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Am nächsten Morgen kam Rabbi Samuel vor seiner Rückreise nach Lucena noch einmal zu Da'ud, um von seinem ehemaligen Schüler Abschied zu nehmen. In der Gegenwart seines alten Lehrers schien sich Da'ud wieder in den glänzenden, doch gehorsamen Schüler zu verwandeln, all seine Größe abzulegen. Traurigkeit überschattete das Gespräch. Beide Männer wußten, daß sie einander im Leben wohl nie mehr wiedersehen würden. Sie erinnerten sich an die Vergangenheit und besprachen die Zukunft, und Da'ud ging so weit, seine Sorge über die vielen verschiedenen Pflichten zum Ausdruck zu bringen, die ihm al-Hakam auferlegte und die ihm nicht alle behagten.

»Wie ehrenvoll die Aufgaben auch sein mögen, die du zu erfüllen berufen wirst, vergiß niemals deine Verpflichtungen gegenüber deinen jüdischen Brüdern«, warnte ihn Rabbi Samuel, und der ernste Ton verlieh seiner zittrigen Stimme Festigkeit. »Deine Stellung bei Hofe gibt dir nicht nur die Macht, sie zu beschützen, sie verleiht dir auch die moralische Autorität eines Richters und Schlichters.«

»Es ist weder meine Absicht noch mein Wunsch, diese Verpflichtungen zu vernachlässigen«, antwortete Da'ud bescheiden. »Im Gegenteil, ich suche schon eine Weile nach einem jungen Mann, der mir in diesen Angelegenheiten behilflich sein könnte. Es fehlt nicht an möglichen Kandidaten, aber die Wahl ist heikel. Wenn ich dem Sohn einer hervorragenden Familie meine Gunst zeige, ziehe ich mir unweigerlich die Feindseligkeit aller anderen zu. Unter gar keinen Umständen möchte ich die Einheit und Stärke unserer Gemeinde von Córdoba aufs Spiel setzen.«

»Dann mußt du jenseits der Stadtgrenzen suchen. Wir haben in unseren Akademien von Lucena viele begabte Studenten«, erwiderte Rabbi Samuel nachdenklich und strich sich über die feinen Strähnen seines dünnen weißen Barts. »Der junge Mann, der mich begleitet hat, könnte eine solche Aufgabe hervorragend erfüllen. Er ist ein wenig schüchtern und genau wie du hochintelligent, zugleich diskret. Da er aus einer bescheidenen Bauernfamilie stammt, würde er sich über die Bezahlung freuen und dir sicher gern dienen. Vielleicht möchtest du mit ihm reden, ehe wir uns auf den Heimweg machen? Er wartet draußen.«

Da'ud nickte zustimmend und befahl einem Diener, den jungen Mann hereinzubitten. In dem Augenblick, als er den Raum betrat, flackerte in Da'uds ruhigen Augen verblüffte Erinnerung auf. Dieser Mann hatte am Vortag die von Djamila provozierte Störung bei der Beschneidungszeremonie auf so elegante Weise überspielt. Auch heute nahm Da'ud keinen Bezug auf den Zwischenfall. Noch würde er jemals mit dem leisesten Hinweis andeuten, daß er ihn bemerkt hatte.

Rabbi Samuels Beschreibung des Menahem ben Saruq war zutreffend, wenn auch oberflächlich gewesen – mit Absicht? fragte sich Da'ud. Er fand die unterwürfige Bescheidenheit des jungen Mannes ein wenig unangenehm, trotz der offensichtlichen Vorteile, die eine solche Eigenschaft bei einem Untergebenen hatte. Aus Respekt vor der Empfehlung seines Mentors erkundigte sich Da'ud bei dem jungen Mann trotzdem nach seinen Studien und Hoffnungen für die Zukunft. Nach langem bohrendem Befragen brachte er ihn endlich dazu, von dem Vorhaben zu sprechen, das er schon eine ganze Zeit plante.

Menahem klemmte die Hände fest zwischen die Knie und richtete die seelenvollen Augen auf seine weißen Fingerknöchel, ehe er begann: »Es ist mein sehnlichster Wunsch, ein biblisches Lexikon in hebräischer Sprache zu verfassen, das die Reinheit und Eleganz unserer uralten Sprache aufzeigt.«

»Auf Hebräisch?« fragte Da'ud überrascht. »Warum nicht in arabischer Sprache, wie sie Eure glänzenden Vorgänger in Babylonien benutzt haben? Arabisch ist schließlich auch die Umgangssprache in den Gemeinden Andalusiens und dient in zunehmendem Maße selbst unseren besten Dichtern als Vorbild, ob sie nun in hebräischer oder arabischer Sprache schreiben.«

Menahem errötete vor Verlegenheit, aber er war schon zu weit gegangen, um noch Ausflüchte zu machen. Er verlagerte auf dem niedrigen Diwan sein Gewicht und rieb einen Augenblick die Hände gegeneinander, während er über eine Antwort nachdachte. »Ist es denn nicht die tiefste Sehnsucht eines jeden gläubigen Juden, unser altes biblisches Erbe zu bewahren, unser einziges und einzigartiges literarisches Vorbild?«

»Ich bin mir dessen nicht völlig sicher«, antwortete Da'ud kühl, verärgert, weil dieser angeblich so sanfte junge Mann dem Wunsch Ausdruck gab, sich gegen den wachsenden Einfluß arabischer literarischer Formen auf die jüdischen Literaten Spaniens zu stemmen, auf Männer, die den Geist und die Schriften ihrer Zeit und ihrer Umgebung gründlich in sich aufgenommen hatten. »Euer Bemühen ist zwar löblich, doch bezweifle ich, daß Ihr Erfolg haben werdet, wenn Ihr unsere Dichter zu überreden versucht, ihre überaus kunstreiche Verwendung der glänzendsten Ausdrücke literarischer Kultur aufzugeben, wie sie im heutigen al-Andalus blüht und gedeiht. Ihr tätet gut daran, Eure Energie und Eure Gelehrsamkeit anderswo einzusetzen«, schloß er.

»Genau dieses ›anderswo‹ ist es doch, wo ein hebräisches Lexikon von unschätzbarem Wert wäre«, mischte sich Rabbi Samuel ein und warf das ganze Gewicht seiner Autorität zu Gunsten seines jungen Schülers in die Waagschale. »Unser Volk lebt in alle Winde zerstreut, unsere Sprache ist eine der wenigen Verbindungen, die uns noch eint. Wenn zum erstenmal in unserer Geschichte ein biblisches Wörterbuch in hebräischer Sprache verfaßt werden sollte, dann wäre es allen Gemeinden in der Diaspora zugänglich und würde für sie alle einen gemeinsamen Maßstab in der Reinheit und Eleganz der Sprache setzen. Sicherlich braucht doch auch unsere geheiligte Sprache in gleichem Maße die Pflege, den Schliff und die Verfeinerung, die die Araber der ihren zukommen lassen?« Rabbi Samuel lehnte sich vor und argumentierte eindringlich – und mit genauer Kenntnis seines Gesprächspartners. »Wenn du die Schirmherrschaft über einen derart wichtigen Meilenstein im Studium der hebräischen Linguistik übernehmen würdest, so würde dein Ruhm in der gesamten jüdischen Welt ins Unermeßliche steigen, dein Name für alle Zeiten von all jenen bewundert werden, die unser jüdisches Erbe ehren und bewahren.«

Trotz seiner spontanen Abneigung gegen den jungen Gelehrten, dessen Bescheidenheit eindeutig eher vorgetäuscht als echt war, konnte sich Da'ud bei all seiner Macht und Größe der Autorität seines Mentors nicht widersetzen. Außerdem gefiel ihm Menahems Projekt eigentlich. Dessen Durchführung unter seiner Ägide würde dem Namen Da'ud ben Ya'kub ibn Yatom einen unvergänglichen Platz in den Annalen des jüdischen Volkes sichern. Diese Aussicht ließ ihn – genausowenig wie jeden anderen Menschen – nicht völlig unberührt.

So kam es, daß eine Woche später Menahem ben Saruq seine Arbeit als Da'uds Assistent für jüdische Angelegenheiten aufnahm. Jeden Donnerstag kam er ins Haus, wo man ein kleines Zimmer neben Da'uds Arbeitszimmer für ihn eingerichtet hatte. Dort bereitete er sich auf das wöchentliche Treffen mit seinem Gönner vor, das im allgemeinen am Freitag, dem Ruhetag der Moslems, stattfand. Den Rest seiner Zeit verbrachte Menahem in dem geräumigen Zimmer, das er sich bei der Witwe Tamara gemietet hatte. Sie war eine entfernte Verwandte der Familie Bar Simha und nur zu froh, einen anderen Menschen in ihrem riesigen, leeren Haus zu haben. Außerdem konnte sie es sich, auch wenn es nach außen hin anders schien, nicht leisten, auf diese Ergänzung ihres mageren Einkommens zu verzichten.

So unsympathisch ihm sein hebräischer Sekretär mit den eckigen Bewegungen, den knochigen Händen und dem ständig vorwurfsvoll traurigen Gesichtsausdruck auch war, so sehr sah sich Da'ud doch schon nach kurzer Zeit gezwungen, zuzugeben, daß Rabbi Samuels dringende Empfehlung berechtigt gewesen war. Menahem führte den umfangreichen Briefwechsel mit den jüdischen Gemeinden von al-Andalus und anderen Teilen des Omaijadenreichs, schrieb Briefe von makelloser Eleganz, traf stets unfehlbar genau den richtigen Ton. Wenn man ihn in strittigen Fragen um seine Meinung bat, antwortete er mit Bescheidenheit, Ausgewogenheit und kristallklarer Logik.

Mehr noch, als er erfuhr, daß Da'ud für die Anschaffung von Manuskripten für die Bibliothek des Kalifen verantwortlich war, schlug er vor, eine ähnliche Sammlung jüdischer Werke zusammenzutragen, wie sie in den großen Talmudzentren Babyloniens zahlreich zu finden waren. Ein solches Vorhaben würde der jüdischen Gemeinde von Córdoba zu höchster Ehre gereichen, brachte er vor. Er, Menahem, würde die alleinige Verantwortung für dieses Projekt übernehmen, wenn Da'ud es genehmigen und die notwendigen Geldmittel zur Verfügung stellen würde. Obwohl Da'ud über die Initiative seines Sekretärs entzückt war, reagierte er auf den Vorschlag sehr kühl und ließ einige Zeit verstreichen, ehe er seinen Segen dazu gab. Menahem mußte unbedingt in seine Schranken verwiesen werden. Wenn Da'ud die Zügel schleifen ließ, könnte er gefährlich werden … Die Gelder kamen aus Da'uds Privatvermögen. Er wollte sich mit keinem anderen Menschen die Ehre teilen, der Mäzen eines so ehrenvollen Unternehmens zu sein.

Während der wenigen Stunden, die sie jede Woche miteinander verbrachten, nahm keiner der beiden Männer je wieder Bezug auf die strittige Frage, die zwischen ihnen im Raum stand – Menahems Bestreben, sich dem wachsenden Einfluß arabischer literarischer Formen auf die hebräische Sprache zu widersetzen. So gelang es ihnen, in kühler, unpersönlicher Harmonie miteinander zu arbeiten.

Auch in Da'uds häuslichem Leben herrschte der Anschein von Harmonie, aber dort verbargen sich ebenso Spannungen hinter der heiteren Fassade. Nach dem Vorbild des Hausherrn drehte sich unter seinem Dach alles um Hai. Alles Tun wurde den Bedürfnissen und Wünschen des Kindes untergeordnet, und die Liebe und Aufmerksamkeit des gesamten Haushaltes wurde ihm ohne Einschränkung in reichem Maße zuteil. Über jede seiner Bewegungen, jedes Murmeln, jede Handlung oder Reaktion wurde Bericht erstattet, alles wurde bis in die kleinste Kleinigkeit von seiner Mutter, seiner Großmutter, seiner Kinderfrau und sämtlichen Dienstboten kommentiert, dann seinem Vater unverzüglich bei dessen Heimkehr aus dem Palast mitgeteilt. Von dem Augenblick an, da er das Haus betrat, hatte Da'ud nur noch Augen für Hai und seine geliebte Sari. Bis weit in den lauen, süß duftenden Abend hinein blieben die drei draußen neben dem murmelnden Wasserlauf oder unter den dunkler werdenden Zypressen, und die Eltern bewunderten die Vorwitzigkeit des Kleinen, sahen darin den unwiderlegbaren Beweis für seinen herausragenden Verstand, schrieben seine tiefblauen Augen der Mutter zu, die dunkle Gesichtsfarbe dem Vater, die langen Hände allein ihm selbst …

Amira ließ sich nur schwer in Djamilas Flügel des Hauses halten, wenn sie einmal ihren Vater und den kleinen Halbbruder draußen beim Spielen erspäht hatte. Temperamentvoll und entschlossen befreite sie sich aus jeglicher Umklammerung und strebte resolut zu den beiden hin. Wenn Sari sah, wie sie angelaufen kam, streckte sie mit einem warmen Willkommen die Arme nach ihr aus. Sie drückte das Mädchen an sich und zeigte ihm das Wunder von Hais Händen mit den langen, schlanken Fingern, nahm dann die kleine Patschhand des Mädchens in die ihre und ließ sie damit sanft die Hand des Säuglings berühren. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, beschloß sie für sich, um in dem Mädchen liebevolle, beschützende Gefühle für Hai zu wecken. Da'ud jedoch ignorierte seine Tochter weiterhin und fachte damit den Groll im Herzen der verstoßenen Mutter nur noch mehr an.

Wie schon in den langen Monaten der Schwangerschaft besuchte Djamila weiterhin die feinen Damen der Gemeinde, insbesondere die Schwestern Bar Simha. So weilte sie immer länger und häufiger außer Haus, und mit der Zeit schloß sich Amira immer mehr an Sari an. Wäre Sari nicht gewesen, hätte dieses Kind vielleicht niemals das Licht der Welt erblickt. Letztlich war Sari dafür verantwortlich, daß Amira lebte, nicht dieses kleine Mädchen selbst. Amira sollte nicht unter den Folgen von Saris eigener schrecklicher Kindheit leiden müssen und auch nicht unter dem Leben, das ihre Mutter nun gewählt hatte. Seit Hais Geburt hatte Djamila keine Funktion, keinen Platz mehr in Da'uds Haus. Wer konnte es ihr verdenken, wenn sie außerhalb des Hauses unschuldigen Zerstreuungen nachging? Amira sollte nicht den Preis dafür zahlen. Sie war unschuldig, sie sollte nicht die Mutterliebe entbehren müssen, auf die sie ein Recht hatte, ein Recht, das man Sari so grausam vorenthalten hatte. Wenn Djamila zu unglücklich war, um dem Kind Liebe zu schenken, dann würde eben sie, Sari, für sie einspringen, so gut sie konnte. Da'ud hatte nichts dagegen, daß Sari seiner Tochter solche Zuneigung zeigte, doch er selbst blieb ihr fern, stets kühl und unnahbar. Er liebte nur seinen Sohn, seinen Hai.

Was hätte er ohne diesen ruhigen Hafen der Liebe, des Vertrauens und des Verständnisses gemacht, in dem er sich von der Plage seiner Tage erholen konnte? Das fragte er sich unweigerlich jeden Abend, wenn er nach Hause zurückkehrte. Die christlichen Fürsten, untereinander zerstritten, hatten den Tribut an ihren arabischen Oberherrn stets nur zögerlich gezahlt, doch ohne diese Gelder konnten die Arbeiten an dem Hospital nicht weitergehen. Genausowenig konnten ohne das Geld die Manuskripte, auf die der Kalif so erpicht war, gekauft oder abgeschrieben werden. Da'ud sah sich also gezwungen, ständig mit den Finanzen zu jonglieren, manchmal sogar Anleihen aus seinem Privatvermögen beizusteuern, um nicht das Vertrauen derer zu verlieren, deren Dienste für ihn lebenswichtig waren. Über diese Probleme sprach er mit niemandem außer seinem Lehrmeister Ibn Zuhr. Allerdings war er sich auch völlig darüber im klaren, daß sein Schweigen weder Geheimhaltung garantieren noch als Schutz gegen die üble Nachrede des Abu Bakr dienen konnte.

Niemand vermochte besser als der schlaue Finanzberater die Kosten der Unternehmungen zu berechnen, mit der al-Hakam Da'ud betraut hatte, niemand konnte die Einkünfte und die Ausgaben, für die er verantwortlich war, besser einschätzen. Sicherlich, würde Abu Bakr vielleicht flüstern, hätte der Jude nicht aus privaten Mitteln Gelder vorgestreckt, wenn er nicht vorher Tributzahlungen zu seinen eigenen dubiosen Zwecken veruntreut und anrüchigen Kunden zu Wucherzinsen geliehen hätte, von denen er nun die Schulden nicht wieder einzutreiben vermochte? Und was war mit den jüdischen Manuskripten? So quälte sich Da'ud, wenn ihn eine seiner dunklen und zweifelnden Stimmungen heimsuchte. Warum hatte er sich vom Vorschlag seines anmaßenden Sekretärs in Versuchung führen lassen, warum hatte er entgegen allen praktischen Erwägungen dem Wunsch nach Unsterblichkeit nachgegeben? Wenn Abu Bakr von der Sammlung erfuhr, die die jüdische Gemeinde zusammentrug, wie schnell würde er dann das Gerücht in Umlauf setzen, Da'ud mißbrauche al-Hakams Sendboten, sende sie auf Kosten des Kalifen zum Nutzen seiner eigenen Gemeinde aus? Solche Lügen, geduldig von mächtigen Männern in die Ohren nur allzu williger Zuhörer geträufelt, erhielten leicht das Gepräge der Echtheit … Obwohl er seine Bücher gewissenhaft führte, die ihm anvertrauten öffentlichen Gelder untadelig verwaltete und keinen einzigen Piaster Zinsen für die zeitweilig vorgestreckten Summen nahm, lebte Da'ud ständig in einem Zustand der Anspannung, der ihm allmählich den Seelenfrieden raubte.

Immer mehr mußte er sich eingestehen, daß die Umstände und sein eigener Ehrgeiz ihn von seinem jugendlichen Wissensdurst fort und in eine Welt geführt hatten, die nicht mehr die seine war. Sogar seine morgendlichen Unterredungen mit dem Kalifen erfüllten ihn keineswegs mit Stolz und Befriedigung, sondern dienten lediglich dazu, den Unterschied zwischen ihm und den erhabenen Kreisen zu betonen, in denen er sich nun bewegte. Der Kalif, ein Moslem, konnte vor ihm, einem Juden, ungehindert über den Grenzbereich zwischen kalter, intellektueller Logik und religiösem Glauben spekulieren, konnte ganz offen seine Leidenschaft für erstere und seine tiefe Skepsis gegenüber dem letzterem zum Ausdruck bringen, eben wegen dieser unauslöschlichen, tief verwurzelten Unterschiede zwischen ihnen beiden. Nur weil al-Hakam sicher war, daß kein Sterbenswörtchen über seine inneren Zweifel je den stets aufmerksamen Imamen zu Ohren kommen würde, gestattete er es sich überhaupt, seine ketzerischen Gedanken dem jüdischen Vertrauten mitzuteilen.

»Ich ertappe mich manchmal bei der Überlegung«, gestand ihm al-Hakam einmal mit einem traurigen, schuldbewußten Lächeln, wie ein Kind, das man beim Stehlen von Süßigkeiten erwischt hatte, »daß unsere antiken Vorväter recht hatten, als sie Götter mit menschlichen Eigenschaften anbeteten, höhere Wesen, die Krieg führten und Frieden schlossen, liebten und haßten, nach Belieben Belohnungen und Strafen austeilten. Es fällt mir leichter zu glauben, daß wir nach ihrem Ebenbild geschaffen sind als nach dem Ebenbild eines gnädigen, guten Gottes, einer einzigen Gottheit. Es fällt mir leichter, die Menschheit als das Spielzeug kapriziöser Götter zu sehen denn als Spielzeug Eures Jahwe, des Jesus der Christen oder unseres Allah. Denn wenn wir nur Marionetten im kosmischen Theater des Einzigen und Wahren Gottes sind, wie soll man all das Elend erklären, das auf der Erde existiert?«

»Ja, wie«, erwiderte Da'ud unverbindlich, wollte nicht zugeben, daß der gleiche Zweifel auch an ihm nagte. Wie gründlich sein Volk im Exil Elend und Leiden kennengelernt hatte! Jederzeit konnten Unterdrückung und Verfolgung die Juden treffen, sie, die landlose Minderheit, die den Völkern ausgeliefert war, bei denen sie zu Gast lebte, und die daher jederzeit als Opfer herhalten mußte, an dem man allen Unmut auslassen konnte. Und doch, trotz allem glaubten sie unerschütterlich, waren sie trotzig immer noch davon überzeugt, das Auserwählte Volk Gottes zu sein …

Wäre das Los der Juden ein anderes gewesen, wären nicht die Gemeinden in al-Andalus auf ihn angewiesen, auf ihn, den Anführer und Beschützer vor derlei Anfechtungen, er, Da'ud ibn Yatom, hätte sich nur zu bereitwillig aus der Welt zurückgezogen, in die ihn sein Schicksal geführt hatte, hätte nur zu gern auf alle Ehren und Reichtümer, auf die Macht und den Ruhm verzichtet, die man ihm gegeben hatte, und sich dem einfachen, sorglosen Leben der Gelehrsamkeit gewidmet. Ein solches Leben, frei von jeglicher Verpflichtung für seine jüdischen Brüder, wäre möglich gewesen, wenn die Juden ein eigenes, unabhängiges Königreich besessen hätten.

Während seine Gedanken so wanderten, erinnerte sich Da'ud an einen Abschnitt, den er in der Geographie des Abu Ishak al-Istrakhri gefunden hatte, in einem Band, den er kürzlich für die Bibliothek des Kalifen erworben hatte. Dort wurde kurz ein jüdischer Chakan erwähnt, der vor etwa zweihundert Jahren die Chasaren regiert hatte, einen mächtigen Turkmenenstamm, der irgendwo zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer lebte. War Chasarien ein unabhängiges jüdisches Königreich gewesen? Existierte es noch? Wie und wann, wenn überhaupt, hatten sein Herrscher und dessen Untertanen die Gesetze Moses angenommen? Sollte er einen Gesandten zum Chakan jenes fernen Reiches schicken? Wenn es ein solches jüdisches Königreich gab, dann würde er nur zu gern seine Bürde niederlegen und mit Sari und dem geliebten Sohn dorthin ziehen, um so zu leben, wie es seiner Natur entsprach.

Ehe die Gesandten des Kaisers Otto, die zur Zeit am Hof des Kalifen von Córdoba weilten, nach Deutschland zurückkehrten, würde er vielleicht Menahem in seinem eleganten Hebräisch einen Brief an den Herrscher von Chasarien verfassen lassen und darin all die Fragen stellen, die ihn bewegten. Wenn man sie angemessen entlohnte, würden die beiden jüdischen Mitglieder der Delegation sicherlich Wege finden, dieses Schreiben an seinen Bestimmungsort zu befördern. Falls er eine befriedigende Antwort erhielte, mit welcher Freude würde er über Berg und Tal, Land und See reisen, um zu jenem Ort zu gelangen, wo der Friede und die Ruhe Israels herrschten.