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Wie alle Wesire des Reiches rief man Amram allein an Habbus' Sterbebett, das nur von seinen getreuen Eunuchengarden bewacht wurde. Das Herz zog sich ihm zusammen, als er die ehemals kraftvolle Gestalt des unerschrockenen Berberkriegers erblickte. Er war so in sich zusammengesunken, daß man seine Umrisse kaum noch unter den Felldecken ausmachen konnte, die man in vergeblichem Bemühen als Schutz gegen die Kälte des Todes über ihn gebreitet hatte. Es hatte in den vergangenen Wochen Augenblicke gegeben, da Amram erwogen hatte, Natan zu rufen, damit er den Herrscher vielleicht mit Ralambos Extrakt behandelte. Als er jedoch die möglichen Folgen bedachte, hatte er sich dagegen entschieden. Wenn Habbus sich erholen sollte, würden alle Rivalen um den Thron, die das Ableben des Königs ungeduldig erwarteten, sich gegen ihn, Amram, verschwören. Wenn er starb, dann würde, wer auch immer in dem Kampf um die Vorherrschaft gewann, Amram beschuldigen, ihn ermordet zu haben. Also mischte er sich nicht ein und ließ der Natur ihren Lauf.
Habbus schlug die Augen auf, als er hörte, wie Amram die üblichen Wünsche für eine baldige Genesung aussprach.
»Wie gut es ist, meine letzten Augenblicke mit dem einzigen Mann in meinem Königreich zu verbringen, dem ich je vollständig vertraut habe«, murmelte er schwach. »Sie glauben, ich sei zu krank, um ihre Scheinheiligkeit zu durchschauen, auch die meiner eigenen Söhne, wenn sie kommen und Allah bitten, mich wieder genesen zu lassen. Hinter ihrem maskenhaften Lächeln schmieden sie Ränke und spinnen Intrigen, bestechen und machen Versprechungen, um ihren Rivalen mein Königreich zu entreißen. Wie müßig mir das alles jetzt erscheint. Eitelkeit der Eitelkeiten, wie Euer Prediger es so weise gesagt hat.«
»Alles ist eitel«, flüsterte Amram als Antwort.
Habbus schloß eine Weile die Augen und sammelte dann seine Kräfte, um weiterzusprechen.
»Unter den dreien, die vor meinem Gemach auf und ab gehen und darauf warten, daß ich endlich meinen letzten Atemzug tue, ist mein Sohn Badis am besten geeignet, den Thron zu erben. Er ist stark und aufrecht, verläßt sich nur auf sich selbst und besitzt genug Autorität, um die Kriegsherrn und Wesire in Schach zu halten. Boluggin ist ein jämmerlicher Schwächling, und mein Neffe Yaddair mag gelehrt sein, aber er ist so vom Ehrgeiz zerfressen, daß er Granada in Abenteuer verwickeln könnte, die vielleicht seine Kräfte übersteigen. Ich hoffe, daß die Prinzen meines Reiches und Ihr selbst, mein getreuer Freund, meinen letzten Willen erfüllen und dem von mir bestimmten Nachfolger Treue schwören werden. Aber dann seid auf der Hut! Yaddair wird sich zur tödlichen Gefahr entwickeln. Er wird vor nichts zurückschrecken, um sich zu rächen und das Königreich zu Fall zu bringen.«
»Nicht einmal davor, Granada an Sevilla zu verraten?«
»Nicht einmal davor. Aber diese Probleme kann ich nun nicht mehr lösen«, seufzte Habbus, bedeutete seinem Eunuchen mit einer Handbewegung, er solle ihm die Lippen befeuchten, damit er fortfahren könne. »Ich bitte Euch nur um eines: Kümmert Euch nach meinem Tod um Rasmia. Sie liebt Euch mit einer so starken Leidenschaft, daß ich ihr nichts entgegensetzen, viel weniger noch sie unterdrücken konnte. Sie ist ein vertrauensvolles, aufrichtiges Geschöpf. Es wäre unfreundlich, ihre Gefühle zu verletzen, und unklug, ihren Stolz zu verwunden. Sie erwartet Euch jetzt in dem Wäldchen, wo Ihr sie schon einmal getroffen habt. Ehe Ihr zu ihr geht, rezitiert mir jedoch noch einmal das Gedicht, das Ihr am Vorabend der Schlacht gegen Abu Dja'far geschrieben habt.«
»Es gehört nicht zu meinen besten Werken.«
»Das macht nichts. Aber es ist den Umständen angemessen. Sprecht, mein Freund, sprecht«, flüsterte Habbus, faltete die Hände auf der Brust und schloß die trübe gewordenen Augen, während er sich zum Hören bereit machte.
Einst befahl ich meinen Truppen, ihr Quartier an
einem Ort zu nehmen,
Wo in alten Zeiten Feinde eine Stadt dem Boden gleichgemacht.
Wir schlugen unsre Zelte auf und schliefen an der Stelle,
Wo unter uns die früh'ren Herren dieser Stadt
geschlafen.
Da dacht' ich bei mir: Wo sind heut' die Menschen,
Die einst vor langer Zeit hier lebten?
Wo sind die Männer, die sie aufgebaut,
Und wo die Feinde, die sie dann zerstörten?
Wo reich, wo arm, wo Sklaven und wo Herren?
Die, welche Kinder zeugten und verloren, und Söhne,
Väter, Trauernde und Ehemänner, wo sind sie?
In langer Folge hier geboren über viele Generationen,
Als aus Tagen Monate und viele hundert Jahre wurden,
So lebten sie dereinst auf dieser Erde,
Und liegen heute hier in ihrem Schoß.
Sie haben ihre Häuser mit dem Grab vertauscht,
Sie sind von schönen Villen umgezogen in die rauhe Erde.
Doch sollten sie den Kopf erheben und das Grab verlassen,
Wie spielend leicht besiegten sie dann uns're
Truppen!
Vergiß es nie, o Seele, bald schon kommt der
Tag,
An dem auch ich zu ihnen mich geselle und ihr Schicksal
teile.
Der stete Rhythmus der Zeilen ließ Habbus in einen friedlichen Dämmerschlaf sinken, und nachdem die letzten Worte in der Stille des Gemachs verklungen waren, ging Amram auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Er spürte, wie eine Trauer, die er nicht erwartet hatte, in ihm aufstieg und ihn zu ersticken drohte.
Wie benommen trat er in die Marmorflure des großartigen neuen Palastes. Doch als er bemerkte, wie Gruppen von intrigierenden Würdenträgern verstummten und sich zerstreuten, sobald er sich näherte, wurde ihm klar, daß es dringlichere Dinge gab als seinen Schmerz. Jetzt, da Granada sich kopfüber in den Kampf um die Nachfolge des Habbus stürzen würde, war die Zeit gekommen, den Plan umzusetzen, den er so fein erdacht hatte. Alle Elemente waren nun vorhanden, er war bereit zur Tat. Er bedachte sorgfältig die Schritte, die es unverzüglich auszuführen galt, war also wenig geneigt, auf die liebevollen Gesten einer Frau einzugehen, als er in das abgelegene Wäldchen schritt. Beim Anblick von Rasmia, die zerbrechlich und verloren auf der Bank saß, konnte er aber Habbus' letzten Wunsch nicht vergessen, weniger noch seine Warnung: es sei unfreundlich, ihre Gefühle zu verletzen, und unklug, ihren Stolz zu verwunden … Also nahm er die Hände, die sie ihm zum Willkommen entgegenstreckte, in die seinen und küßte ihr mit einer rührenden Mischung aus Galanterie und verführerischem Zauber die Handflächen.
»Ich wußte, daß Ihr kommen würdet. Ich wußte, daß mein Vertrauen in Euch gerechtfertigt war«, sagte sie mit bebender Stimme. »Mein Onkel hat mir Euren Plan unterbreitet, und ich habe ihm und anderen Mitgliedern meiner Familie, die noch zögern und in deren Macht es läge, Eure Pläne zu durchkreuzen, zu verstehen gegeben, daß sie Euch volles Vertrauen schenken können. Aber nun müßt Ihr mich vor den Risiken beschützen. Bleibe ich in Granada, so ist mein Leben in Gefahr, ob Ihr nun gewinnt oder verliert. In jedem Falle wird man mich verdächtigen, und Eure Feinde werden versuchen, mich zu töten. Auch in Málaga bin ich nicht mehr sicher, sollten sich die Dinge gegen Euch entwickeln.«
Bei all seiner weisen Voraussicht, bei all seinen klugen Plänen hätte Amram diese Entwicklung nicht vorausahnen können. Was war bloß in den Kalifen von Málaga gefahren, daß er dieses Kind in ihren gemeinsamen Plan eingeweiht hatte? Zweifellos das Bedürfnis des Schwächlings, der stets nach Zustimmung heischt, gleich von welcher Seite. Aber mit dieser Indiskretion hatte der Hammudide genau die Situation geschaffen, die Amram hatte vermeiden wollen, seit ihm Rasmia ihre Liebe erklärt hatte. Nun stand er nicht nur in ihrer Schuld für eine Hilfe, die er nicht verlangt hatte. Der Erfolg – oder Mißerfolg – der wichtigsten Unternehmung seines Leben hing jetzt von ihr ab. So wie sie ihren Verwandten geraten hatte, ihm zu vertrauen, genauso konnte sie ihnen auch zum Gegenteil raten und damit die Erfüllung seines kühnsten, ehrgeizigsten Traums zunichte machen: oberster Herrscher über ein Gebiet zu werden, in dem nur sein Wort galt. Aber jetzt war keine Zeit für Vorwürfe. Ihm blieb keine andere Wahl, als Rasmias Bitte zu erfüllen. Er konnte ihr nur dort Zuflucht bieten, wohin er auch schon Leonora und den kleinen Musa geschickt hatte, sobald sich die Nachricht von Habbus' bevorstehendem Tod verbreitet hatte.
»Aber natürlich«, versicherte er ihr. »Sobald ihr die Nachricht erhaltet, daß Habbus verschieden ist, legt Ihr Euer schlichtestes Gewand an und kommt unter dem Vorwand, mit Eurer Trauer allein sein zu wollen, hierher. Es wird Euch jemand hier abholen und auf Eurem Weg begleiten.«
»Wohin?«
»In Sicherheit. Mehr braucht Ihr nicht zu wissen.«
»Und diese Person wird bei mir bleiben und mich beschützen und mich zu Euch bringen, wenn Ihr nach mir schickt?«
»Wenn das Euer Wunsch ist.«
Rasmia zog ihn nah an sich, preßte ihren kleinen, wohlgerundeten Körper an den seinen, hob die Hände und fuhr ihm mit den Fingern übers Gesicht, verschlang ihn mit Augen. »Wenn sich die Dinge schlecht für Euch entwickeln sollten, mein Liebster, dann sehe ich Euch vielleicht niemals wieder. Wollt Ihr mich nicht einmal lieben, hier und jetzt, nur einmal, damit ich eine Erinnerung an Euch behalte, an der ich mich erfreuen kann? Ist das zuviel verlangt als Lohn für die Gefahren, die ich für Euch auf mich genommen habe?«
Amram kochte vor Wut, in ihm tobte ein teuflisches Gemisch aus Zorn und Verlangen. Er saß in einer Falle, in die er um alles in der Welt nicht hatte geraten wollen. Jetzt hatten Habbus' letzte Worte eine neue Bedeutung für ihn bekommen: »Es wäre unklug, ihren Stolz zu verwunden.« Aber Habbus wußte nichts von seinen Plänen. Die entscheidende Frage war jedoch: Wieviel wußte sie? Wieviel hatte ihr Onkel ihr enthüllt? Kannte sie Einzelheiten oder nur die allgemeinen Ziele? Wieviel konnte sie verraten, wenn ihr Stolz verletzt war? Und wieviel mehr könnte sie noch von ihm zu erfahren suchen, in jenem ekstatischen Höhepunkt der Liebe, wenn ein Mann für Augenblicke völlig schutzlos ist? Viele Große und Mächtige waren in der sinnlichen Atmosphäre des Harems dieser Versuchung schon erlegen. Diese Gefahr mußte er um jeden Preis vermeiden. In einem verzweifelten Versuch, sich aus diesem Dilemma zu befreien, raffte er all seine Überzeugungsgabe zusammen und legte in seine Stimme die zärtliche Sorge, für die sein Vater so bekannt gewesen war.
»Bisher habt Ihr mir doch vertraut, nicht wahr?«
»Blind.«
»Dann vertraut mir bis zum Ende, mein Täubchen. Mein Leben lang folge ich schon einer eisernen Regel: niemals am Vorabend einer entscheidenden Konfrontation eine Frau zu berühren. Die Liebe verwirrt mir die Sinne, umwölkt meinen Verstand und schwächt meine Wahrnehmung. Der Erfolg, mit dem meine Unternehmungen bisher gekrönt waren, beweist, wie klug dies ist. Ich schwöre Euch nun bei dem unverbrüchlichen Band, das uns beide in diesem Augenblick vereint, daß ich Euch, sobald ich siegreich aus diesem Kampf, meinem größten, hervorgehe, lieben will, wie Ihr es Euch niemals erträumt hättet. Denn auch in dieser Kunst, wie in allem, was ich tue, erstrebe ich höchste Vollendung. Eure Liebe, für die Ihr mir so überzeugende Beweise gegeben habt, wird in den kommenden Tagen mein Schutz und Schild sein. Im Triumph, das schwöre ich Euch, soll dann meine Leidenschaft die Eure noch übertreffen.«
Einen kurzen Augenblick nahm er sie in die Arme, küßte sie zart auf die Stirn und verabschiedete sich. Während er sich entfernte, war er sich nicht sicher, ob er ihre kindlichen Gefühle verletzt oder ihren weiblichen Stolz – den Stolz der Liebenden – verwundet hatte. Er wußte nur, daß diese von allen Gefahren, denen er bald ins Auge sehen mußte, die ernsteste war. Diesmal hatte nicht er die Initiative ergriffen und diese Wendung daher auch nicht in seine Pläne einbezogen. Sein Leben lang hatte ihm seine Beredsamkeit gute Dienste geleistet. Gebe Gott, daß sie ihn auch diesmal nicht im Stich gelassen hatte …
Amram versuchte, seine nagenden Zweifel zu verdrängen, während er mit raschen Schritten über den Grat zwischen dem Palast und der Festung ging. Dort versammelte er seine obersten Heerführer um sich und erklärte ihnen knapp, um einen Angriff der Sevillaner zu vereiteln, die vielleicht die Verwirrung nach Habbus' Tod ausnutzen würden, müßten sie sich unverzüglich mit dem größten Teil des Heeres an den verletzlichsten Grenzen des Reiches in Verteidigungsstellung begeben. Er selbst wolle die Garnison befehligen, die zum Schutz der Hauptstadt zurückblieb. Man pries seine Weitsicht, und als die Heerführer auseinandergingen, um seine Befehle auszuführen, setzte er sich nieder, um einen Brief an Joseph ibn Aukal zu verfassen. Er versicherte seinem Schwiegervater, seine geliebte Tochter Leonora und sein Enkel Musa seien wohlauf, und lud ihn ein, bald einmal zur Feier des Sabbats nach Granada zu kommen. Er schickte das Schreiben mit einem zuverlässigen Boten fort. Nachdem er wenige Stunden später die Truppen vor dem Abmarsch aus der Stadt inspiziert hatte, blieb ihm nichts mehr zu tun als abzuwarten.
Habbus' Todeskampf zog sich noch eine ganze Woche hin, und seine Schmerzen waren so groß und andauernd, daß sogar die, die ihn liebten, beteten, er möge bald von seinen Leiden erlöst werden. Sobald die Nachricht von seinem Tode verkündet wurde, schickte man in alle benachbarten Reiche Kuriere aus, um von dort Vertreter zu seiner Beerdigung einzuladen. Inzwischen stellten sich die Würdenträger Granadas hinter ihre jeweiligen Kandidaten für die Thronfolge. Alle außer Amram, der sich zu keinem bekannte. In der Abgeschiedenheit der beinahe völlig verlassenen Festung hielt er sich von allen Ränken und Intrigen fern, als sei es seine einzige Sorge, das Königreich gegen die Feinde zu beschützen, bis man dem Nachfolger des Habbus den Treueschwur geleistet hatte.
Es gab immer noch nichts zu tun als abzuwarten. Geduldig darauf zu harren, daß der Plan, den er so gut eingefädelt hatte, glücken würde. Während die Tage verstrichen, ging er ständig die Einzelheiten der Operation durch, berechnete immer und immer wieder, wann er die Berbersöldner erwarten konnte, die der Kalif von Málaga angeheuert hatte. Sobald sein Schwiegervater den Brief erhalten hatte, sollte er den Kalifen benachrichtigen, er möge die Truppen auf den Weg bringen, die er, Joseph, mitfinanziert hatte. Sie sollten unverzüglich marschbereit sein, wenn die Nachricht von Habbus' Tod eintraf. Amram selbst hatte darauf geachtet, daß der Kurier, der die Nachricht nach Málaga brachte, der schnellste Bote des Königreichs war, und hatte ihm strenge Anweisungen gegeben, Tag und Nacht zu reiten. Er hätte also sein Ziel innerhalb von zwei Tagen erreichen müssen. Noch drei, höchstens vier Tage, und die Truppen aus Málaga müßten zu sehen sein, wie sie von Westen her über die große Ebene auf Granada zumarschierten. Sechs Tage insgesamt, im höchsten Fall sieben, und dann stand nichts mehr zwischen dem Herrscher der Hammudiden und dem verwaisten Thron von Granada, denn das gewaltige Heer, das Amram einmal befehligt hatte, war an den Grenzen des Berberreiches aufgestellt. Und wenn erst einmal der Kalif im Triumph in die Stadt Granada eingezogen war und sein Kalifat errungen hatte, würde im Gegenzug er, Amram, sein Königreich bekommen. Málaga wäre sein Lohn, er dort unangefochtener Herrscher.
Die Woche verging, und täglich unterstützten mehr Gefolgsleute den Thronanspruch des Badis. Jeden Augenblick könnte man nun Amram herbeibefehlen, ihm den Treueschwur zu leisten. Wenn die Truppen aus Málaga nicht eintrafen, ehe er sich vor Habbus' ältestem Sohn zu Boden warf, dann wäre nicht nur sein Traum vom Königreich zerschellt. Er hätte auch sein Leben verwirkt, weil man ihn des Hochverrats bezichtigen würde.
Am siebten Tag stieg er auf die Befestigungswälle, stand von morgens bis abends dort und beobachtete ohne Unterlaß die Ebene, bis ihm die Augen schmerzten. Bei Einbruch der Nacht war immer noch nichts zu sehen. Dann der achte Tag, die gleiche ununterbrochene Wache. Nichts. In zwei Tagen sollte Badis vereidigt werden. Die ganze Nacht über wälzte sich Amram auf dem Strohlager. Hatte Joseph die Nachricht nicht weitergegeben? Waren die Truppen nicht bereit gewesen, zur verabredeten Zeit loszumarschieren? Oder – und bei diesem Gedanken wallte unbändiger Zorn in ihm auf – hatte Rasmia ihn verraten, weil er sich geweigert hatte, sie zu lieben, wie sie geliebt werden wollte?
Der neunte Tag. Keine Bewegung am Horizont. Wenn am Abend des zehnten Tages noch keine Truppen aus Málaga aufgetaucht waren, bliebe ihm keine andere Wahl, als aus dem Königreich zu fliehen, dem er so wertvolle Dienste geleistet hatte. Er mochte Ränke schmieden und Pläne machen wie jeder andere, wenn nicht besser, aber einen Herrscher zu verraten, dem er die Treue geschworen hatte, dazu konnte er sich doch nicht überwinden. Habbus war tot, Badis noch nicht gekrönt. Während dieses Machtvakuums mußte er verschwinden, ehe Badis von der Verschwörung zwischen ihm und dem Kalifen von Málaga erfuhr. Der zehnte Tag. Wieder postierte sich Amram auf den Verteidigungswällen, wenn er sich inzwischen auch beinahe sicher war, daß sein Plan gescheitert war. Als die Sonne unterging und die Ebene mit ihrem tiefroten Schein überzog, kletterte er von seinem Aussichtsturm, stieg die rauhe, schmale Treppe zur Festung hinunter und weckte seinen Stellvertreter auf.
»Es scheint alles ruhig zu sein, ich schlafe heute nacht zu Hause«, erklärte er ihm. »Morgen reite ich aus und inspiziere die Verteidigungsstellungen an den Grenzen, ehe unsere Truppen zurückkehren. Laßt ein Pferd für mich satteln«, befahl er und entließ den schlaftrunkenen jungen Mann.
Er packte gerade einige wenige Habseligkeiten zusammen, als man einen Kurier zu ihm führte. Er erkannte sofort das Siegel auf dem Schreiben, das der Mann ihm brachte.
»Danke … Ihr könnt gehen«, sagte er und drückte dem Boten eine Münze in die feuchte Hand.
Als er allein war, riß er den Brief auf, die Hände kalt vor Angstschweiß. Man konnte die Nachricht kaum lesen, so hastig hatte Joseph sie verfaßt. Der Inhalt jedoch war sonnenklar.
Die Berbersöldner des Kalifen hatten sich geweigert zu marschieren. Niemals würden sie ihre Schwerter gegen andere Berber erheben, hatten sie geschworen. Verzweifelt hatte der Kalif ihnen entdeckt, daß sie das auch nicht tun müßten, da die Truppen von Granada in alle Winde verstreut wären und die Stadt schutzlos vor ihnen läge. Vergebens. Wer konnte ihnen garantieren, daß dies nicht eine Falle war, die Abu Musa gestellt hatte, eine Hinterlist, wie sie von ihm schon viele gesehen hatten, als sie unter seinem unbesiegbaren Befehl gekämpft hatten? Er würde sie nach Granada locken, dann bis auf den letzten Mann niedermetzeln und damit nicht nur über Granada, sondern auch noch über Málaga herrschen. Nein. Ganz bestimmt nicht. Sie würden nicht marschieren. Alles Gold des Kalifen könnte sie nicht umstimmen.
Amram zündete eine Kerze an und hielt den Brief in die Flammen, bis die Asche, zart wie verbrannte Falter, zu Boden schwebte. Dann verließ er in der hereinziehenden Dunkelheit die Stadt.
Die ganze Nacht hindurch, während er seinem Pferd auf der Straße nach Córdoba die Sporen gab, gestattete er sich keinen Gedanken. Er ritt vier Tage und vier Nächte, trieb sein Roß erbarmungslos an, legte nur ab und zu eine kurze Rast am Wegesrand ein, wenn ihn die Müdigkeit übermannte. Als die vertrauten Umrisse seines Zuhauses vor ihm in der bleichen Morgendämmerung auftauchten, begann sein Herz zu klopfen wie nie zuvor, so hatte es nicht einmal am Vorabend der entscheidenden Schlachten geklopft, die er geschlagen hatte. Leonora und der kleine Musa waren sicher dort geborgen, das wußte er. Aber Rasmia? War sie auch da? Oder hatte sie den Wachtposten, den er ihr mitgegeben hatte, bestochen, mit ihr nach Málaga zu reisen, so daß sie dort ihren verletzten Stolz an ihm rächen konnte? Joseph hatte sie in seinem Brief nicht erwähnt, aber das bewies nichts, denn er wußte ja nichts von ihrer Rolle in dieser Angelegenheit. Hatten sich die Berber wirklich aus eigenem Antrieb geweigert, die Waffen gegen andere Berber zu erheben? Oder hatte Rasmia heimtückisch Gerüchte verbreitet, Amram liege im Hinterhalt und wolle sie alle niedermetzeln?
Völlig erschöpft klopfte er an die Tür des Landhauses, wie es vor ihm schon zwei Generationen leidender Menschen, die Hilfe suchten, getan hatten. Natan brauchte eine Weile, ehe er in der hageren, staubverkrusteten Gestalt, die da beinahe auf seiner Schwelle zusammensackte, den erhabenen Wesir von Granada, seinen Bruder Amram, erkannte.
»Was in Gottes Namen …?« stammelte er.
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Sag mir nur, ist Rasmia, die Prinzessin aus Málaga, hier bei euch?«
»Eine Prinzessin aus Málaga?« fragte Natan ein wenig bestürzt, und sein Ton verriet die Sorge, daß der Bruder den Verstand verloren hatte.
Erst jetzt geriet der unerschrockene Heerführer ins Taumeln, war nur noch ein verzweifelter, am Boden zerstörter Mann, der vor Müdigkeit, Enttäuschung und dem galligen Geschmack des Mißerfolgs bittere Tränen vergoß.