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Ralambo warf sich die ordentlich gefaltete Lamba über die Schulter und bewegte sich mit langen, lockeren Schritten mühelos zwischen den Warensäcken, den laut feilschenden Händlern und den geplagten Lastträgern hindurch, bis er das venezianische Schiff erreichte, das in Kürze in See stechen würde. Als er seinen Fuß auf die Laufplanke setzte, sog er noch einmal tief die warme, duftende Luft ein. Das Strahlen auf seinem Gesicht spiegelte unendliche Zufriedenheit wider: mit sich selbst, seinem Geschick und der großen weiten Welt. Endlich hatte er den Hafen von Alexandria erreicht und machte sich auf den letzten Abschnitt der lang ersehnten Reise. Bald würde er im Westen ankommen, von dem er die Leute seit seinen Kindertagen reden hörte, den aber die wenigen Besucher in der roten Lehmhütte seines Vaters niemals selbst gesehen hatten. Er wußte nur, daß die Bewohner dieser Welt äußerst begierig nach den Kräutern und Gewürzen, den Juwelen und dem blassen und zerbrechlichen Seladonporzellan waren, nach allem, was die orientalischen Händler in die nördlichen Häfen seines Heimatlandes, der Großen Roten Insel Madagaskar, brachten. Dort verkaufte man die kostbaren Waren an die arabischen Händler weiter, die sie an der Ostküste Afrikas entlang in die geschäftigen ägyptischen Häfen verschifften, wo sie wiederum von geschäftstüchtigen venezianischen Händlern verladen wurden, die diese unschätzbaren Herrlichkeiten an allen Küsten des Mittelmeeres verteilten.
Bisher hatte Ralambo noch keine feste Vorstellung von seinem letzten Reiseziel. Er wollte sich so lange bei den westlichen Händlern erkundigen, die er in den Häfen antraf, bis er erfuhr, was er wissen wollte. Er ging mit festen Schritten über die federnde Planke an Bord, bemühte sich, die lose aneinandergeketteten weißen Sklaven zu übersehen, die man gerade von Bord getrieben hatte und deren helle Haut unter der erbarmungslosen ägyptischen Sonne scharlachrot verbrannt war. Diese jämmerliche Menschenkette wurde nun abgeführt und schlurfte bis zum nahe gelegenen Bedestan, wo arabische Händler heftig um sie feilschen und dann die ersteigerte Beute an reiche orientalische Machthaber verschachern würden, die sie für so helles Fleisch fürstlich entlohnen würden. Der kühle, scharfe Geruch von Kampfer stach ihm in die Nase, als ihn ein zerlumpter Träger, der unter seiner Last tief zu Boden gekrümmt ging, unsanft zur Seite schob. Halb schreitend, halb rennend trug der Hammal seine Last über die Planke in den Stauraum des Schiffes, wo bereits unzählige Säcke voller Zimt, Pfeffer und duftendem Moschus standen.
Der Kapitän des Schiffes, von so übler Laune wie beachtlichem Leibesumfang, kam mit schwankendem Seemannsgang zu Ralambo herüber und erkundigte sich nach seinem Bestimmungsort.
Ralambo zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete: »So weit westlich wie möglich.«
»Sevilla. Drei Dirham für einen Platz an Deck.«
Empört über einen derartigen Wucherpreis für diese Überfahrt erkundigte sich Ralambo: »Und wenn ich von Bord gehe, ehe wir Sevilla erreichen?«
»Genau der gleiche Preis«, grunzte der Kapitän und streckte ihm seine gierige, schwielige Hand hin.
Widerwillig zählte Ralambo ihm die Silbermünzen auf die schmutzige Handfläche und wandte sich dann ab, um sich eine Ecke des Achterdecks zu reservieren, indem er seine Lamba darauf ausbreitete. Abgesehen von der Habgier des Kapitäns konnte er von Glück sagen, daß ein Schiff mit Fahrtrichtung Westen gleich neben dem Boot vor Anker lag, auf dem er erst heute morgen über das Rote Meer angekommen war. Nun zurrten die flinken, drahtigen Matrosen unter den wachsamen Augen des Kapitäns die Ladung fest und bereiteten alles vor, um den Anker zu lichten. Der Wind war günstig, die See ruhig, und die Sonne schien strahlend, als sich das Schiff immer weiter von den Schreien und der emsigen Betriebsamkeit des großen ägyptischen Hafens entfernte und die Segel für seine Reise nach Westen setzte.
Während er sich über das Heckbord lehnte, beobachtete Ralambo den Schaum, der achtern hinter dem Schiff aufwirbelte, aufstob und wieder mit der dunklen See verschmolz. Dieser Anblick fesselte ihn noch genauso wie am Anfang seiner langen Seereise. Wie schon unzählige Male, seit er die Sicherheit seines Zuhauses verlassen hatte, tastete er nach dem Beutel, der flach vor seinem Bauch hing. Er war an einer langen festen Lederschnur befestigt, die Ralambo um den Hals trug, und war durch eine fest gewickelte Leinenbinde eng am Leib gesichert. So weit, so gut, lächelte er vor sich hin und tätschelte den kostbaren Beutel. Eine ruhige, warme, ereignislose Reise von der Großen Roten Insel nach Norden, keine Piraten, keine Stürme, keine anderen Unglücksfälle, und nun war das Ende seiner Reise abzusehen …
Wenn er zurückdachte, so erinnerte er sich, wie schwierig es gewesen war, seinen Vater davon zu überzeugen, daß die westlichen Händler wahrscheinlich mehr für den Extrakt bezahlen würden als die raffgierigen Inder, die sich jede Unze aneigneten, derer sie habhaft werden konnten, und dafür nach Ralambos Meinung einen Hungerlohn zahlten. Sein Leben lang hatte sein Vater sich als Vermittler zwischen den einzigen Erzeugern des Extraktes, einem Stamm an der Südwestspitze Afrikas, und den indischen Kaufleuten betätigt, die regelmäßig an der Roten Insel anlegten, um den kostbaren Auszug zu kaufen. Auf Ralambos Betreiben hin hatte er ab und zu auf seine schüchterne, naive Weise versucht, eine bessere Bezahlung auszuhandeln, aber die Kaufleute hatten nur ihre schlauen, dunklen Augen zu Schlitzen verengt, sich mit den fetten Händen über die gemütlichen Bäuche gestrichen und ihm unfehlbar immer mit dem gleichen Argument geantwortet.
»Wir sind die einzigen, für die der Extrakt überhaupt einen Wert hat«, lächelten sie selbstgefällig und zerquetschten ihn damit wie eine lästige Fliege. Aber Ralambo hatte ein Gegenargument vorgebracht. Warum sollten diese Inder die einzigen sein, die diesem Extrakt einen Wert beimaßen, dessen Ausgangsstoffe die Afrikaner so grimmig bewachten? Was sie oder ihre Kunden entdeckt hatten, könnten doch auch andere herausfinden. Er würde den Stoff nicht nach Osten, sondern nach Westen bringen. Irgendwo mußte es doch einen Mann geben, der weise genug war, um ebenfalls entdecken zu können, was die Inder daran so hoch schätzten …
Auf seinem Rundgang über das Schiff blieb der Kapitän kurz stehen und lehnte seinen massigen Körper neben Ralambo über das Heckbord. In einem seltenen Anflug von Gesprächigkeit erklärte er dem hoch aufgeschossenen, dunkelhäutigen Passagier, man sei auf dem Weg nach Piräus, wo man eine Ladung Weizen aufnehmen werde, die für den Heimathafen des Schiffes, Venedig, bestimmt sei. Durch die kurz aufgeflackerte Herzlichkeit des Seemanns ermutigt, fragte Ralambo ihn: »Leben in einer dieser beiden Städte die weisesten Männer des Westens?«
»Wenn Ihr weise Männer sucht, so müßt Ihr weiter reisen, als Ihr vorhattet, so weit nach Westen, wie es nur geht, denn nur in Córdoba könnt Ihr die größten Gelehrten des Mittelmeerraumes finden.«
Ralambo wollte gerade fragen, wie weit es von Sevilla nach Córdoba sei, aber da hatte sich der Kapitän schon abgewandt und seinen Rundgang erneut aufgenommen.
Einer nach dem anderen versammelten sich die restlichen Passagiere an Deck. Es waren wohlhabende venezianische Kaufleute, die sich leise miteinander unterhielten und den Sohn der Roten Insel ignorierten, der nun mit angezogenen Knien auf seiner Lamba saß, die Arme um die Beine geschlungen, die nackten Füße an den Knöcheln gekreuzt, den starren Blick ins Nichts gerichtet. Gerne hätte er auch sie gefragt, wo die weisesten Männer des Westens zu finden seien, aber es war ein solcher Hochmut um sie, daß sie ihn einschüchterten. Dieses Gefühl war ihm nicht neu. Als Sohn einer melanesischen Mutter und eines afrikanischen Vaters war er von Kindesbeinen an von beiden Völkern verachtet worden, die auf der Großen Roten Insel nicht gerade freundschaftlich zusammenlebten, die Melanesier in den kühleren Bergregionen, die Afrikaner entlang der heißen Küste. Auf der Suche nach einer Zuflucht vor den Belästigungen beider Seiten, nach einem Ort, wo er mit seiner zarten asiatischen Frau – ›meiner kleinen Porzellanpuppe‹, wie er sie nannte – in Frieden leben konnte, hatte sich sein Vater in den Ausläufern der Berge zwischen den beiden Gebieten niedergelassen. Er hatte zurückgezogen gelebt. Inmitten des üppigen immergrünen Regenwaldes und der violetten und blauen Jacarandablüten, fasziniert von den winzigen Vögeln, deren glänzende bunte Federn in der Sonne schimmerten wie Edelsteine in einer saftigen grünen Fassung, hingerissen von den Schmetterlingen, deren zahllose auffällige Muster ein Fest für sein schönheitsliebendes Auge waren, hatte er sich kaum je in die weite Welt hinaus gewagt. Wenn Ralambo immer von einer Reise in den Westen geträumt hatte, dann nicht nur, weil er von Natur aus neugierig und rastlos war. Er wollte auch aus der Abgeschiedenheit ausbrechen, in der er aufgewachsen war, und von der Insel entkommen, zu deren beiden Volksstämmen er nicht gehörte. Im Westen würde er ein Fremder sein, aber kein Ausgestoßener, der wegen seines gemischten Blutes verachtet wurde.
Gegen Abend versammelten sich die Matrosen auf dem Achterdeck und ließen eine Korbflasche kreisen, aus der sie alle in langen, schmatzenden Zügen tranken. In einer freundlichen Geste reichte einer von ihnen die Flasche auch an Ralambo weiter, der so trank, wie er es von den anderen gesehen hatte. Er schauderte beim Geschmack der rötlichen Flüssigkeit, die ihm scharf auf der Zunge brannte, lächelte aber anerkennend, um die Seeleute nicht zu beleidigen oder gar in ihren Augen lächerlich zu erscheinen. Die Flasche ging einmal, zweimal, dreimal, viermal herum, und Ralambo trank, wenn er an der Reihe war, wie alle anderen. Dann jedoch begannen seine Wangen zu glühen, es drehte sich ihm alles vor Augen, und ihn überfiel eine unerklärliche Müdigkeit. Leise zog er sich aus dem Kreis der lauten Matrosen zurück, legte sich auf seine Lamba und fiel in trunkenen Schlaf bis zum Mittag des nächsten Tages.
Demitrios ging unruhig auf und ab, immer auf und ab im halbmondförmigen Hafen von Rhodos. Er war ein Opfer seiner eigenen Unentschlossenheit. Wie oft durfte ein Mann sein Schicksal herausfordern? fragte er sich, hatte immer noch nicht ganz begriffen, wie er den unaussprechlichen Schrecken heil hatte entkommen können, die er seit seiner Ankunft in Chasarien durchlebt hatte. Der König hatte ihn herbeigerufen, damit er dessen kranken Bruder behandelte. Doch einen Tag zuvor waren Berichte eingetroffen, daß die Russen auf den Don zu marschierten. Bei seiner Ankunft im herrlich vergoldeten Palast hatte man ihm nicht einmal genug Zeit gelassen, sich zu baden und nach der langen Reise aus Byzanz ein wenig zu erfrischen.
»Wir müssen in aller Eile in die Festung Sarkel«, hatte ihn König Judah gedrängt und ihn rasch durch eine Reihe goldener Kammern geführt, die verlassen waren, da die Elite des Königreiches in die Schlacht gezogen war. Der gedrungene, bärtige Herrscher hatte ihm die Zügel eines kräftigen Pferdes gereicht, dem man eilig einen Sattelteppich übergeworfen hatte, und ihm knapp erklärt: »Solche Überfälle häufen sich in letzter Zeit. Die Russen versuchen uns zu zermürben, damit sie uns eines Tages ganz erobern können, um einen vor fünfzehn Jahren begonnenen Plan zu vollenden. Wir erwarten, daß sie wie immer in Sarkel angreifen, wo man den Fluß durch die Sümpfe und über die Furten am leichtesten überqueren kann. Wir müssen die Russen unbedingt zurückdrängen, ehe sie einen Fuß auf unser Territorium setzen. Dank der Festung, die Eure Landsleute vor über einem Jahrhundert dort für uns errichtet haben, sind wir ihnen bisher immer erfolgreich entgegengetreten, aber wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«
»Was ist aber mit Eurem Bruder?«
»Als ehemaliger Oberbefehlshaber des Heeres hat er sich kategorisch geweigert, hierzubleiben. Ich habe ihn auf einer Trage vorausgeschickt. Unsere Haupttruppen sind im Morgengrauen aufgebrochen. Wenn Ihr schnell reitet, könnt Ihr sie noch einholen. Wir treffen uns in der Festung«, schloß er und stampfte davon, um einer Kavallerieeinheit, deren feurige Pferde schon ungeduldig mit den Hufen scharrten, seine Befehle zu erteilen.
Es war alles ein grauenvoller Irrtum gewesen. Dieses Mal war das Auftauchen der Truppe, scheinbar nur ein weiterer Überfall im Zermürbungskrieg der Russen, lediglich ein Ablenkungsmanöver gewesen, um die Chasaren in Richtung Nordwesten zu ihrer flußaufwärts gelegenen strategischen Festung zu locken. In der Zwischenzeit drangen die Haupttruppen der Russen von Süden her das Tal des Don hinauf und überrannten problemlos die schwach besetzten Festungen, die König Judah dort zurückgelassen hatte. Als ihn die Nachricht vom vollen Ausmaß der Katastrophe erreichte, waren König Judah und seine Mannen bereits umzingelt. Sie konnten den russischen Angreifern, die Zeit gehabt hatten, sich gegenüber von Sarkel auf dem rechten Flußufer auf erhöhtem Gelände einzugraben, nichts entgegensetzen. Es war keineswegs einer der üblichen Überfälle, vielmehr war diesmal der Angriff auf die Festung der Chasaren Teil einer großen russischen Offensive, mit der man das heiß begehrte Königreich in die Knie zwingen wollte.
Anstatt den Bruder des Königs zu behandeln, der auf der Reise nach Sarkel sein Leben ausgehaucht hatte, kümmerte sich Demitrios nun um die Verwundeten, die wenigen ›Glücklichen‹, die die Kämpfe und die erbarmungslosen Sümpfe des Flußtals überlebt hatten, wo die Schlacht getobt hatte. Von morgens bis abends und bei Nacht sogar im flackernden Schein einer einzigen Kerze hatte er gebrochene Knochen geschient, Wunden versorgt und versucht, mit freundlichen Worten das Los derjenigen zu lindern, für die er nichts mehr tun konnte. Was für eine völlig andere Welt, als sich um die Blähungen der reichen byzantinischen Händler zu kümmern oder um die Migräne ihrer verzärtelten Frauen, für die er auf Abruf bereitzustehen hatte …
Eines Nachts, als er gerade einem Soldaten, dem er das Bein abgenommen hatte, den groben Beißkeil zwischen den Zähne herausnahm, kam der König und kniete sich neben ihn. Sein Bart war zerzaust, die Augen blutunterlaufen, die Kleider zerrissen und mit Schlamm bespritzt. Er zog den Arzt in eine Ecke des Behandlungsraumes, packte Demitrios bei der Schulter und begann eindringlich zu sprechen.
»Ich weiß nicht, was in der morgigen Schlacht mit mir und meinen Leuten wird, aber welches Schicksal uns auch immer erwartet, Ihr sollt es nicht teilen müssen. Soeben wird ein kleines Ruderboot mit dem wenigen Proviant, den wir entbehren können, auf dem Fluß zu Wasser gelassen. Ihr müßt unverzüglich im Schutze der mondlosen Nacht darin fliehen. Wenn Euch die Russen gefangennehmen, so wird Euch Euer ärztliches Geschick retten. Ich erbitte nur eine Gegenleistung für diese Chance, Euer Leben zu retten. Wer weiß, vielleicht ist es mein letzter Wunsch.«
Er packte Demitrios' Schulter noch fester, als er mit wild glühenden Augen hastig fortfuhr: »Es ist ungeheuer wichtig, daß das Schicksal meines Königreiches jenseits des Kaspischen und Schwarzen Meeres bekannt wird. Vor vielen Jahren erhielt ich einmal ein Schreiben von einem gewissen Da'ud ibn Yatom, einem großen jüdischen Arzt in Córdoba, der etwas über die Art und die Religion meines Landes zu erfahren suchte. Ich weiß nicht, ob ihn meine Antwort je erreicht hat. Meine Bitte ist nun, daß Ihr nach Córdoba reist, ihn aufsucht und ihm folgendes mitteilt:
Es stimmt, daß vor zwei Jahrhunderten unser großer Herrscher Bulan und seine engsten Gefolgsleute den jüdischen Glauben angenommen haben. Sie entschlossen sich dazu nach einer Debatte zwischen den Vertretern der drei großen Religionen: einem Repräsentanten Eures eigenen orthodoxen Christentums, wie man es im mächtigen byzantinischen Reich praktiziert, das von Südwesten her seine Schatten auf uns wirft; einem Sprecher für den Islam, die Religion der Araber, die uns seit Jahrhunderten an unserer südlichen Grenze zu schaffen machen; und einem Vertreter der jüdischen Religion, deren Rabbis keine weltliche Macht haben, für uns also keine Bedrohung darstellen. Wenige Jahre nach der Bekehrung unserer Anführer gelang uns ein triumphaler Sieg über die Araber in den Ländern südlich des Kaukasus, und mit der Kriegsbeute errichteten wir einen Tempel, der dem in der Bibel erwähnten so ähnlich ist wie nur irgend möglich. Später befahl unser König Obadiah, es sollten Synagogen gebaut werden und man solle Schulen einrichten, in denen die Thora und der Talmud denjenigen unter uns gelehrt wurden, die sich von der Schamanenreligion unserer türkischen Ahnen dem Judentum zugewandt hatten. Ich bin ein Nachfahre dieses Obadiah, und die meisten Mitglieder meines Hofstaates sind auch Juden.
Sagt Da'ud weiterhin, daß unser Königreich Zeiten großen Ruhms und großer Macht gekannt hat, Zeiten, in denen es sich weit nach Westen ausdehnte, weit über das Schwarze Meer hinaus. Erzählt ihm, daß wir uns seit Jahrhunderten der Angriffe der Araber südlich des Kaukasus erwehren. Allerdings muß ich zugeben, daß uns dort auch das Glück hold war, denn sie hatten anderswo wichtigere Kämpfe auszutragen. Inzwischen haben sich jedoch die Zeiten geändert, und gegen die übermächtigen Russen haben wir kaum eine Chance. Erzählt all das dem Da'ud ibn Yatom und erzählt ihm auch, daß ich mit dem Sch'ma Israel auf den Lippen sterben werde.« Judah, dessen Mund vor Furcht ganz ausgetrocknet war, nahm einen Schluck Wasser aus seiner Kürbisflasche, ehe er fortfuhr.
»Geht nun, getreuer Sendbote. Rudert vorsichtig zwischen den Sümpfen und Untiefen hindurch, verfolgt einen diagonalen Kurs flußabwärts. Sobald Ihr in sicherer Entfernung vom feindlichen Lager seid, geht an Land. Wenn der letzte Ansturm vorüber ist, nehmen sicherlich die Flößer wieder ihre Reisen flußabwärts auf. Mit einem von ihnen werdet Ihr bestimmt bis zum Schwarzen Meer kommen, wo Ihr eine Überfahrt nach Byzanz finden könnt. Dies hier soll Eure Reise bis Córdoba bezahlen«, fügte er hinzu und reichte Demitrios einen wohlgefüllten Beutel. »Ich denke nicht, daß Eure Reise vergebens sein wird. Ihr könnt gewiß von diesem jüdischen Gelehrten viel lernen, wenn ich nur die Hälfte dessen glauben darf, was er mir über sich geschrieben hat. Geht darum in Frieden, und Gott mit Euch.«
Wie leicht es geklungen hatte, als Judah diese Reise beschrieb, erinnerte sich Demitrios voller Bitterkeit, als er erneut die Bucht von Rhodos umrundete. In der undurchdringlichen Schwärze der Nacht mußte er vor jedem Ruderschlag mit dem Ruder ringsum tasten, damit er nicht mit einer einzigen falschen Bewegung den dünnen Streifen befahrbaren Wassers verließe, über den sein Boot lautlos glitt, und in einem Sumpf endete, aus dem ihn all sein Schreien und Rufen nicht mehr retten würde. Es hatte in jener Nacht nicht die geringste Hoffnung bestanden, das andere Ufer zu erreichen. Er konzentrierte all sein Bemühen nur darauf, in diesem schmalen Wasserband zu bleiben und sich nach Süden zu bewegen. Als einmal eine Sekunde lang seine Aufmerksamkeit nachließ, spürte er schon, wie der Bug des Bootes auf eine Sandbank auflief. Starr vor Schrecken, falls er etwa den einzelnen russischen Wachtposten aufweckte, der ein wenig weiter flußaufwärts schlummerte, stieß er sich mit seinem Ruder wieder ins Fahrwasser zurück.
In kaltem Angstschweiß gebadet, bewegte er sich die ganze Nacht hindurch Zentimeter für Zentimeter vorwärts, doch als im Osten die erste bleiche Morgendämmerung leuchtete, war er nur wenig vorangekommen. Aufmerksam blickte er sich in der nun weniger undurchdringlichen Finsternis um, versuchte seine Position zu bestimmen. Zu seinem großen Schrecken stellte er fest, daß er immer noch die massige Kalksteinfestung Sarkel und am gegenüberliegenden Ufer die russischen Truppen ausmachen konnte, die allmählich aus dem Schlaf erwachten und die schwelende Glut der Abendfeuer wieder anfachten, um sich eine Morgenmahlzeit zuzubereiten. Jeden Augenblick würden nun die Wachtposten am Ufer entlanggeritten kommen, die man weiter flußabwärts aufgestellt hatte, um die Flanken der Truppen zu schützen, die sich zum letzten Ansturm auf Sarkel bereitmachten. Koste es, was es wolle, er mußte Deckung finden.
Durch das heller werdende Grau des Morgens erspähte er eine Sandbank, die nur wenige Ruderschläge entfernt lag und von dichtem Schilf überwachsen war. Rasch ruderte er dorthin, setzte mit äußerster Vorsicht einen Fuß nach dem anderen auf den schlammigen Boden, bis er ganz sicher war, daß er nicht nachgeben würde. Dann zerrte er das Boot hinter sich an Land und duckte sich ins Schilf. So kauerte er den ganzen Tag, von panischer Angst erfüllt, daß selbst die kleinste Bewegung die Aufmerksamkeit der Soldaten erregen könnte. Zwischen den schlanken Schilfrohren hindurch konnte er den weiteren Flußlauf erkennen und ihn sich für die folgende Nacht einprägen.
Den ganzen Tag lang tobte die Schlacht, erschollen die verzweifelten Schreie der Verwundeten, die im Sumpf versanken, vermischten sich mit dem Klirren der Schwerter und dem Zischen von Tausenden von Pfeilen, die über das Tal hin und her schwirrten. Bei Einbruch der Nacht drangen andere Töne an sein Ohr. Aus der einstmals mächtigen Festung der Chasaren erscholl rauhes Siegesgebrüll aus Hunderten von russischen Kehlen …
Während die siegreichen Krieger feierten, war er von der Sandbank zurück ins Wasser geschlichen, nun des Kurses sicher, den er den ganzen Tag über geplant hatte. Im nächsten Morgengrauen befand er sich unweit des rechten Flußufers und außer Reichweite der russischen Truppen. Beim ersten Morgenlicht hielt er nach einer passenden Landestelle Ausschau, wo er die steile Böschung hinaufklettern konnte, die in Abständen immer wieder von tiefen Klüften durchzogen war. Schließlich entdeckte er einen geeigneten Platz, stützte sich auf das Ruder und setzte vorsichtig Fuß um Fuß, bis er unter großen Mühen die Böschung erklommen hatte. Kaum war er oben angekommen, sackte er erschöpft zusammen.
Er hatte den größten Teil des Tages geschlafen. Aber als er aufwachte, stand er einem neuen Schrecken gegenüber: dem des Verhungerns. Von dem spärlichen Proviant, den ihm Judah mitgegeben hatte, war nichts mehr übrig, und als er sich umschaute, sah er nur die unendliche Weite der Steppe, ohne jegliche menschliche Behausung. Verzweifelt suchte er im Bewuchs des Flußufers nach Beeren, Wurzeln, nach irgend etwas, das ihm die Hungerkrämpfe lindern könnte, die an ihm nagten, das den Schwindel in seinem Kopf zum Stillstand bringen, seine zitternden Knie stärken würde. Nichts. Er wagte nicht, sich zu weit vom Flußlauf zu entfernen, damit er die Flößer nicht verpaßte. Und dann schwebte vor seinen vernebelten Sinnen eine verschwommene Erinnerung. Irgendwo, fiel ihm ein, hatte er gelesen, daß Schilfwurzeln eßbar seien. Er hatte keine Wahl, er mußte die Böschung wieder hinabrutschen und mit letzter Kraft die robusten Pflanzen mitsamt der Wurzel ausreißen.
So hatte er zwei ganze Tage überlebt, ehe er ein Floß erspähte, das langsam den Fluß hinuntergefahren kam. Einige geschickte junge Männer sprangen leichtfüßig von einem Baumstamm zum anderen, lenkten das Floß weg von den trügerischen Sümpfen ins Fahrwasser. Der Kapitän, ein übelriechender Klotz von einem Kosaken erklärte sich schließlich – gegen einen beträchtlichen Teil der Münzen aus Judahs Beutel – widerwillig bereit, ihn auf seinem schmalen Floß mitzunehmen und mit ihm das trockene Brot, das Salzfleisch, den schimmeligen Käse und Knoblauch, ihren einzigen Proviant, zu teilen. »Kein Alkohol«, grunzte er. Der war ihm allein vorbehalten. Nachdem Demitrios den Brocken groben Schwarzbrots heruntergewürgt hatte, den ihm der Kosak zuwarf, war er erschöpft niedergesunken und hatte beinahe die ganze lange und langsame Floßfahrt flußabwärts verschlafen. Zum Glück hatte er das Rütteln und Rucken der Baumstämme nicht mitbekommen, die mit dem Floß zusammenstießen, war taub für die kehligen Flüche und das übellaunige Knurren des Flößers gewesen, der auf seinem Knoblauch kaute und rülpste und furzte, wenn er nicht gerade seinen Mietlingen Befehle zubrüllte.
Erst nachdem er in Taman an Bord eines Schiffes gegangen war, atmete er auf. Es kam natürlich nicht in Frage, daß er ins ferne Córdoba reisen würde, trotz König Judahs letztem Wunsch. Ihn beherrschte nur noch eine einzige Sehnsucht: nach Hause zurückzufahren, stundenlang in einem heißen Dampfbad zu schwitzen und dann behaglich zwischen seidenen Laken zu liegen, die üppig weichen Rundungen seiner Frau unter sich. So malte er sich gerade die Heimkehr aus, als aus heiterem Himmel am Horizont plötzlich bleierne Wolkenbänke aufzogen. Die Sonne verfinsterte sich, große Regentropfen fielen schwer auf das Deck. Die See wurde unruhig, begann zu steigen und zu kabbeln. Das Schiff tanzte wild auf den Wellen, die Mannschaft hielt mit aller Kraft die Segel gegen den Wind, während Blitze die Luft durchschnitten und der Regen wie ein aufgeplusterter Vorhang über die schräg liegenden Decks gepeitscht wurde. Zwei Tage und eine Nacht toste der Sturm. Demitrios tat das einzig Mögliche: Er betete – zu Christus, zu Maria, zu Gottvater selbst, flehte, wie er nie zuvor gefleht hatte. Jetzt wußte er, warum die Türken dieses trügerische Wasser ›schwarz‹ nannten, und während sein Leben an ihm vorüberzog, fragte er sich, welches Verbrechen er wohl begangen hatte, um eine solche Strafe zu verdienen. Als wie durch ein Wunder das Schiff dann doch in den ruhigen Wassern des Bosporus schaukelte und zur Stille des Goldenen Horns vordrang, schwor er feierlich, zum Dank für seine Errettung würde er tun, was er dem Juden versprochen hatte, der ihm das Leben, gerettet hatte.
Wenn er Córdoba erreichen und noch vor dem Winter zurückkehren wollte, mußte er beinahe unverzüglich von Konstantinopel aufbrechen. Während der kurzen Ruhepause, die er sich gönnte, fand er heraus, welchem Kloster der Mönch Nicolas angehört hatte. Der dortige Prior schüttelte nur traurig den Kopf. Seine glatte weiße Hand ruhte auf dem silbernen Kruzifix, das er auf der Brust trug, als er erklärte: »Unser geliebter und gelehrter Mitbruder ist im vergangenen Jahr verstorben, aber ich erinnere mich noch an den jüdischen Gelehrten, mit dem er zusammengearbeitet hat. Es war Da'ud ibn Yatom, ein Jude von ungewöhnlicher Bildung, wie ich höre.« Nachdem so Judahs Worte bestätigt waren, machte sich Demitrios mit einer gehörigen Portion Optimismus auf die Reise. Vielleicht ließ sich wirklich etwas von diesem Juden lernen, dessen Ruf so weit verbreitet war. Aber als das griechische Schiff, auf dem er die Reise nach Spanien angetreten hatte, in der Ägäis in heftige Stürme geriet, beschlich ihn das Gefühl, daß das Schicksal mit ihm spielte. Erfüllte er nicht das Versprechen, das er dem König der Chasaren gegeben hatte? Warum dann diese erneute Qual? Wenn so die ganze restliche Reise nach Sevilla aussehen sollte, war es dann überhaupt klug, sie auf sich zu nehmen? Er konnte schließlich alles, was ihm Judah anvertraut hatte, niederschreiben und diesen Brief mit einem vertrauenswürdigen Sendboten nach Córdoba schicken. Immer wieder war er seit seiner unter einem ungünstigen Stern stehenden Ankunft in Itil gerade eben noch mit dem Leben davongekommen. Durfte er es wagen, das Schicksal noch einmal herauszufordern? fragte er sich, als sein Schiff in den geschützten Hafen von Rhodos einlief.
Bei näherem Hinsehen hatte sich herausgestellt, daß das Schiff erst nach gründlichen Reparaturen wieder seetüchtig sein würde, doch jegliche Verzögerung der Abreise stellte seine Rückkehr nach Byzanz vor Ende des Sommers in Frage. An jenem Morgen suchte jedoch ein robustes venezianisches Handelsschiff gleichfalls Zuflucht vor den wilden Wassern der Ägäis und ging im sicheren Hafen von Rhodos vor Anker. Sobald die Elemente sich beruhigt hatten, würde es die Segel erneut setzen und sein Reiseziel Sevilla ansteuern. Sollte er an Bord gehen oder so schnell wie möglich in die Sicherheit von Byzanz zurückkehren? Christus im Himmel, lenke meine bescheidenen Schritte, betete Demitrios und machte am Ende des weiten Hafenrunds kehrt, um seinen Rundgang erneut aufzunehmen.