5

Körperlich erschöpft und im Herzen ermattet vom Sturm der Gefühle, den er in den letzten Stunden des Einsiedlers durchlebt hatte, schlief Da'ud den ganzen restlichen Tag und die folgende Nacht hindurch. Als er am nächsten Morgen erfrischt und in vertrauter Umgebung erwachte, hatte er sein Gleichgewicht beinahe wiedererlangt, vertrieb ihm das angeborene Selbstvertrauen die Zweifel, die der Einsiedler in seinem Denken geweckt hatte, ob es etwa anmaßend sei, gegen den Willen Gottes anzukämpfen. Jetzt war nicht die Zeit für philosophische Betrachtungen. Er mußte all seine Energie auf die Suche nach dem handakuka bündeln, alles andere hatte zu warten. Nachdem er die griechischen und arabischen Texte erschöpfend befragt hatte, mußten nun andere Wissensquellen gefunden werden, andere Einsiedler, hier oder anderswo …

Da'ud verließ das Haus, ehe sich sonst jemand gerührt hatte, und machte sich auf den Weg zum Marktplatz. Dort trafen Menschen aus Ost und West, aus Nord und Süd zusammen, um zu kaufen und zu verkaufen, um Waren, Güter, Sklaven – und Informationen – zu tauschen und zu handeln. Zu dieser frühen Morgenstunde waren die Straßen noch menschenleer. Die kahlen Wände, die sie säumten, schlossen die Wohnhäuser gegen die Außenwelt ab und schützten diejenigen, die drinnen wohnten, vor neugierigen Blicken. Es war wie in einer Geisterstadt. Aber als sich Da'ud dem Marktplatz näherte, wurde er in die stille Geschäftigkeit hineingezogen, in die Vorbereitung auf das emsige Leben des Marktes, in jene ungesehenen Stunden, in denen eine Stadt zu erwachen beginnt. Hoch aufgeschossene berberische Fellachen, deren Schritt so würdevoll war wie der ihrer Kamele, trugen auf dem Kopf Körbe voller glänzender schwarzer Oliven und dunkelblauer Trauben, Orangen, Aprikosen und runder gelber Melonen. Bäcker klopften Teig flach für die Pitas des Tages, formten ihn rund für Brötchen. Konditoren buken aus Blätterteig und stark duftendem Ziegenkäse goldene Wunder, die schon bald von den Straßenverkäufern in der ganzen Stadt wohlfeil gehalten würden. Nach und nach wurden die hölzernen Läden vor den schattigen Nischen entfernt, wo die Kunsthandwerker ihre Ware ausstellten und ihren Berufen nachgingen: die Töpfer und Kupferschläger, die Lederarbeiter und Seidenweber wünschten einander einen einträglichen Tag.

Starker Moschusduft stieg Da'ud in die Nase, als er auf den offenen Platz trat, und aus der gleichen Richtung drangen wütende Flüche an sein Ohr. Ein Parfümverkäufer hatte, während er seinen Stand aufbaute, einen Flakon der kostbaren Flüssigkeit verschüttet. Da'ud näherte sich ihm mit leisen Schritten und kaufte ihm für einen großzügigen Betrag das wenige ab, das noch auf dem Boden der kleinen Flasche übrig war. Entzückt und begierig darauf, einem so großzügigen Kunden alles recht zu machen, goß der Händler das Parfüm sorgfältig in ein kleines Bronzefläschchen um und träufelte dann ein wenig über Da'uds bewegliche, schmale Finger, ehe er das Behältnis verkorkte. Während er das machte, fragte Da'ud ihn wie beiläufig: »Wann erwartet Ihr wieder einmal radanitische Kaufleute bei uns?«

»Radaniten? Ihr meint gewiß die jüdischen Kaufleute, die vieler Sprachen mächtig sind und von Frankreich durch Spanien nach Ägypten reisen, um von dort nach Arabien und in den Orient zu segeln?«

»Genau die.«

»Es ziehen heutzutage nicht mehr viele von ihnen auf den Handelsstraßen nach Osten. Die Venezianer haben sie beinahe ganz verdrängt. Ich erinnere mich noch, daß mein Vater von ihnen Moschus und Kampfer kaufte, wenn sie aus Indien und China zurückkehrten. Und bei uns erwarben sie Seide und Leder, um es den orientalischen Fürsten anzudienen. Die wenigen, die noch übrig sind, erscheinen ab und zu, meistens mit Sklaven aus Prag. Die Slawen sind sehr gefragt, die Männer als Soldaten und Arbeiter im Dienste des Kalifen, die Frauen für die Harems der Reichen – besonders die Rothaarigen«, fügte er mit einem anzüglichen Zwinkern hinzu. »Die Omaijaden sind ganz versessen auf sie. Sucht Ihr ein hübsches junges Ding für Euch selbst?«

»Nein, keineswegs. Ich interessiere mich für die Kaufleute, nicht für ihre Ware.«

»Dann fragt den Unterhändler da drüben, wann der nächste Sklavenverkauf angesetzt ist. Vielleicht findet Ihr bei den Händlern einen Radaniten.«

Da'ud dankte dem Mann und überquerte den Marktplatz. Der Unterhändler saß auf einem niedrigen Lederhocker und schaute eine Liste von Pferde- und Sklavenauktionen durch, die er in Kürze ankündigen würde. Ja, erwiderte er auf Da'uds Anfrage, in Kürze solle ein Sklavenverkauf beginnen. Um sich die Wartezeit zu vertreiben, schlenderte Da'ud zu einem Obststand und wählte sich dort eine Aprikose aus, die flaumig und weich, gerade reif zum Essen war. Mit sinnlichem Vergnügen ließ er den Finger über die weichen Rundungen gleiten, öffnete die Frucht an der Mulde, die ihn an die reifen Brüste einer Frau erinnerte … Sorgfältig entfernte er den Stein, nachdem er die Aprikose genau untersucht hatte, ob sich auch kein Insekt in ihr verbarg, hieb dann die Zähne in das weiche Fleisch mit dem zarten Aroma. Er wollte sich gerade eine weitere Frucht nehmen, als ihm eine bärtige Gestalt auffiel, ein sonnenverbrannter Mann mit scharfem Blickt, der sich ihm vom Gasthaus näherte, das gleich am Marktplatz lag. Neben dem Mann schritt ein schmales Mädchen, die schlanke Hand lose in die seine gelegt, die Augen fest zu Boden gerichtet, so daß man nur ihren üppigen rostroten Haarschopf sehen konnte. Hinter den beiden ging, von einem stämmigen Wachmann angeführt, ein halbes Dutzend junger Männer mit gebräunten Gesichtern, die wilden Augen trotzig und aufmüpfig. Kaum hatten sie den Ort des Sklavenmarktes erreicht, da erschien neben ihnen schon ein Beauftragter des Kalifen in Begleitung eines Imams mit Turban, der ihnen den üblichen Handel vorschlug: ihre Freiheit im Tausch gegen den Übertritt zum Islam, gefolgt von der Rekrutierung in die Armee des Kalifen.

»Mit der Beute, die ihr aus der Schlacht mit nach Hause tragt, könnt ihr eines Tages ein Stück Land kaufen, und wenn ihr hart arbeitet, werdet ihr damit reich wie andere eures Schlages schon vorher«, versprach ihnen der Agent des Kalifen. »Und die Jungfrau …«

»Nein!« unterbrach sie der Händler mit barscher Stimme. »Sie ist noch ein Kind. Sie steht nicht zum Verkauf.«

»Wie Ihr wünscht«, meinte der Beauftragte des Kalifen und zuckte gleichgültig die Achseln, während er die jungen Männer von Kopf bis Fuß musterte.

»Mein Herr zahlt Euch jeden geforderten Preis für so eine«, fuhr eine hohe Stimme dazwischen.

»Du schon wieder«, gab der Händler mit einiger Verachtung zurück. Er kannte den Eunuchen gut. Er war auch Slawe, man hatte ihn als Kind verkauft und kastriert. Inzwischen war er der getreue Diener eines Prinzen aus dem Haus der Omaijaden und war ständig auf der Suche nach neuen Leckerbissen, mit denen er den abgestumpften sexuellen Appetit seines Herren noch reizen konnte.

»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Sie steht nicht zum Verkauf, weder für den Kalifen, noch für seinen Neffen, noch für sonst jemanden.«

Nach dem rituellen Feilschen kaufte der Beauftragte des Kalifen die männlichen Sklaven, und der Imam führte sie fort, damit sie zum Islam übertreten konnten. Auch der Eunuch tänzelte davon, um anderswo seine Beute zu suchen. Erst dann trat Da'ud auf den Händler zu und grüßte ihn in hebräischer Sprache. Beim Klang der vertrauten Worte flog ein Lächeln des Erkennens über das Gesicht des Mannes, auch das Mädchen hob die Augen – ein kurzer Blick in ein tiefblaues Meer.

»Heute sind keine jüdischen Sklaven auszulösen«, teilte ihm der Radaniter mit.

»Deswegen bin ich nicht hier. Ich bin Arzt und möchte etwas über eine Pflanze herausfinden, die unter dem Namen handakuka bekannt ist. Zu Zeiten der Antike war sie als ein wirksames Gegengift gegen den Schlangenbiß bekannt, aber heute weiß kaum noch jemand von ihr.«

»Ich bin der letzte auf der Welt, den Ihr dazu befragen solltet. Ich kenne mich mit Pflanzen nicht aus.«

»Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Ich hatte gehofft«, erklärte Da'ud, während er eine Handvoll Goldmünzen in die ledrige Hand des Kaufmanns gleiten ließ, »ich hatte gehofft, Ihr würdet Euch bereit erklären, die Reisenden, die Ihr auf Euren Wegen trefft, besonders jene aus östlichen Ländern, zu befragen, ob sie von einer solchen Pflanze je gehört haben. Wenn das so ist, dann könntet Ihr Euch auch noch erkundigen, ob sie noch einen anderen Namen für dieses Gewächs kennen, noch besser, ob sie Euch einen Ableger für mich mitgeben könnten.«

»Dagegen habe ich nichts einzuwenden«, erwiderte der Mann und warf einen anerkennenden Blick auf die erkleckliche Summe auf seinem Handteller. »Aber es werden viele Monate vergehen, ehe ich wieder nach Córdoba zurückkehre. Wenn Ihr jedoch einen wirksamen Theriak sucht, dann kann ich Euch etwas anbieten, das wir Radaniten schon vor vielen Jahren entdeckt haben, als wir in Afrika Handel trieben. Dies hier tragen wir immer bei uns.«

Mit skeptischer Miene beäugte Da'ud den Mann, während der einen Beutel aus seinen Gewändern hervorzog und ihm einen grünen Stein entnahm, der die Form einer Eichel hatte. »Bezoar«, sagte der Händler und hielt Da'ud den Stein auf dem Handteller hin, damit er ihn genau betrachten konnte.

»Das ist das persische Wort für ›Schutzschild gegen Gift‹«, rief David aus, dessen Erregung deutlich wurde, »aber die alten Quellen erwähnen ihn nicht.«

»Ihr habt vielleicht die Klassiker studiert, junger Meister, aber ich habe reiche Erfahrung in der wirklichen, lebendigen Welt gesammelt. Diesen Stein findet man in der Gallenblase des Elefanten. Wir zermahlen ihn zu Staub, vermischen ihn mit Öl und flößen ihn dem Opfer der Schlange ein. Wir machen auch eine Paste daraus, die wir auf die Bißstelle auftragen. Ich habe mehr als einen Unglückseligen gesehen, der so gerettet wurde.«

»Wo habt Ihr diesen Stein her?« drängte Da'ud den Mann und ließ alle Goldmünzen, die er noch bei sich hatte, in dessen ausgestreckte Hand fallen. In jenem Augenblick hätte er dem Mann ohne Zögern seinen gesamten Besitz gegeben, denn dieser unerwartete Fund war genau das, was er jetzt brauchte, um den Kalifen so lange hinzuhalten, bis es ihm gelungen war, auch das handakuka zu finden.

»Wenn nötig, so reise ich über die See nach Ägypten, wo ein Elfenbeinhändler, den ich kenne, damit handelt.«

»Es ist nötig, jetzt und für mich.«

»Es tut mir leid, junger Herr, aber ich plane im Augenblick keine solche Reise. Ich muß mich um dieses arme junge Geschöpf kümmern.«

»Wer ist sie?«

»Ich weiß es nicht. Eine alte Frau hielt mich an, als ich gerade Prag verlassen wollte, und bot sie mir für einen sehr günstigen Preis an. ›Die ist auf dem Markt von Córdoba eine Menge Geld wert, eine blasse junge Rothaarige wie sie‹, kicherte die Alte. ›Und sie ist Jüdin, wie Ihr selbst, und hat keine Menschenseele auf der Welt‹, fügte sie hinzu. Als ich ihr die Münzen in die schmutzige Hand zählte, versuchte ich ein wenig mehr über das Mädchen herauszufinden, doch die Alte verweigerte mir jegliche Auskunft, ballte nur die Faust über dem Geld und verschwand. Sie ist ein seltsames kleines Ding, die kleine Sari. Gewiß, sie ist sehr folgsam, aber viel zu still und zurückhaltend für ein so junges Mädchen. Sie trägt sicher ein überaus schmerzliches Geheimnis mit sich herum, wenn ich mich nicht täusche. Aber inzwischen habe ich mich so sehr an ihre Gesellschaft gewöhnt, daß ich nicht die Absicht habe, mich von ihr zu trennen.«

Da'ud beugte sich herab, legte einen Finger unter Saris Kinn und hob sanft ein wenig ihren Kopf. »Wie schön sie ist!« rief er beim Anblick der leicht schrägen tiefblauen Augen, der hohen Wangenknochen, des lebendigen Mundes und des rostroten, weich gelockten Haares, das ihre beinahe durchsichtige Haut unterstrich. »Ich könnte mich während Eurer Abwesenheit um sie kümmern«, schlug er vor, ohne die Augen von dem Mädchen abzuwenden.

»Wie kann ich sicher sein, daß Ihr sie nicht mißhandeln werdet? Ihr seid jung und kräftig, sie dagegen ist kaum mehr als ein schutzloses, verschrecktes Kind.«

»Ich bin der Sohn von Ya'kub ibn Yatom, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Córdoba.«

»Oh!« rief der Händler aus, sichtlich verlegen. »Das wirft ein anderes Licht auf die Sache. Ich kenne Euren Vater sehr gut. Er hat in der Vergangenheit so manchen jüdischen Sklaven von uns freigekauft. Ein Mann von Ehre. Als sein Sohn besitzt Ihr gewiß die gleichen Tugenden.«

»Dann würdet Ihr mir vielleicht erlauben, Sie von Euch freizukaufen?«

»Ich weiß nicht. Ich habe sie sehr liebgewonnen, müßt Ihr wissen.«

»Dann müßt Ihr an ihr Wohlergehen und ihre Zukunft denken. Was für ein Leben erwartet sie denn, wenn sie Euch weiterhin auf den Straßen Europas begleitet? Wenn sie in unseren Haushalt aufgenommen wird, hat sie ein gutes Zuhause und die Möglichkeit, unter der Schirmherrschaft meines Vaters eine vorteilhafte Ehe zu schließen.«

Der Händler antwortete nicht, hielt den Blick unverwandt zu Boden gesenkt, während er nervös von einem Bein auf das andere trat.

»Wir wollen einen Handel machen«, schlug Da'ud vor, der entschlossen war, den Mann zu der gewünschten Reise zu überreden und das Mädchen unter seine Fittiche zu nehmen. »Ihr vertraut sie bis zu Eurer Rückkehr aus Ägypten meiner Obhut an. Dann soll sie selbst frei entscheiden, ob sie bei uns bleiben oder ihr Vagabundenleben mit Euch wieder aufnehmen will.«

»Das würde mich sehr benachteiligen.«

»Nicht unbedingt. Es könnte sein, daß ihr das geruhsame, seßhafte Leben in einem fremden islamischen Land nicht zusagt.«

»Aber Ihr könntet ihr sehr wohl zusagen – jung, reich, gebildet und elegant in Aussehen und Benehmen.«

Da'ud ignorierte sowohl das Kompliment als auch den unterschwelligen Vorwurf und beharrte: »Ich werde Euch für die Reise reichlich entlohnen.«

»In diesem Falle geht es nicht um Geld. Kommt heute Abend wieder hierher, und dann gebe ich Euch meine Antwort.«

Alle Blüten, die auf den Seiten der botanischen Abhandlungen abgebildet waren, über die Da'ud den Rest des Tages gebeugt saß, schienen in einem tiefblauen Meer zu versinken, in einem Meer von der Farbe von Saris Augen, schienen dann aufzusteigen und vor seinen Augen zu schweben. Mit der gleichen unerbittlichen Selbstdisziplin, mit der er während der Audienz beim Kalifen seine Gefühle bezähmt hatte, versuchte er nun, seine Gedanken von der Verwirrung zu befreien, die das Mädchen in ihm ausgelöst hatte. Wieder und wieder versuchte er die Vorstellung zu zügeln, die seine Phantasie in ihm heraufbeschwor: Sari, wie sie in nur wenigen Jahren aussehen würde, die Brüste gerundet, die Hüften sanft geschwungen, die Lippen leicht geöffnet wie die Blütenblätter einer Blume, begierig, die Wärme des Lebens in sich aufzusaugen. Plötzlich erschien ihm sein der Gelehrsamkeit geweihtes Leben kalt und öde. Wäre nicht die Drohung gewesen, die über ihm schwebte, er hätte seine Bücher augenblicklich im Stich gelassen, Sari gesucht und zu einem Spaziergang am Flußufer eingeladen …

Am Ende eines erfolglosen Tages beim Studium der Bücher kehrte er zum verabredeten Treffpunkt zurück, wo der Händler und das Mädchen, einander locker bei der Hand haltend, bereits auf ihn warteten. Als sie ihn erblickte, ließ Sari die Hand des Händlers los und kam auf Da'ud zu, voller Zurückhaltung, aber nicht widerstrebend. Er erinnerte sich nicht, je eine solche Freude verspürt zu haben.

»Wir sprechen bei meiner Rückkehr wieder miteinander«, sagte der Kaufmann. Zerstreut nickte Da'ud zustimmend, nahm Saris Hand leicht in die seine und führte sie nach Hause.

Während der folgenden Wochen sah Da'ud nur wenig von seiner Schutzbefohlenen. Sie war beinahe ausschließlich der Sorge seiner Mutter anvertraut, lebte im Frauenflügel des Hauses und aß genau wie die anderen Frauen nur am Sabbat mit Ya'kub und ihm. Von Woche zu Woche beobachtete er ihre Fortschritte in der arabischen Sprache, die Sola ihr unendlich geduldig mit Gesten und ermunterndem Lächeln beibrachte. Obwohl sie sich mit Leichtigkeit in den Haushalt der Ibn Yatoms einfügte, blieb Sari weiterhin still und zurückgezogen, hielt stets den Blick zu Boden gesenkt, die Schultern gebeugt, ließ die langen, schmalen Hände locker zwischen den Knien hängen, wenn sie nicht gerade mit einer Hausarbeit beschäftigt war. Die einzige Reaktion, die Da'ud manchmal erkennen konnte, war das Aufflackern staunender Überraschung über die Wärme und Zärtlichkeit, mit der seine Mutter sie behandelte.

Er selbst forschte unverdrossen weiter nach dem geheimnisvollen handakuka. Morgens stand er schon in der Dämmerung auf, streifte durch die Lande und befragte spanische Bauern, arabische Kräuterheiler, berberische Hirten und slawische Ackerbauern, kehrte jedoch jeden Abend unverrichteter Dinge heim. Erst wenn sein Vater ihm versicherte, daß wieder kein Bote gekommen war, der ihn vor den Kalifen zitierte, atmete er ein wenig auf. Jeder Tag, der verstrich, brachte den Bezoar-Stein ein wenig näher, und mit ihm die einzige Hoffnung, ein wenig Zeit zu gewinnen … Die Nächte waren für Da'ud genauso unruhig wie die Tage, denn da spukten ihm Saris blaue Augen durch die Träume, Augen, die so still waren wie seine eigenen, Augen, die ihm nichts von der Kindheit erzählten, die sie erlebt hatte – wenn sie überhaupt so etwas wie eine Kindheit gekannt hatte. Wenn der Kaufmann wieder Ansprüche auf sie erhöbe, dann würde sie ihr Schweigen mit sich nehmen und ihn mit nichts als seiner quälenden Phantasie zurücklassen, mit der Vorstellung, wie sie als heiratsfähige junge Frau aussehen würde, einer Vorstellung, die ihn seit dem Augenblick, als er sie zum erstenmal erblickte, nicht losgelassen hatte. Aber wenn sie sich zum Bleiben entschied, dann würde er sie mit Geduld und Zärtlichkeit aus der Reserve locken, würde ihr Vertrauen einflößen, bis sie bereit war, sich ihm zu öffnen.

Am Vorabend eines Sabbats verfolgte er gerade schweigend die grazilen Bewegungen ihrer langen, schlanken Glieder, während sie sich herabbeugte, um das fein gearbeitete Ledertuch über den Tisch zu breiten, als ihn der Vater aus seiner Träumerei riß.

»Da'ud, mein Sohn, trotz deiner großen Müdigkeit, die sich in deiner Abwesenheit beim heutigen Abendgebet gezeigt hat, muß ich dich doch bitten, der Gemeinde morgen einen Dienst zu erweisen. Rabbi Zacharia ist unwohl, und niemand sonst ist gelehrt genug, um am Nachmittag die Talmudstunde zu übernehmen. Du als einer unserer glänzendsten Gelehrten und als mein Sohn wirst ihn morgen vertreten müssen.«

»Wie du wünschst, Vater.«

»Ich habe dir ein Exemplar der Traktate aus der Bibliothek der Synagoge mitgebracht.«

»Welcher Text wird morgen behandelt?«

»Ketubot, 77 b.«

»Ist das nicht der Abschnitt über die Hautkrankheit, die zu Zitteranfällen führt?«

»Das könnte schon sein«, erwiderte Ya'kub, der vor den Frauen nur sehr ungern seinen Mangel an Wissen offenbarte.

»Es ist schon lange her, daß ich diesen Text studiert habe, aber ich bereite ihn morgen früh vor. Mutter, sag Yusuf, er soll mich morgen in der ersten Tagesdämmerung wecken, wenn ich da nicht bereits auf den Beinen bin.«

Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig. Lange vor Tagesanbruch kämpfte sich Da'ud aus einem fürchterlichen Alptraum ins Wachen, starrte mit vor Schreck geweiteten, verstörten Augen auf die Bücher auf dem Tisch, auf die Pflanzen des Einsiedlers auf der Fensterbank, in dem verzweifelten Versuch, seine Gedanken in der festen Wirklichkeit zu verankern, während der Schrecken des Traums ihn noch in den Klauen hielt.

»Handakuka!« hatte der todgeweihte Einsiedler ihm mit einem abschätzigen Lachen aus seinem zahnlosen, weit aufgerissenen Maul zugerufen. »Ich sag dir, was das ist. Gib mir nur Sari, daß sie mir die alten Knochen wärmt wie seinerzeit die Abischag dem David. Sie ist eine zarte Pflanze, die mit liebenden Händen gepflegt werden muß«, grinste er lüstern und streckte die eisigen, knochigen Finger nach ihr aus.

»Nein!« schrie Da'ud und stellte sich schützend vor das Mädchen.

»Ja!« vernahm er hinter sich eine donnernde Stimme. Als er sich umdrehte, sah er den Kalifen, der ein blinkendes Schwert aus der juwelenbesetzten Scheide zog und es über seinem und Saris Kopf schwenkte. »Ich kann nicht mehr länger warten. Gib sie ihm, oder ihr habt beide euer Leben verwirkt«, drohte er und legte Da'ud die kalte Klinge an den Nacken.

»Gnade, o Herrscher der Gläubigen! Nur noch einen einzigen Tag!« hatte er gerufen und war von seinem eigenen unterdrückten Traumschrei aufgewacht. Immer noch schweißgebadet, wollte er sich gerade auf den Weg in die Badekammer machen, als Yusuf leise ins Zimmer trat, um ihn zu wecken. Er spürte, wie verstört sein junger Herr war, und massierte ihn kurz, während das Badewasser erwärmt wurde. Dann half er ihm beim Baden und Ankleiden und brachte ihm, als er sich zum Lesen hinsetzte, einen Teller Obst, Milch und ein Stück frisch gebackenes Sabbatbrot.

Erfrischt schlug Da'ud das Talmudtraktat auf und blätterte die viel gelesenen Seiten durch, bis er den Abschnitt gefunden hatte, den er studieren sollte. Rasch las er den hebräisch-aramäischen Text, dessen Worte, die er in seiner frühen Jugend genau betrachtet hatte, ihm nun wieder in Erinnerung kamen: »Was ist die Heilung für die Zitterkrankheit? Pila, ladanum, die Rinde eines Nußbaums und abgeschabte Späne von einer gegerbten Haut, akalil malka und der Blütenkelch eines roten Dattelbaums.« Als er die Seite umblätterte, fiel ihm ein Stück Papier, das vom Alter schon ganz durchscheinend und vergilbt war, auf das Knie. Zerstreut hob er es auf und warf nur einen flüchtigen Blick auf die ordentlichen, kantigen hebräischen Buchstaben, die darauf gerade eben noch sichtbar waren. Doch dann bemerkte er etwas Seltsames. Er schaute noch einmal genau hin, wollte den Augen kaum trauen. Einen Augenblick lang standen all seine Gedanken still, waren unfähig, das aufzunehmen, was vor ihm lag, aber schon bald konnte er wieder klar denken. Er konzentrierte all seine Kräfte auf die schattenhaften Wörter und las langsam: »Akalil malka, das heißt Hadnakuka.« Da stand es, starrte ihm von einem brüchigen Stück Papier ins Gesicht, das so alt war, daß es schon bald zu Staub zerfallen würde. Durch einfaches Vertauschen von zwei Buchstaben wurde aus hadnakuka das Wort handakuka – akalil malka! Das kannte er. Auf Arabisch hieß es ilklil al-malik, die Königskrone. Die Römer nannten es beim gleichen Namen, corona realis, was sich im Laufe der Jahrhunderte zum Romanischen coronilla verschliffen hatte. Und das war nichts anderes als der gemeine Steinklee, melilot, dessen skorpionartige Wurzeln als ein wirksames Mittel gegen giftige Bisse bekannt waren. Da'ud warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus, hysterisch vor Erleichterung. Ein Papierfetzen, den ein unbekannter Gelehrter verlegt hatte, hatte dieses Geheimnis unzählige Jahre gewahrt – und das hätte ihn um ein Haar das Leben kosten können! An was für einem feinen Faden sein Schicksal doch durch den Willen Gottes gehangen hatte! In einer Aufwallung frommer Dankbarkeit beugte er sich nieder, um den uralten hebräischen Text zu lesen, flüsterte dann den althergebrachten Segen, den man nach der Errettung aus Todesgefahr und aus Dankbarkeit für das Geschenk eines neuen Tages spricht.