich nicht selbst bemitleiden! Anna war die wahre Leidtragende. Ihr Leben lag in Ruinen, sie hatte es viel schlimmer erwischt als ihn. Letztlich mochte es die eine Erklärung für ihr Ausrasten gar nicht geben. Verschiedenes hatte dazu beigetragen: der Horror im Tal, die Epilepsie und die veralteten Tabletten, der Schock über Rainers Unfall und die Verhaftung, vielleicht auch seine Verdächtigungen, dass sie ihn betrogen haben könnte.

Er hätte sie am Morgen nicht so unwirsch angehen dürfen, weil sie das Bett verlassen hatte. Andererseits – er durfte sich auch nicht zu viel Schuld zuweisen. Und ohnehin war es nun zu spät. Er musste sich zusammenreißen und sehen, was er für sie tun konnte.

Die Antwort lautete: nichts. Er stellte den Küchentisch wieder auf, sammelte ein, was heilgeblieben war, fegte die Scherben zusammen. Die Zerstörung war zu viel für ihn, er floh aus der Küche und durchstreifte die Wohnung, bis er es nicht mehr aushielt und sich entschloss, zur Psychiatrie zu fahren. Überrascht stellte er im Internet fest, dass diese gar nicht in dem großen Krankenhausklotz im Zentrum untergebracht war, sondern im Norden Charlottenburgs. Also nahm er die Ringbahn und lief das letzte Stück zu Fuß durch den Regen. Er überquerte die Stadtautobahn und folgte dem lärmigen Spandauer Damm, bis er in eine Seitenstraße einbiegen konnte.

Das Eingangsgebäude der Klinik musste aus den sechziger Jahren stammen: Flachdach, beige Verschalungen unter den Fensterreihen, ein hervorstehendes Treppenhaus aus übergroßen Betonplatten, das wohl der Tristesse einen modernen und gewagten Ausdruck geben sollte. Jan machte eine Runde um die Anlage, er fühlte sich noch nicht bereit.

Im Park erhob sich eine strenge Backsteinvilla ohne Charme, direkt daneben ein klassizistischer Bau, der mit seiner bröckelnden Fassade zugleich mediterran und unterkühlt wirkte. Auf der Rückseite befand sich ein Herrschaftshaus, das rote Backsteinelemente und weißen Anstrich vorteilhaft vereinte und herrschaftlich selbstbewusst dem trüben Wetter trotzte. Das ermutigte Jan, ebenso wie die Beobachtung, dass die Fenster unvergittert waren und auch der Zaun keinen Flüchtling aufhalten würde. Das hier war eine psychiatrische Klinik, kein Irrenhaus, wie es die historischen Romane beschrieben. Er beschleunigte seinen Schritt, vollendete die Runde und trat ein.

Den Empfangsbereich strukturierten bunt gestrichene Säulen, um die Bänke und Topfpflanzen gruppiert waren. An der Rezeption saßen zwei Frauen in weißen Kitteln. Jan wartete, bis er an der Reihe war, und erkundigte sich nach Anna. Die Dame lächelte bedauernd, er habe bereits mit ihr am Telefon gesprochen und sie könne sich nur wiederholen: Frau Herrera dürfe heute keinen Besuch erhalten, und selbst wenn die psychiatrische Situation dies erlaube, habe die Polizei das Krankenhaus angewiesen, ihn nicht mit Frau Herrera in Kontakt treten zu lassen. Jan drängte darauf, mit dem zuständigen Arzt zu sprechen, er habe noch Hinweise, die für die Behandlung wichtig sein könnten. Die Dame versprach, das der Fachabteilung mitzuteilen, und bat ihn, sich zu gedulden.

Nach einer Viertelstunde begrüßte ihn der bärtige Assistenzarzt, der nach Annas Zwangseinlieferung bei Jan geblieben war, um Informationen aufzunehmen. Sie setzten sich in ein Besprechungszimmer, das durch Milchglas geschützt direkt vom Empfangsbereich abging. Der Assistenzarzt legte ein Klemmbrett auf den Tisch und forderte Jan auf loszulegen. Er notierte nichts von dem, was Jan erzählte, und begann bald, vom Renommee der Klinik und natürlichen Beruhigungsmitteln wie Baldrian zu sprechen. Jan wollte wenigstens irgendetwas über Annas Zustand und die Heilungschancen erfahren. Aber der Arzt ließ sich nicht einmal darauf ein, ihm zu sagen, in welcher der drei Abteilungen Anna untergebracht war: schizophrene Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen oder affektive Erkrankungen und Angsterkrankungen.

Frustriert setzte sich Jan zurück auf seine Bank und beobachtete das Kommen und Gehen von Personal, Patienten und Besuchern, ohne den Bewegungen Bedeutung beizumessen. Im Geist war er bei Anna. Überall entdeckte er unheilvolle Vorzeichen, die er damals abgetan hatte: die abendliche Erschöpfung, die Kopfschmerzen, die Alpträume, selbst der erfreuliche Wandel, der zu radikal ausgefallen war, um gesund sein zu können. Er wünschte sich, dass er mehr von Psychologie verstünde. Freuds Einteilung in Über-Ich, Ich und Es, dazu einige Bezeichnungen wie Neurose und Schizophrenie, auf viel mehr brachte er es nicht.

Sein Handy klingelte. Es war Frau Voß, die ihm mitteilte, dass Olga auf freien Fuß gesetzt worden war. Gegen Anna war ein Untersuchungsverfahren eingeleitet worden. Zum Schluss betonte sie, dass Jan sich jederzeit bei ihr melden könne, und wünschte ihm und Anna alles Gute.

Jan fragte sich, welch glücklicher Zufall ihm diese Verteidigerin zugespielt hatte, und verlor sich für einen Moment in der kleinlichen Überlegung, ob die Polizei die Rechnung zahlen müsse, wenn sie jemanden zu Unrecht beschuldigte.

Etwas geschah im sonst so ruhigen Saal. Ein heruntergekommener Mann stand bei den Empfangsdamen, beleidigte sie und stampfte wild gestikulierend und fluchend von dannen. Die Damen hatten kaum aufgeblickt, wahrscheinlich gehörte dieses Verhalten zu seinen Symptomen.

Das Handy klingelte erneut. Diesmal war es Chris, die von Olgas Rückkehr ins Studentenheim berichten wollte. Sie war fassungslos, als sie von Annas Ausrasten hörte. Jan erklärte, es sei zwar sinnlos, dennoch werde er noch ein paar Stunden in der Klinik bleiben.

Er behielt das Handy gleich in der Hand und rief nochmals bei Carmen an. Vielleicht hatte sie sich so weit gefangen, dass sie ihm Auskunft geben konnte. Sie sagte, sie habe in der Zwischenzeit mit den Ärzten gesprochen, die Anna damals behandelt hatten, und auch mit der Charité, und sie käme morgen mit dem ersten Zug. Nach wenigen Sätzen verabschiedete sie sich bereits. So niedergeschlagen, wie sie klang, wollte Jan nicht weiter in sie dringen.

Im Nachhinein wunderte er sich, wieso sie bei ihrem vorigen Telefonat, kurz nach Annas Einlieferung, gleich zu weinen begonnen hatte. Wäre es nicht naheliegender gewesen, erst geschockt zu sein, nachzufragen, Unglauben zu äußern? Und dazu ihre Unruhe seit der Rückkehr aus Alaska. Natürlich waren auch seine Eltern besorgt, aber längst nicht so krampfhaft. Als ob sie etwas geahnt habe.

Er dachte an das, was Anna aus ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Fast nichts aus der Kindheit, bevor ihr Vater den tödlichen Unfall gehabt hatte, dafür einiges aus der Zeit in Spanien. Sie hatte eine bunte Verwandtschaft, eine spindeldürre Tante, die so gut kochte, dass alle anderen in ihrem Haushalt übergewichtig waren, und eine Cousine, die sich als Straßenkünstlerin durchschlug, seit sie arbeitslos geworden war. Mit diesen Originalen und den verrückten Begebenheiten, die sie mit ihnen erlebt hatte, konnte Anna Abende füllen. Jan lächelte beim Gedanken an diesen fabulösen Clan – bis ihn eine Frage traf: Warum war Anna in der Schule so verschlossen gewesen? Und das von Anfang an. Natürlich hatte sie der Umzug nach Deutschland aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen. Aber damals war sie 16 gewesen. Kein Grund also, den Mitschülern zwei Jahre lang derart die kalte Schulter zu zeigen. Und an ihrer Epilepsie konnte es ebenso wenig gelegen haben, die hatte sie schließlich längst überwunden, und die psychischen Nachwirkungen hatten sie in Spanien nicht daran gehindert, glücklich zu sein. Laut ihren Erzählungen. Entsprachen sie der Wahrheit?

Jan hatte schon fünfmal die Position auf der Bank gewechselt, nun hatte er das Sitzen satt. Er stand auf, streckte sich ausgiebig und las sämtliche Patienteninformationen durch, die an den Wänden angebracht waren: Besuchszeiten, Fluchtpläne, aktuelle Mitteilungen, das Foto der Krankenschwester des Monats, die Geschichte der Nervenklinik seit 1887.

An einem Automaten neben dem Eingang kaufte er sich eine Apfelschorle und einen Schokoriegel. Beim Schlucken schmerzte sein Hals wieder. Ein Glück, dass Anna ihm nicht den Kehlkopf zerdeppert hatte.

Es war kurz vor vier. Wie lange wollte er eigentlich warten?

Als er in der Nähe der Rezeption vorbeischlenderte, fragte ihn das auch die Empfangsdame, mit der er zuvor gesprochen hatte. Er sagte, er wisse es nicht, vielleicht würde ja doch noch ein Arzt kommen und ihm Auskunft geben, jedenfalls müsse er bleiben.

Er setzte sich wieder und las unkonzentriert im Reclam-Heft, das er in seiner Jackentasche gefunden hatte.

„Hi!“

Jan blickte auf. Vor ihm stand Chris in einem abgetragenen Armeemantel, der viel zu weit für sie war.

„Was machst du denn hier?“, fragte er gerührt.

„Steh auf, ich muss dich mal feste drücken.“

Er lächelte, erhob sich dann aber doch und ließ sich umarmen.

„Was für ein Scheiß!“, schimpfte Chris, kaum dass sie ihn losgelassen hatte. „Die letzten 24 Stunden müsste man komplett löschen.“

„Ich glaube, Rainer wäre damit auch einverstanden.“

Chris verzog den Mund und sagte: „Es steht nicht gut um ihn. Er liegt immer noch im Koma.“

Jan nickte grimmig und hoffte, dass Rainer überleben würde – auch für Anna, falls sie etwas mit dem Sturz zu tun haben sollte.

„Setz dich doch.“ Er wies auf den Platz neben sich. „Kann ich dir etwas vom Automaten holen?“

„Zweimal nein. Wie lange hängst du hier schon rum?“

Sein Blick sprang zur Wanduhr neben der Rezeption, zu der er schon zigmal geschaut hatte. Es war weit nach fünf. „Drei Stunden.“

„Dann brauchst du einen Tapetenwechsel.“

Hinter den Glastüren war es etwas heller geworden, die Wolkendecke musste aufgerissen sein.

„Na komm schon!“ Sie zupfte ihn am Ärmel. „Wir gehen ein bisschen nach draußen quatschen und danach lasse ich dich auf deiner Bank übernachten, wenn du darauf bestehst.“

Jan zog sich seine Jacke an und folgte ihr. Die Straße lag im Schatten des Klinikgebäudes, aber auf die Bäume und Häuser dahinter schien die Sonne. Am Himmel trieben blaugraue Wolken, deren weiße Ränder leuchteten.

Sie liefen die Straße hinunter, auf der Jan hergekommen war, bis Chris an einer von Sträuchern und Brennnesseln überwucherten Baulücke stehen blieb und erklärte: „Wir sind da.“

Ein Trampelpfad führte sie zu einem Unterschlupf, den Strauchwerk vor der Straße verbarg: vier morsche Holzpfähle, über die eine Plastikplane gespannt war, darunter ein Kreis aus kniehohen Baumstammscheiben.

„Woher kennst du denn das Versteck hier?“

„Hab ich auf dem Hinweg entdeckt.“ Sie grinste. „Wenn du wüsstest, wie viele Stunden ich früher an solchen Orten verbracht habe. Da entwickelt man einen Sinn für.“

Jan duckte sich unter die Plane, setzte sich und atmete tief durch. Es war nur eine kleine Auszeit, dessen war er sich bewusst, und doch war er dankbar, zum ersten Mal seit diesem Morgen loslassen zu können.

Chris öffnete ihren Beutel und holte zwei Flaschen Bier hervor. „Mehr lau-kalt als saukalt.“

Sie öffnete die Flaschen mit einem Schlüsselanhänger und reichte eine weiter. Jan wollte sich bedanken und stieß dann einfach nur mit ihr an. Bei Chris musste man nicht alles aussprechen.

Sie tranken eine Weile schweigend. Durch die Bäume fielen die späten Sonnenstrahlen in ihren Unterstand. Jan versuchte zu beobachten, wie die Schatten wuchsen.

„Und ich dachte, wir hätten alles ausgestanden und jetzt würde es bergauf gehen“, murmelte er.

„Euch trifft’s echt hart.“

„Rainer hat es noch härter getroffen.“

„Trotzdem tut er mir weniger leid. Euch gönnt man love, peace and happiness.“

„Hast du von seinen Augen gehört?“

Chris war gerade beim Trinken und schüttelte nur leicht den Kopf.

„Erzähl es nicht weiter. Mir hat es der Kommissar gesagt und ich soll das eigentlich für mich behalten, aber das war ein Trick, um mich zum Reden zu bringen, und außerdem ist er mir unsympathisch. So berechnend.“ Jan nahm ebenfalls einen Schluck aus der Flasche. „Jemand hat Rainer auf die Augen geschlagen, bevor er ihn hinuntergestoßen hat.“

„Shit! Es war also wirklich kein Unfall.“

„Leider nicht. Und Anna hat ihn zuletzt gesehen, und danach hat sie mich im Wahn angegriffen. Und sie konnte Rainer ins Schwebebett locken.“

„Das darf nicht sein!“

„Wahrscheinlich war sie es tatsächlich.“ Er hatte sich das bislang nicht so deutlich eingestanden. Nun spürte er die Last seiner Worte.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Anna jemandem so krass auf die Augen schlägt. Wenn sie irgendwas Psychisches hat und Rainer runterstößt, vielleicht, aber auf die Augen, da kommt man doch nicht einfach drauf, das sind irgendwelche Nahkampftechniken, die man lernen muss.“

„Du hast Anna nicht im Tal erlebt. Wenn sie unter Druck steht, kann sie unglaublich brutal und effektiv handeln.“

Chris drehte ihre Bierflasche um, der restliche Schaum tropfte ins Gras. Sie schwiegen wieder eine Weile. Dann fragte Chris: „Wie geht es jetzt weiter?“

„Wenn ich das wüsste. Die Ärzte sagen mir nichts. Morgen kommt ihre Mutter, der werden sie mehr Auskunft geben.“

„Ich will jetzt nicht einen auf pathetisch machen“, Chris rubbelte ihr kurzes Haar, „aber wenn ich irgendwas für euch machen kann, echt gerne.“

„Danke, Chris.“

Auf dem Rückweg erzählte sie ihm, wie sie als Vierzehnjährige zusammen mit einer Freundin beim Diebstahl einer Flasche Sekt erwischt worden war, die ihnen der Ladenbesitzer zuvor nicht hatte verkaufen wollen, ohne einen Ausweis vorgelegt zu bekommen. Ihr Vater war ausgeflippt – sie blieb hier sehr vage und Jan fürchtete, dass er sie geprügelt hatte –, jedenfalls war längst alles gegessen und kompostiert, wie sie sich ausdrückte. Sie hatte recht, dachte sich Jan, die Dinge waren fürchterlich, solange man mittendrin steckte, und irgendwann ... Er kickte einen Tannenzapfen vom Bürgersteig in eine Hecke. Wie viele Jahre würde es dauern, bis das hier ausgestanden war?

Vor der Psychiatrie verabschiedete er sich mit einer kameradschaftlichen Umarmung von Chris und ging ein wenig zuversichtlicher hinein, als er sich in den Stunden zuvor gefühlt hatte. Es war ein Tag voller böser Überraschungen gewesen. Aber auch dieser Tag würde vorübergehen.

Als Jan wieder auf seiner Bank saß, wurde er müde. Also rutschte er zum Rand, lehnt sich an die Säule und döste, bis er den Eindruck hatte, dass etwas anders war als zuvor. Er überwand seine Schläfrigkeit und öffnete die Augen. Es war dämmrig geworden, eine Gruppe von Menschen, die sich gut zu kennen schienen, verabschiedeten sich am Eingang, gerade vor der Schwelle, ab der die Schiebetür geöffnet wurde.

Ein drahtiger Mann kam aus dem Inneren des Gebäudes, sprach kurz mit der einen Dame, die am Empfang zurückgeblieben war, ging geruhsam auf Jan zu und blieb drei oder vier Meter vor ihm stehen.

Jan vermutete, dass er aus dem Nahen Osten oder aus Nordafrika stammte. Das Gesicht war fein geschnitten und von freundlichen Fältchen durchzogen. Es war wie ein Rahmen für die aufmerksamen, doch unaufdringlichen Augen, die versprachen, dass sie sich vor nichts verschließen und sich über nichts verfinstern würden. Vielleicht interpretierte er zu viel in das Äußere hinein, dachte Jan. Jedenfalls legte sich die Aufregung, die in ihm aufgestiegen war, als die Empfangsdame in seine Richtung gewiesen hatte.

„Guten Abend. Sind Sie Herr Reber? Bleiben Sie sitzen.“ Die Augen lächelten.

„Ja. Guten Abend.“

„Benounes ist mein Name, ich kümmere mich um Frau Herrera. Ihr geht es gut.“ Die Augen sagten dazu: den Umständen entsprechend. „Sie wird in den nächsten Tagen Ruhe brauchen und anschließend eine lange Therapie. Grundsätzlich steht einer Heilung in ihrem Fall nichts entgegen, es erfordert nur viel Geduld, von ihr und den Angehörigen.“

„Können Sie mir sagen, woran sie leidet?“

„Im Moment leider nicht.“

Jan nickte. „Ich denke, ich kann wohl nach Hause gehen. Ich weiß, dass ich hier nicht gebraucht werde. Ich musste einfach in ihrer Nähe sein.“

„Ihre Freundin wird Ihre Unterstützung noch über viele Monate brauchen. Erschöpfen Sie sich nicht in den ersten Tagen. Sehen Sie das als eine Aufgabe, an der Sie wachsen werden.“ Er zwinkerte Jan zu, mit einem winzigen Lidschlag, der Jan entgangen wäre, hätte er diese Augen nicht so aufmerksam beobachtet. „Ich höre mich an wie ein Seelsorger, bin aber eigentlich einer der Ärzte, die Patienten mit Persönlichkeitsstörungen behandeln.“

„Vielen Dank, Herr Benounes.“ Jan wollte aufstehen, um dem freundlichen Arzt seine Hand zu reichen, doch der machte eine kleine Verbeugung zur Verabschiedung, die das Handreichen irgendwie ausschloss.

„Es hat mich gefreut, Herr Reber. Wir werden sicher in den nächsten Tagen Gelegenheit für ein ausführlicheres Gespräch haben. Bis bald.“ Er wandte sich dem Ausgang zu – und fuhr herum. Über der Glastür, die zum Inneren der Klinik führte, blinkte ein orangefarbenes Licht.

War das der Feueralarm? Hatte einer der Verrückten einen Brand gelegt?

Das Telefon am Empfang klingelte. Die Empfangsdame nahm ab, hörte kurz zu, ließ den Hörer sinken und schrie grell: „Achtung! Alle raus! Bringen Sie sich in Sicherheit! Das ist keine Übung! Ein bewaffneter Patient mit einer Geisel –“

Die Glastür öffnete sich. Im Laufschritt schob Anna eine junge Krankenschwester vor sich her, die so bleich war wie ihr Kittel. Den Kopf hielt die Frau nach hinten überstreckt, im vergeblichen Versuch, der Schere in Annas Hand zu entfliehen. Das Blut rann über ihren Hals und tränkte ihren Kragen und den Ärmel von Annas hellblauem Schlafanzug.

Direkt neben dem Kopf der panischen Geisel schwebte Annas unheimliches Gesicht. Ihre aufgeplatzte Augenbraue war von einem Klebeverband verdeckt, unter dem eine Schicht Mull liegen musste, so weit beulte er sich aus. Das Auge selbst war fast zugeschwollen. Die Lippe war genäht worden.

Die Gruppe, die vor dem Ausgang geplaudert hatte, war auseinandergestoben. Anna schob ihre Geisel auf den Ausgang zu.

„Anna!“ Jan eilte ihr nach. „Warte!“

„Bleib weg oder ich steche sie ab!“, schrie Anna. Es war eine fürchterliche Stimme, Annas und doch nicht ihre, ein wenig tiefer, weit entfernt von der Hysterie, mit der die Empfangsdame zuvor die Anwesenden alarmiert hatte.

Die Geisel bebte und schluchzte. Jan blieb zwei Meter von den beiden entfernt stehen. „Ich hab auf dich gewartet. Ich steh dir bei!“

Anna starrte ihn wild an, als wäre er ein Monster. Er suchte in ihren Augen nach einem Zeichen, dass sie ihn erkannte, fand jedoch nur Angst und Hass.

Herr Benounes zerrte ihn zurück und rief: „Geh, Anna! Er tut dir nichts. Du bist frei.“

Ihr Blick sprang zum Psychiater und wurde noch böser. „Verräter!“ Sie führte die Schere in seine Richtung, und für einen Moment sah es so aus, als wolle sie sich auf ihn stürzen. Dann presste sie die Schere wieder gegen den Hals der Geisel und floh mit ihr durch die Schiebetür.

Zwei Wärter, die ihr aus dem Inneren des Gebäudes gefolgt waren, liefen ihr so weit nach, dass die Schiebetür offenblieb. Der eine hatte einen Gummiknüppel, der andere eine Spritze in der Hand.

Ein silberner Opel fuhr langsam an der Klinik vorbei, der Fahrer schien nach einem Parkplatz zu suchen. Anna hastete mit der Krankenschwester auf die Straße, das Auto bremste.

„Steigen Sie aus“, schrie Anna, „oder ich bring die Frau um!“

Der Fahrer, der nur als Umriss zu erkennen war, legte einen Arm auf den Sitz neben sich und drehte sich um. Das Auto setzte zurück.

Die Krankenschwester stieß einen gellenden Schrei aus. Jan konnte nicht erkennen, was Anna ihr getan hatte. Die beiden taumelten.

Das Auto hielt mit laufendem Motor, ein Mann um die sechzig mit grauem Haarkranz stieg aus und rannte unbeholfen die Straße hinunter.

Anna zerrte ihre Geisel zur Fahrertür, die offengeblieben war, und schaute in das Auto. Dann stieß sie die Frau von sich, sprang hinein und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

Alle eilten nach draußen. Die Krankenschwester lag blutend auf der Straße. Jan folgte wie in Trance. Hatte Anna die Frau eben nochmals mit der Schere verletzt? Und wieso hatte sie sie bereits zuvor geschnitten? Vielleicht hatte die sich gewehrt – oder Anna hatte ihre Entschlossenheit demonstrieren wollen, damit sich ihr niemand in den Weg stellte. Es gab noch eine andere Erklärung, und die passte zu der Art, mit der sie die Kücheneinrichtung zertrümmert hatte, bevor sie zum Angriff übergegangen war: Sie wollte mit ihrer Gewalt etwas ausdrücken, ihre Wut herauslassen, die sie zuvor in sich verschlossen hatte.

Mehrere Personen knieten um die Verletzte und versorgten sie aus einem Erste-Hilfe-Koffer. Bald darauf wurde sie auf eine Trage gelegt. Alle zogen sich ins Gebäude zurück und nahmen auch Jan mit. Er setzte sich auf seine Bank. Irgendjemand redete ihm zu, er bekam es kaum mit.

Jan verlor das Interesse an den hektischen Vorgängen und nahm nur vage wahr, wie sich das Heulen einer Sirene näherte, ein Streifenwagen vor dem Krankenhaus hielt, zwei Polizisten heraussprangen und an die Außentür klopften, die sich nun nicht mehr automatisch öffnete. Wie sich etwas später die lange Gestalt des Kommissars aus einem der Streifenwagen zwängte und mit Herrn Benounes in dem Besprechungsraum verschwand, in dem Jan nach seiner Ankunft versucht hatte, dem bärtigen Assistenzarzt Informationen zu entlocken.

Stattdessen gingen Jan alle möglichen Dinge durch den Kopf, ohne dass er recht wusste, welche, es war ein betäubtes Treiben an der Oberfläche seines Bewusstseins, ein willenloses Rauschen.

Ein Polizist forderte ihn auf, an seinem Platz zu bleiben. Irgendwann kam der Kommissar auf ihn zu und stellte sich direkt vor ihm auf, eine Hand an die Säule neben ihm gelehnt. Jan fühlte sich eingeengt.

„Entschuldigen Sie, Herr Reber, ich habe Sie zu Unrecht des versuchten Mordes verdächtigt. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Ihre Freundin die Tat begangen hat. Wussten Sie davon?“

„Lassen Sie mich“, murmelte Jan.

„Behinderung von polizeilichen Ermittlungen, Mitwisserschaft, am Ende gar Beihilfe zum Mord?“ Der Kommissar stieß sich von der Säule ab und setzte sich neben Jan. „Ich bin der Letzte, der Sie deswegen strafrechtlich belangen will. Ich will nur, dass Sie uns helfen, Anna Herrera zu fassen. Sie ist gefährlich! Ihr erstes Opfer, Rainer Spoerl, schwebt in Lebensgefahr. Sie waren ihr zweites Opfer und konnten sich mit Not retten. Das dritte Opfer haben Sie eben gesehen. Die Krankenschwester hat zwei tiefe Schnittwunden davongetragen.“ Er zog seinen spitzen Zeigefinger unter Jans Kinn hindurch, da, wo das Fleisch zwischen den Kieferknochen am verletzlichsten war. „Wollen Sie, dass sie noch mehr Menschen attackiert?“

Jan schüttelte müde den Kopf.

„Gut. Falls wir sie nicht sofort ergreifen, werden wir Ihre Wohnung beschatten und Ihre Telefone überwachen. Herr Benounes ist der Ansicht, dass Sie die wichtigste Bezugsperson in Annas Leben sind. Sie braucht Hilfe, mit ihren Gesichtsverletzungen kann sie nicht einfach untertauchen. Und diese Hilfe wird sie bei Ihnen suchen.“ Er beugte seinen schmalen, kantigen Schädel zu Jan. „Sie werden uns helfen, Anna zu fassen. In Ihrem eigenen Interesse. Wer weiß, ob sie Sie nicht wieder angreift.“

„Ich habe keine Angst vor Anna“, erwiderte Jan.

„Wissen Sie, wie sie entkommen ist? Glauben Sie mir, die Flucht aus einer Psychiatrie, wenn man gerade wegen Gewalttätigkeit eingeliefert worden ist, ist kein Kinderspiel. Sie hat vorgetäuscht, dass die Beruhigungsmittel weiterwirken würden, und plötzlich ist sie aufgesprungen und hat einem Wärter auf den Kehlkopf geschlagen. So wie ihnen. Sie ist auf den Flur und hat mit einem Feuerlöscher die Fensterfront zum Personalraum zertrümmert, ist hinein und hat die Krankenschwester mit einer Schere bedroht, die auf dem Schreibtisch gelegen hatte. Und als Verstärkung kam, hat sie der Krankenschwester in den Hals geschnitten, um sich freie Bahn zu erzwingen. Und Sie sagen, dass sie keine Angst haben?“