9. Kapitel
Jan ging an den Birken vorbei durch den nebligen Garten. Der Kies knirschte unter seinen Füßen, ansonsten war der Morgen vollkommen still. Als er den kalten, taufeuchten Türgriff schon in der Hand hielt, blickte er zurück. Farid stand auf den Treppenstufen, einen Arm zum Abschied erhoben. Dann driftete eine dichtere Schwade zwischen sie und verwischte die Villa.
Jan trat hinaus auf die Straße und zog die schwere Tür hinter sich zu, das Schloss schnappte klackend ein. Es war erst kurz nach sieben. Sie waren beide früh aufgewacht und hatten sich noch vor dem Frühstück getrennt. Farid wollte in Ruhe die Akte eines anderen Patienten studieren, ehe er in die Klinik fuhr, wo er ständig beansprucht werden würde. In einer guten Stunde, hatte er Jan angeboten, könne er ihn ein Stück im Wagen mitnehmen. Doch Jan wollte rasch nach Hause, um etwas Zeit für sich zu haben und die Erkenntnisse sacken zu lassen, ehe Carmen in Berlin einträfe. Außerdem war der Morgen so schön, dass er sich gerne ein wenig die Beine vertrat.
Für einen Moment hatte er dennoch gezögert und an das Gesicht am Fenster gedacht, das ihn in der Nacht so erschreckt hatte. Es war nicht auszuschließen, dass sich Anna in der Nähe aufhielt. Aber in Anbetracht des Morgenlichts hatte er das als nervöse Einbildung abgetan, wie Farid es gestern vermutet hatte. Falls Anna da gewesen war, um dem Psychiater etwas anzutun, hätte sie dafür die Dunkelheit genutzt.
Bis zur Bushaltestelle war es ein guter Kilometer, immer am See entlang. Jan ging langsam, um den Spaziergang zu strecken. Der Nebel begann zu leuchten, die Sonne war unsichtbar aufgegangen. Die bunten Blätter der Baumkronen strahlten, während zwischen den Stämmen noch dunstige Schatten krochen.
Er verstand nun, wieso sich Carmen, eigentlich eine Frohnatur, so geängstigt hatte, Anna nicht nahe genug zu sein und eine Katastrophe nicht kommen zu sehen. Anna hatte ihr damals nichts vom Missbrauch verraten. Carmen musste zu entfernt und desinteressiert gewesen sein, unwillig wahrzunehmen, was dieses vorteilhafte Arrangement – widerspenstige Tochter kostengünstig durch Vater betreut, sie selbst frei für Karriere und Liebhaber in Spanien – gefährdet hätte. Doch auch ihre übertriebene Achtsamkeit, die sie sich daraufhin zugelegt haben dürfte, hatte ihrer Tochter nicht geholfen.
Wie würde Carmen damit umgehen? Sie tat ihm leid, und zugleich war er wütend auf sie, nicht nur wegen ihrer damaligen Versäumnisse, sondern auch, weil sie ihn nicht eingeweiht hatte. Sie hätte ihn darauf vorbereiten müssen, dass Anna mit dem Horror in Alaska psychisch nicht zurechtkommen könnte. Und wenigstens jetzt, nach Annas Einlieferung, hätte sie die Karten auf den Tisch legen müssen.
Er schluckte seinen Ärger herunter. Sie würden sich sehr gut verstehen müssen, ihnen stand eine lange Zeit bevor, während derer sie sich gemeinsam um Anna kümmern müssten.
Denn früher oder später würde Anna gefasst werden. Oder sie würde sich stellen, wenn sie in einem klaren Moment ansatzweise begriff, in welche Lage sie sich gebracht hatte. Aber da sie sich nicht erinnern konnte, was ihr mit anderen Identitäten widerfahren war, herrschte für sie ein undurchdringliches Chaos, dem sie mit ihrer Verschwörungstheorie Sinn zu geben versuchte. Würde sie zu dem Punkt gelangen, an dem dieser Wahn unter der Last der Wirklichkeit zusammenbrechen würde? Und dann?
Und jetzt? Wo mochte sie stecken, was vorhaben? Sie war nicht aus Berlin geflohen, dessen war er sich plötzlich sicher. Es brachte ihr nichts, der Polizei zu entkommen, wenn ihre Erinnerung von Lücken unterbrochen war, die sie mit imaginären Bedrohungen füllte. Auch wenn sie das so nicht begreifen konnte, musste sie spüren, dass sie längst gefangen war, in einem Albtraum ohne Erwachen – und das würde sie zum Angriff treiben!
Durch den feinen Nebel schillerte zum ersten Mal das Wasser. Und nun sah er auch das Restaurant hinter goldenen Kastanien.
Mit einem Ruck blieb er stehen. Eben gerade, als er auf die Straße getreten war, hatte die Tür klackend eingeschnappt – ein auffälliges Geräusch in der Stille. Und gestern Abend bei seiner Ankunft ebenso. Da hatte er die Tür hinter sich zugezogen, dessen war er sich gewiss. Aber heute Morgen war sie angelehnt gewesen. Mit den letzten Blicken auf die nebelumspielte Villa beschäftigt, hatte er nicht darauf geachtet.
Das konnte nur heißen, dass Anna sie geöffnet hatte! Sonst war niemand gekommen oder gegangen, und bei ihrer nächtlichen Kontrollrunde hatten sie die Tür nicht angefasst. Anna mochte die Tür geöffnet haben, um sich einen weiteren Zugang zum Grundstück zu verschaffen, oder einen Fluchtweg. Sie hatte sie jedoch wohlweislich nicht geschlossen und so das Einschnappen verhindert, das sie bei Jans Ankunft gehört haben konnte.
Die Polizei konnte er nicht alarmieren, sein Handy-Akku war platt. Sollte er weiterlaufen zum Restaurant? Er konnte sich nicht darauf verlassen, dort so früh jemand anzutreffen. Licht sah er keines brennen. Er wandte sich um. Wenn Anna ihn beim Verlassen des Grundstücks beobachtet hatte, zählte jede Sekunde. Er rannte mit ganzer Kraft, der Laptop in seinem Rucksack schlug ihm bei jedem Schritt auf den Rücken. Bald sah er das dunkel umrandete Grundstück. Der Kombi stand noch am Straßenrand.
Jan blieb vor der Gartentür stehen und klingelte. Er zählte fünf hastige Atemzüge und klingelte erneut, mehrere Sekunden lang. Niemand öffnete. Zögerlich entfernte er sich einige Schritte, immer noch hoffend, gleich Farids Stimme zu hören, dann sprintete er um die Ecke zu den abgestorbenen Eiben und krabbelte unter dem Astgeflecht hindurch. Der Nebel hielt sich im Garten zäh, er musste sich vom See her in dieser Sackgasse sammeln.
Jan blickte zur Villa, die wie ein abstrus geformtes Schiff im Dunst trieb. ‚Bleib cool‘, sagte er sich, ‚höchstwahrscheinlich ist Anna nicht hier.‘ Farid konnte unter der Dusche sein und das Klingeln nicht hören. Oder er hatte sich ebenfalls zu einem Morgenspaziergang entschlossen, ehe er den ganzen Tag in der Klinik verbringen würde.
Er erreichte das Haus. Die Tür war verschlossen, auch diesmal blieb das Klingeln vergeblich. Er guckte durchs Fenster. Im Empfangssaal befand sich niemand – allerdings war der Boden nicht einsehbar. Der Salon und die Küche schienen genauso verlassen. Er gelangte zur rückseitigen Veranda.
Die Tür stand offen. Jan spähte ins Innere des geräumigen Speisesaals. Auf einem Holztisch standen eine Tasse und ein Teller. Farid hatte sein Frühstück unterbrochen.
Auf dem Teller lag ein Honigbrot. Es war einmal angebissen, und an dieser Stelle war der Honig auf den Teller gelaufen. Die Tasse war halbvoll mit schwarzem Tee. Jan trat ein und berührte sie. Lauwarm. Farid musste schon vor einigen Minuten aufgestanden sein. Aber würde Farid seinen Tee kalt werden lassen? Gestern hatte er eingewilligt, den Garten zu durchsuchen – allerdings erst, nachdem er seine Tasse geleert hatte.
Jan rief nach Farid, lief in den Empfangssaal, brüllte erneut Farids Namen, lauschte nach einer Antwort, nach einem Hilfeschrei oder Kampfgeräusche, hörte nur das Rauschen seines eigenen Blutes, hetzte weiter in den Salon, in dem noch das Geschirr ihrer nächtlichen Teestunde stand, warf seinen Rucksack zu Boden und durcheilte sämtliche Räume des Erdgeschosses.
An der Treppe zum Keller schoss Jan der Gedanke durch den Kopf, dass Anna Farid dorthin verschleppt hatte, damit niemand seine Schreie hören könnte. Er hetzte die Stufen hinab, stolperte und stieß gegen die Tür. Sie war verschlossen und von Spinnweben verhängt.
Er rannte zurück in die Eingangshalle und die Treppe hinauf, das milchige Licht der verglasten Dachluken erfüllte nun den Flur, der vor einer halben Stunde noch dämmrig gewesen war. Er riss die Tür des Gästezimmers auf – leer. Das Arbeitszimmer, auf dessen Schreibtisch immer noch die überquellende Mappe lag – nichts. Farids Schlafzimmer, die Möbel aus dunklen, warmen Hölzern, mit klaren, schwungvollen Linien, ein Seerosen-Fries an der grünen Tapete – kein Mensch.
Um sicherzugehen, rüttelte Jan an den Türen auf der anderen Flurseite, sie waren tatsächlich verschlossen. Er öffnete die muschelumrandete Tür des Bads und zog den Duschvorhang zur Seite. Keine Leiche. Er eilte zurück in den Flur und drückte die Metalltür zur Dachterrasse auf. Tiefblauer Himmel, Glitzern zwischen den Morgennebeln über dem See.
Auf der anderen Seite erhob sich der runde Turm. War Anna, statt sich mit ihrem Opfer im Keller zu verkriechen, hinaufgestiegen, um ihre Rache zu zelebrieren? Jan zog an der Tür, sie war abgeschlossen. Er stellte sich vor eines der Fenster. Die Scheibe war schmutzig, der kahle Innenraum halbdunkel, dennoch meinte Jan ausschließen zu können, dass sich jemand dort drinnen aufhielt.
Er trat zurück auf die Dachterrasse und blickte in den Garten, verfolgte die einzelnen Dunstschwaden, wie sie hier ineinander trieben und dort aufrissen und ein Beet freigaben oder eine Bank oder den Steg.
Wo konnte er Farid finden?
Das Gartenhäuschen trat aus dem Nebel. Einer der Türflügel war aufgeklappt! Ein Adrenalinstoß fuhr durch Jans Adern.
Er rannte den Flur zurück, die Treppe hinab, hinaus auf die Veranda.
Etwas bewegte sich im Gras, eine Plastikverpackung, die ein Lufthauch anhob. Sie konnte noch nicht lange herumliegen, in der Nacht hatte es gewindet, sie wäre davongeblasen worden. Jan bückte sich nach der Folie und spannte sie auf. ‚Lampenöl‘ stand da in flammenden Lettern.
Lampenöl!
Gartenhaus!
Anna hatte ihren Vater im Gartenhaus verbrannt.
Jans Füße flogen dahin, hinab zum See. Die weißgestrichenen Bretter und die blauen, verschlossenen Fensterläden verliehen dem Häuschen einen skandinavischen Touch. Daneben wuchsen halbverdorrte Büsche rund um mehrere Stangen, zwischen denen grüner Gartendraht durchhing. Verwilderte Beerenspaliere.
Jan erreichte die hölzerne Veranda, die unter seinen Schritten erzitterte, und blickte ins Innere des Gartenhäuschens. Im hinteren Teil stapelten sich zusammengeklappte Gartenmöbel, unter dem Dach hing ein Kanu. Alles war gewöhnlicher eingerichtet, als er es sich bei ihrer nächtlichen Runde vorgestellt hatte. Der weiße Plastiktisch in einer Ecke des Raumes konnte aus einem Baumarkt stammen, die Stühle waren mit wasserabweisendem Nylon bezogen. Im Schatten des geschlossenen Türflügels lag Farid auf einer Sonnenliege, sein dünner, nackter Körper von Krämpfen geschüttelt, sein Mund mit einem Tuch verschlossen. Anna kniete neben ihm. Es roch nach Öl, die große, grüne Plastikflasche stand aufgeschraubt auf einem Schränkchen.
Anna hatte die hämmernden Schritte gehört und den Kopf zu ihm gewandt, und noch während er den Anblick aufnahm, sprang sie auf. Das Auge unterhalb des Pflasters war zugeschwollen, die Pupille des anderen geweitet, vom hellen Grün der Iris blieb nur ein schmaler Ring.
Farid bäumte sich auf. An den Innenseiten seiner Oberschenkel waren Verbrennungen sichtbar, jeweils zwei Punkte, verbunden durch eine Linie. Das Bild überlagerte sich in Jans Bewusstsein mit dem von Gregor, den Anna an einen Baum gebunden und gefoltert hatte. Mit einem Messer und einer Kerze hatte sie seinen Unterleib traktiert. Durch diese Erinnerung hindurch sah Jan den Elektroschocker in Annas Hand und zuckte zurück, doch Anna schnellte ihm nach, und ehe er entweichen konnte, hatte sie den Elektroschocker bereits auf ihn gerichtet.
Die Angst lähmte ihn. Wer immer sie in diesem Moment bewohnte, wer immer diese Hand lenkte, es war nicht seine Freundin und sie würde keine Gnade kennen. Ein knatternder, blitzender Faden verband die beiden Drähte, die ihn wieder an die Greifer eines Insekts erinnerten, und in rasender Abfolge dachte er, dass er fliehen musste, dass es ohnehin zu spät dafür war und dass der elektrische Schlag schmerzen würde.
Der Elektroschocker schoss auf ihn zu – und stoppte kurz vor seinem Gesicht. Jan löste seinen Blick von den bläulichen Blitzen, die in wild gekrümmten Bögen zwischen den Polen zuckten. Anna starrte ihn an, die Lippen bewegten sich, sie atmete keuchend.
Der Elektroschocker schob sich einige Zentimeter näher.
„Anna, nein!“
Die Blitze erloschen, das Knattern erstarb. Für einen Sekundenbruchteil hatte Jan das Gefühl, dass Anna zu sich kam und alles verstand. Der Elektroschocker glitt ihr aus der Hand und schlug zu Boden. Sie zitterte, ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Anna, ganz ruhig! Dir kann nichts passieren!“ Er breitete einladend die Arme aus. Im Hintergrund stöhnte Farid.
Sie blickte panisch um sich und machte hektische Bewegungen zu den Seiten, als könne sie durch die Wände fliehen. Offensichtlich dachte sie, er wolle ihr den Ausgang versperren.
Sollte er versuchen, sie festzuhalten? Er blickte auf den Elektroschocker, der unter die Liege gerutscht war.
Da warf sich Anna nach vorne. Um keinen weiteren Kampf mit ihr zu riskieren, zog er den Arm zurück und ließ sie passieren. Er folgte ihr nach draußen und beobachtete, wie sie blindlings davonrannte und unter den abgestorbenen Eiben verschwand. Sie hatte ihn verschont. Das traurige, furchtsame Mädchen hatte den Killer in ihr verdrängt. Und auch wenn dieses Mädchen nicht zu ihm gekommen war, um sich trösten zu lassen, so musste doch etwas in Anna ihn erkannt und den jähen Wechsel ausgelöst haben.
Danke, wahre Anna, dachte er bei sich. Dann wandte er sich um, eilte zu Farid und löste die Fesseln an Armen und Beinen. Als er den Knebel, der mit einem Tuch fixiert war, abgenommen hatte, fragte er mit möglichst ruhiger Stimme: „Hat sie dich sonst irgendwo verletzt?“
Farid lallte unverständlich. Hinten an seinem Hals, am Übergang zum Nacken, befanden sich die Spuren eines weiteren elektrischen Schlags. Wahrscheinlich hatte Anna ihn damit in der Küche außer Gefecht gesetzt.
Jan nahm eine Decke vom Fußende der Liege und deckte Farid zu. „Ich rufe einen Krankenwagen, einverstanden? Ich bin gleich wieder da.“
„Da!“ Farid bewegte eine Hand unter der Decke.
„Was?“
„He-he-hon.“
Jan blickte sich in der Hütte um.
„He-le-fon.“
„Du hast ein Telefon?“ Er ging zu Farids Hose, die an einem Stuhl hing, und durchsuchte die Taschen. Etwas schepperte. Das Handy war aufs Hosenbein und nun weiter zu Boden geglitten. Er nahm es auf und wählte den Notruf.
Sofort meldete sich eine nüchterne Männerstimme. Jan gab seinen Namen und Aufenthaltsort an, beschrieb den Zustand des Verletzten und nannte Anna als Täterin. Als er nach ihrer Kleidung gefragt wurde, zögerte er. Zunächst, weil er nur ihre Augen und den Elektroschocker sah. Dann, als er sie sich ins Gedächtnis gerufen hatte, mit einer Jeans und einem grauen Pulli bekleidet, sagte er aus einem instinktiven Wunsch heraus, sie zu schützen: Er wisse es nicht, alles sei so schnell gegangen.
Farid stöhnte.
Ja, er sei noch am Apparat, versicherte Jan dem Polizisten, und gerade sei ihm eingefallen, dass die Flüchtige eine Jeans und einen grauen Pulli getragen habe, weit geschnitten, eher eine Nummer zu groß, mit einer Kapuze.
Der Polizist erklärte, die Einsatzwagen würden in wenigen Minuten eintreffen, bis dahin solle Jan im Gartenhäuschen warten und es nach Möglichkeit von innen verriegeln. Jan rechnete nicht damit, dass Anna zurückkehren würde. Die Angst hatte sie gepackt. Doch wer konnte bei Anna irgendetwas mit Sicherheit wissen? Sie mochte in eine andere Identität springen und damit plötzlich wieder zur Killerin mutieren. Er zog die Flügeltür zu und klappte den Riegel vor. Dämmerung hüllte sie ein, durch die Ritzen unter der Tür leuchtete das Morgenlicht. Jan betrachtete den Spalt zwischen den beiden Türflügeln. Mit einem Tritt ließen sie sich wahrscheinlich nach innen aufbrechen. Sie würden ihnen bestenfalls eine Vorwarnzeit geben, falls Anna wirklich kehrtmachte.
Farid wiederholte einen unverständlichen Satz mit Allah. Jan rückte einen Plastikstuhl heran und setzte sich neben ihn. „Geht es? Bald kommt ein Krankenwagen.“
„Es geht. Es geht.“ Auf einmal füllten Tränen die feinen Fältchen um die großen, dunklen Augen und rannen über die Wangen.
Jan legte eine Hand auf die Liege, beinahe hätte er Farid über den Kopf gestrichen. „Sie ist weggerannt. Sie kommt nicht wieder.“
Farid zog den Arm unter der Decke hervor und wischte sich ungelenk die Tränen weg. „Entschuldige. Der Schreck.“
„Natürlich.“ Farid konnte sicher blendende Vorträge darüber halten, wie richtig und wichtig es war, Emotionen zu zeigen, um Schockerlebnisse zu verarbeiten – dennoch benahm er sich wie ein Indianerjunge, der beim Weinen erwischt worden war.
„Das habe ich noch nie erlebt. Eine solche Grausamkeit. Eine solche ...“, er bewegte hilflos den Kopf hin und her, „Bösartigkeit. Diese Anna ist vollkommen böse.“
„Ich weiß nicht ...“ Jan wollte widersprechen, wusste jedoch nicht, was er einwenden sollte. Er konnte einfach nicht hören, dass Anna böse genannt wurde, auch wenn er diese Ausdrucksweise verzeihen musste, nach dem, was Farid durchgemacht hatte.
„Ich habe nie etwas Vergleichbares erlebt. Wie sie es getan hat ... ohne zu zögern, ohne Gewissensbisse, aber eben doch vollkommen bewusst. Sie hatte keine Wahnvorstellung, dass ich nur eine Puppe bin, sie wusste genau, wie ich leide. Sie hat mir in die Augen geschaut, während sie mir die Schläge versetzt hat. Und davor“, seine Stimme war heiser geworden, er schluckte, „hat sie mich am Öl riechen lassen, damit ich mir besser vorstellen kann, wie es sein wird, wenn sie mich verbrennt. Aber sie hat es nicht genossen. Sie war keine Sadistin.“
„Siehst du, sie ist nicht wirklich böse.“
„Sie hat es aus Hass getan. Weil ich in ihrer Welt alle Qualen der Hölle verdient habe. Sie wollte mich verbrennen wie ihren Vater. Sie war die Rächerin. Aber diese Identität ist in ihrer Therapie nie ans Licht gekommen.“
„Keine der vier Unterschriften?“ Jan dachte an das Blatt über die Suizidprävention.
„Richtig, sie hatte vier bekannte Identitäten, und keine konnte sich an den Tod ihres Vaters erinnern. Darüber haben die Therapeuten schon damals gerätselt.“ Farid sprach wieder deutlich und in seinem gewohnt gehobenen Stil. Über Psychologie zu sprechen, beruhigte ihn offensichtlich. „Die Existenz einer weiteren Identität lag nahe, doch dass diese bei einer so langfristigen Therapie nie in den Vordergrund getreten ist, ist absolut ungewöhnlich. Diese Rächerin wollte sich nicht therapieren lassen und hat sich versteckt. Sehr gekonnt versteckt. Und die anderen Identitäten haben sie nicht ausgeliefert. Der Tod des Vaters hatte Annas Hass nicht getilgt.“
„Zum Glück bin ich umgekehrt.“
„Zum Glück! Wobei ich nicht glaube, dass sie mich so schnell getötet hätte. Sie hätte sich wahrscheinlich viel Zeit gelassen, mich zu quälen. Einmal drang dein Rufen bis hierher und ich dachte: ‚Jetzt bringt sie mich um und flieht‘ – aber sie hat es überhört, und danach habe ich ununterbrochen Lärm gemacht, damit sie von dir nichts mitbekommt.“ Er verzog den Mund. „Nicht, dass mir das Lärmmachen schwergefallen wäre.“
Sie schwiegen einen Moment. Jans Blick fiel auf eine Packung mit mehreren Wasserflaschen. „Willst du etwas trinken?“
„Gerne.“
Jan ging hinüber, riss die Packung auf und nahm eine der Halbliterflaschen heraus. Er schraubte sie auf und reichte sie weiter. Auf den Ellenbogen gestützt, nahm Farid einige tiefe Schlucke. Aus seinen Augen sprach die Dankbarkeit, dass er im Jetzt war und kaltes Wasser seine Kehle hinunterlief. Dass seine letzten Empfindungen auf Erden nicht Feuer auf seiner Haut gewesen war. Er gab Jan die Flasche und ließ sich zurücksinken. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut das getan hat.“
„Wie hat sie dich eigentlich überrumpelt?“
„Sie kam durch die offene Tür und hat sich den Elektroschocker geschnappt, den ich beim Essenmachen auf der Anrichte liegengelassen hatte. Ich wollte davonlaufen, da hat sie mich am Nacken getroffen und außer Gefecht gesetzt. Dann hat sie mich mit erstaunlicher Kraft ins Gartenhäuschen gezerrt.“
„Sie muss dich beobachtet haben.“
„Ja, sie wusste genau, wo der Elektroschocker lag. Ziemlich sicher hast du sie gestern tatsächlich entdeckt, und sie hat sich die Nacht über hier herumgetrieben.“
„Warum hat sie dann nicht früher zugeschlagen?“
„Wir waren zu zweit.“
„Wenn Sie uns von hinten mit dem Elektroschocker überfallen hätte, wäre sie auch mit uns beiden fertig geworden.“
„Damit dürftest du recht haben.“
Jan dachte daran, wie Anna eben zurückgezuckt hatte. „Ist es möglich, dass sie mich gehen lassen wollte?“
„Durchaus. Wir verstehen zwar nicht gut, wie Identitäten den wechselnden Einsatz orchestrieren. Aber es muss eine Art unterbewusstes Forum geben, in dem sie miteinander kommunizieren, und da mag die Anna, die deine Freundin ist, für dich eingetreten sein.“
Das leise Heulen von Sirenen drang zu ihnen. Sie waren so gut wie gerettet.
„Glaubst du, sie wird noch mehr Schaden anrichten?“
„Sie wird niemand zufällig auf der Straße angreifen. Es müsste einen Sinn für sie ergeben. Oder sie müsste Wut empfinden – dann könnte sie den Sinn dazu erfinden. Fällt dir jemand ein, an dem sie sich rächen wollen würde?“
„Am Kommissar.“
„Und wahrscheinlich an allen Polizisten, zumindest an denjenigen, die sie verhaftet haben. Aber die wissen sich zu schützen.“
Jan dachte nach. Unter ihren Bekannten und Freunden fiel ihm niemand ein. An der Ballettschule hatte sie sich im Großen und Ganzen mit allen vertragen. Olga mochte schlecht von ihr geredet haben, aber das hatte Anna wohl nicht mitbekommen, jedenfalls hatte sie nie darüber geklagt. „Wie steht es mit Carmen? Sie hat den Vater ins Haus geholt und sich nach Spanien verabschiedet.“
„Anna war sicher sehr böse auf sie. Allerdings hat sie seitdem so viel Zeit mit ihrer Mutter verbracht, dass diese Wunde verheilt sein dürfte.“
„Wenn sie an die Adressen von irgendwelchen Pädophilen gelangt, könnte sie weiter Rache üben.“
„Das ist ihr zuzutrauen. Bloß kann man die schlecht warnen.“
Die Sirenen heulten jetzt ganz in der Nähe. „Was wird aus ihr?“
„Sie wird sich kaum ergeben.“
„Daran glaube ich auch nicht.“
„Sie sind da.“ Farid streckte Jan die Hand entgegen. Jan ergriff sie, und Farid deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an. „Ich danke dir.“
Jan öffnete die Flügeltür, das Licht fiel blendend in die Hütte. Der Morgennebel hatte sich aufgelöst. Schritte näherten sich, zwei Polizisten eilten mit gezogener Pistole zu ihnen. Sie wollten Farid versorgen, doch er lehnte ab und wartete auf den Notarzt, der bald darauf mit einem Schwarm weiterer Polizisten eintraf.
Jan gab zu Protokoll, was sich ereignet hatte. Er war nur halb bei der Sache und dachte an Anna. Wenige Sekunden war er ihr gegenübergestanden. Wie ein Blitz, den wahrzunehmen man kaum die Zeit hat und der danach vor dem inneren Auge weiterleuchtet. Es fühlte sich so unvollständig an, und er fand es unerträglich, jetzt nicht bei ihr zu sein, sie nicht streicheln und beruhigen zu können.
Kommissar Schiefer nahte. Er gab einige Anweisungen für die Spurensicherung und nahm Jan mit sich. Wortlos gingen sie am See entlang hinaus auf den Steg. Erst als sie an dessen Ende standen, sagte der Kommissar: „Sie haben Mut bewiesen.“
Jan schaute den Kommissar feindselig an und wartete. Er würde sich auf dieses Lob nicht einlassen, das nur Teil einer Destabilisierungstaktik sein konnte. Dass der Kommissar ihn auf den Steg hinausgeführt und ihm den Rückzugsweg abgeschnitten hatte, verstärkte Jans Missbehagen.
„Und wie lange Sie Frau Herrera gestern in der Leitung gehalten haben, war beachtlich.“ Der Kommissar lächelte einladend. Da Jan nicht darauf einging, wechselte er übergangslos zu einer ernsten Miene. „Wieso haben Sie den Personenschutz in Zivil abgeschüttelt?“
Weil Annas Angst vor einer Verschwörung irgendwie auf ihn übergesprungen war, auch wenn er ihre wilden Theorien rational abgelehnt hatte, dachte Jan, sagte aber nur: „Welcher Personenschutz?“
„Wir konnten nicht davon ausgehen, dass Sie die Adresse von Herrn Benounes kannten. Also waren Sie unauffindbar. Raffiniert.“ Der Kommissar machte einen Schritt auf Jan zu. „Woher wussten Sie, dass Frau Herrera hierher kommen würde?“
„Ich habe es geahnt. Sie hatte ihn bei der Flucht einen Verräter genannt. Und beim Telefonat hatte ich ihren Hass gespürt.“
„Irgendetwas wussten Sie. Hat sie heimlich mit Ihnen Kontakt aufgenommen?“
„Nein.“
„Am Morgen gehen Sie los und kehren plötzlich zurück. Gerade rechtzeitig, um Herrn Benounes zu retten. Wieder nur Ihr Bauchgefühl?“
Das war zu viel für Jan. „Ich habe Herrn Benounes gerettet, weil Sie versagt haben!“, schrie er. „Ich habe den Polizisten bei mir zu Hause gesagt, dass Herr Benounes Schutz braucht. Und was hat die Polizei gemacht? Sie hat ihm gesagt, er soll achtsam sein. Nicht einen Mann haben Sie geschickt! Sie würden das Beihilfe zum versuchten Mord nennen oder so irgendwas, ich finde das einfach nur unfähig. Sie sind total unfähig!“
„Frau Herrera hatte Herrn Benounes in ihre Verschwörungstheorie eingebaut“, erwiderte der Kommissar nüchtern, „aber sie hat ihn nicht ausdrücklich bedroht. Wir haben ihm dennoch Personenschutz angeboten. Er hat das abgelehnt.“
Jan blickte aufs spiegelnde Wasser. Er war erschöpft, überreizt, und sehnte sich nach seinem Bett, auch wenn er unmöglich schlafen könnte, solange Anna nicht gefunden war. „Sie kann nichts dafür!“, murmelte er.
„Herr Reber, wir werden unser Bestes tun, um sie unbeschadet in die Psychiatrie zurückzubringen.“
„Sie dürfen nicht auf sie schießen!“
„Wir werden versuchen, sie zu betäuben.“
Aber nicht jeder Polizist hatte ein Betäubungsgewehr. Und falls Anna nochmals eine Geisel nahm, würde die Polizei scharf schießen. Außerdem konnte Anna, in die Ecke gedrängt, irgendwo runterspringen, blindlings über eine Straße rennen, in einen Eisenbahntunnel fliehen. Es gab viele Möglichkeiten zu sterben.
„Sie sind sich bewusst, welche Gefahr Frau Herrera für die Öffentlichkeit darstellt?“
„Sie wird niemand einfach so auf der Straße angreifen! Herr Benounes hat das selbst gesagt.“
„Sie hat in 36 Stunden vier Menschen verletzt. Der Tänzer schwebt noch immer in Lebensgefahr. Und Herr Benounes ist ihr nur knapp entronnen. An ihrer Tötungsabsicht besteht kein Zweifel. Woher wollen Sie wissen, dass sie nicht in diesem Rhythmus weitermacht?“
Jan zuckte hilflos mit den Schultern. Natürlich wusste er das nicht.
„Kann ich mich auf Ihre Kooperation verlassen?“
Er gestand sich ein, dass er der Polizei helfen musste, so gut er konnte. Er hatte keine andere Wahl. Falls die Polizei Anna umzingelte, würde er zu ihr gehen, um sie zur Aufgabe zu überreden. Sich selbst würde er nicht schonen, aber Anna durfte keine Unschuldigen mehr in Mitleidenschaft ziehen. „Ja.“
„Ich verlasse mich auf Sie. Ich werde ununterbrochen im Einsatz sein und Sie vermutlich nicht mehr sprechen. Ich werden Ihnen Herrn Reisig schicken, mit ihm werden Sie sich verstehen. Halten Sie sich an alle Anweisungen und arbeiten Sie vorbehaltlos mit ihm zusammen!“
Der Kommissar schaute ihm prüfend in die Augen und ging.
Ein Moment der Stille. Das Schilf stand bleich in der Morgensonne, eine helle Linie zwischen den bunten Bäumen und dem dunklen Wasser. Zwei Enten schwammen das Ufer entlang, verschwanden unter dem Steg und tauchten auf der anderen Seite wieder auf.
Wie gerne würde er einfach nur hier stehen, fest und alt wie ein Baum, mit einer knorrigen Rinde. All die Ängste würden an ihm abperlen, nein, sie würden für ihn erst gar nicht existieren, für ihn gäbe es nur Luft und Erde, Witterungen und Jahreszeiten.
Widerwillig drehte er sich zurück zur Villa und beobachtete die Polizisten bei der Spurensicherung. Der verwilderte Garten würde sie eine Weile beschäftigen. Hier herrschte ruhige Betriebsamkeit, abgeschirmt durch die Eibenhecke – und irgendwo da draußen rannte Anna, überzeugt, dass man ihr nach dem Leben trachtete, und zum Äußersten fähig.
Er erinnerte sich daran, wie sie im Tal vor dem Mörder geflohen waren, hinter jedem Baumstamm eine Falle fürchtend, bei jedem Tiergeräusch aufschreckend, und dabei waren sie zu dritt gewesen, hatten miteinander sprechen und in der Anwesenheit der anderen Rückhalt finden können. Anna hingegen war allein und verwirrt. Was mochte sie ausstehen, während sie durch den Wald hetzte?