40
Ein Jahr war vergangen, und äußerst widerwillig verließ Amram Leonora, die inzwischen hochschwanger war. Er mußte an einer Versammlung der Würdenträger Granadas teilnehmen, die im Hause des Abu Ali stattfand. Viel lieber wollte er die kühlen, stillen Abende nur noch mit seiner Frau verbringen, sie dann, wenn sie müde war, zu Bett bringen, sich versichern, daß ihr Rücken gut abgestützt war, und die fruchtbare Wölbung ihres Leibes streicheln, ehe er sie zärtlich zur guten Nacht küßte.
Seit er in den Rang eines Wesirs erhoben war, hatte er viele solche Einladungen von den Berberprinzen und den andalusischen Beamten bekommen, die wie er eine gewisse Macht im wachsenden Königreich hatten. Zunächst war er ungeheuer stolz gewesen, daß ihm Gleichgestellte ihn akzeptierten, aber schon bald war der Reiz des Neuen verflogen. Obwohl sein Einfluß bei Hofe täglich wuchs und ihn seinen ehrgeizigen Zielen immer näher brachte, überfiel ihn doch, wenn er sich in diesen Kreisen bewegte, wieder das gleiche ungute Gefühl, das ihn beschlichen hatte, als Habbus ihm den Umhang des Wesirs um die Schultern legte. »Übe dich in Bescheidenheit, mein Sohn, übe dich in Bescheidenheit. Das ist der Preis für das Überleben.« Immer wieder erinnerte er sich an diese letzten Worte seines Vaters, immer wieder machten sie ihm deutlich, daß er mit der Tradition des Hauses Ibn Yatom gebrochen hatte. Zu Leonora sagte er davon kein Wort. Sie konnte ihm nicht helfen, denn es gab keinen Weg zurück. Als Wesir konnte er es sich nicht leisten, die Salons und Säulengänge der großen Häuser Granadas zu meiden, denn in deren Schatten wurden Intrigen geschmiedet, vertrauliche Gespräche belauscht. Auch das war ein Preis, den er zahlen mußte, um zu überleben.
Zu Leonoras Kummer – sie liebte es, ihn im vollen Ornat seines Amtes zu sehen – hatte er an diesem Abend nicht seinen golddurchwirkten Umhang umgelegt, denn es war kein offizieller Anlaß. Schlicht gekleidet bewegte er sich durch die glänzende Versammlung, hörte zu, stellte manchmal Fragen, ließ aber selten selbst etwas verlauten … Hinter einem feinen, durchbrochenen Wandschirm zupften Musiker in scharlachroten und gelben Roben mit Adlerfedern an ihren fünfsaitigen Harfen, doch heute klang ihm die Musik mit ihren starren Rhythmen schrill im Ohr. Er war erleichtert, als sie endlich verstummte, mußte dann aber einem der Gäste lauschen, der ein mittelmäßiges Gedicht zum Lob und Preis des ›Schwertes des Königtums‹ rezitierte. Als die Musiker erneut die Instrumente aufnahmen, spazierte Amram in den Garten hinaus, den die anderen Gäste verlassen hatten, sobald die Nacht kühl geworden war. Lustlos zerrieb er einen Zweig Jasminblüten zwischen den Handflächen und atmete den Duft tief ein. Das einzige Vergnügen für die Sinne am ganzen Abend, dachte er gerade übellaunig, als er Abu Alis vertraute Schritte hörte, die vom Haus her auf ihn zukamen.
»Ihr enthaltet uns heute abend Eure glänzende Gesellschaft vor«, bemerkte sein Gastgeber. »Bedrückt Euch etwas?«
»Eine zeitweilige Müdigkeit, mehr nicht. Meine Frau Leonora ist ihrer Zeit nahe, und ich sorge mich um sie.«
»Wie gut, daß Ihr trotzdem gekommen seid. Wie überaus wichtig, möchte ich sogar sagen.«
Amram verbarg das Gesicht in den zerdrückten Jasminblüten, während er darauf wartete, daß Abu Ali fortfuhr.
»Mein getreuer Freund, König Habbus hat gerade einen unerhörten Brief von Abu Dja'far Ahmad ibn Abbas, dem Wesir von Almeria, diesem eingebildeten jungen Emporkömmling, erhalten.«
»Ein großer Gelehrter und Literat«, bemerkte Amram und hob den Kopf.
»Darin stimme ich Euch gern zu, aber von einer maßlosen Selbstbezogenheit. Er mag mit seiner Abstammung von den Gefolgsleuten Mohammeds prahlen, aber das verleiht ihm noch lange nicht das Recht, diejenigen zu verachten, deren Mut auf dem Schlachtfeld ihnen die Oberhand über die Araber geschenkt hat, die sich als unfähig erwiesen haben, das eroberte Land in ihrer Gewalt zu halten. Es schmerzt ihn zutiefst, daß er einem ehemaligen Sklaven und Söldner dienen muß, und einem Eunuchen noch dazu. Und für uns Barbaren, die er als wilde Krieger ohne jegliche Bildung, Kultur und verfeinerte Sitten sieht, hat er nichts als offene Verachtung übrig. All das mag einmal wahr gewesen sein, aber die Zeiten ändern sich, und schon bald werden unsere Paläste es mit dem Glanz und Prunk der Omaijaden aus vergangenen Zeiten aufnehmen können. Da er weiß, daß er uns die Macht nicht entreißen kann, sucht er nun andere Opfer, an denen er sein Mütchen kühlen kann.«
Amram, äußerlich gefaßt, bereitete sich innerlich auf das vor, was nun folgen mußte.
»Sein jüngster Schachzug besteht darin, daß er sich als Verfechter des Islam ausgibt. In diesem Sinne hat er an uns geschrieben und verlangt, daß Euch, mein Freund, der Titel eines Wesirs aberkannt wird, da es gegen die Gesetze des Islam verstoße, wenn ein Jude Macht über Moslems ausübt.«
»Wenn dies der Wunsch unseres Herrschers ist …«, murmelte Amram, dem Hais Worte im Kopf widerhallten.
»Na, na«, lächelte Abu Ali und gab Amram einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Könnt Ihr Euch vorstellen, daß sich die Berber von Granada einem solchen Pfau beugen? Wer ist denn Almeria zu Hilfe geeilt, als die Abbaditen aus Sevilla angriffen? Und wer hat den Gegenangriff gegen die geführt, die ebenso unsere Feinde wie die Almerias sind? Ihr habt unserem König mit unverrückbarer Treue und ungewöhnlich brillantem Geschick gedient. Warum sollte er Granada Eurer Dienste berauben? Euch zu entlassen würde ihm einen größeren Schaden zufügen als Euch.«
Mit einer bescheidenen Verbeugung nahm Amram diese schöne Lobrede entgegen und erkundete vorsichtig das Terrain. »Wie, meint Ihr, wird Abu Dja'far auf Habbus' Weigerung reagieren?«
»Wenn Zuhair selbst sich stark genug fühlt, dann könnte sein Wesir ihn leicht überreden, sie als einen Vorwand für einen Angriff zu nehmen, in der Hoffnung, sein Reich auf Kosten des unseren zu vergrößern.«
»Almeria ist eine Macht, mit der man rechnen muß. Wie würde sich Eurer Meinung nach Málaga in einem solchen Falle verhalten?«
»Ihr wißt, wie milde und friedliebend der Kalif ist. Er würde zögern, sich einzumischen.«
»Aber vielleicht könnte man ihn überreden, Euch seine Söldner zur Verfügung zu stellen?«
»Die sind ebenfalls Berber und würden wahrscheinlich nur zu gerne die Gelegenheit ergreifen, Abu Dja'far einen Dämpfer zu geben. Und da Ihr eine diskrete, aber einflußreiche Verbündete im Hause der Hammudiden habt«, fügte Abu Ali mit einem wissenden Lächeln hinzu, »sollte es nicht schwierig sein, ihn zu überreden.«
Sofort war Amram hellwach. Nichts konnte trügerischer sein als ein solches unerbetenes Bündnis. Dafür würde er vielleicht eines Tages teuer bezahlen müssen, zu teuer. Doch dieses Angebot auszuschlagen, das könnte über Sieg oder Niederlage für den König entscheiden, der wiederum sein zerbrechliches Schicksal in der Hand hielt …
»Bereitet unsere Truppen deutlich sichtbar auf einen Kampf vor«, fuhr Abu Ali fort. »Wenn diese Drohung nicht ausreicht, um die Almerianer abzuschrecken, dann kämpfen wir für die Ehre der Berber und der Juden.«
Als Abu Ali sich wieder zu seinen anderen Gästen gesellte, ging Amram leise fort, überließ seine Kollegen ihrem Wein und ihren Sinnenfreuden. Er galoppierte rasch nach Hause, als könnte die Geschwindigkeit seine widerstrebenden Gefühle besänftigen: Wut und Zorn über Abu Dja'fars Arroganz, ungeheure Erleichterung über Habbus' Entschlossenheit, sich dessen unverschämten Forderungen zu widersetzen, wenn er sich auch keinerlei Illusionen über dessen Motive machte. Eindeutig lagen Stolz und reines Selbstinteresse dem Handeln des Königs zugrunde, keineswegs der glühende Wunsch, die Ehre seines jüdischen Wesirs zu verteidigen. Doch all diese Überlegungen wurden von der Sorge überschattet, wie er als Jude sich wohl in Zukunft in dem Morast von al-Andalus behaupten könnte. Wenn Habbus einmal nicht mehr war, würden seine Nachfolger mit ihm auch so freundlich umspringen? fragte er sich, als er zu Leonora hineinschaute. Welche Zukunft konnte er dem Kind bieten, von dem sie schon bald entbunden werden sollte?
Als Amram am nächsten Morgen den Albaicin hinaufritt, war er so in seine Pläne für den Feldzug gegen Abu Dja'far vertieft, daß er kein Auge für die Veränderungen hatte, die an den Berghängen vonstatten gingen. Umsichtige Männer, die es in die blühende Berberstadt gezogen hatte und die mit ihr zu Wohlstand gekommen waren, bauten sich im Schatten der uralten Festung herrliche Villen. Und der König, dem klar wurde, daß der verfallene Palast der Omaijaden, mit dem sein Onkel sich zwar noch zufriedengegeben hatte, nun nicht mehr mit seinem neu gewonnenen Ansehen vereinbar war, war schon bald ihrem Beispiel gefolgt. Aus Nordafrika hatte er Steinmetze herbeigerufen, aus Damaskus Handwerksmeister, die aus schlichtem Gips spitzenfeine Gitterwerke zu zaubern vermochten, aus Byzanz die erlesensten Mosaikkünstler, die den Fassaden des herrlichen Baus, der ihm vorschwebte, Glanz und Leben verleihen sollten. Obwohl es Amrams Hauptaufgabe war, die Gelder für dieses ruhmreiche Unterfangen aufzutreiben, zog man ihn als kultivierten Mann auch immer wieder zu Rate, wollte seine Meinung über die Bearbeitung eines Marmorblocks, über die höchst eleganten Proportionen einer Säule erfahren oder einfach nur bewundernde Worte über das komplizierte Gitterwerk eines Stuckpaneels hören, in dem Lotosblumen und Palmetten, dreiblättrige Blüten und Pinienzapfen kunstreich miteinander verschlungen waren. Als Amram sich einen Weg durch die aufgehäuften Baumaterialien und die Handwerker bahnte, die sich überall an der Bergflanke zu schaffen machten, betete er, es mögen nicht wieder derlei triviale Dinge sein, mit denen man ihn heute morgen belästigte.
Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Als er sein Gemach im verfallenen alten Palast betrat, wartete dort schon ein Eunuch auf ihn. Man teilte ihm mit, das ›Schwert des Königtums‹ wünsche, seinen Rat über den Entwurf für ein Mosaik zu hören, das den Haupteingang zum neuen Palast zieren sollte. Zutiefst verärgert folgte Amram dem Eunuchen zur Baustelle. Habbus war bereits ins Gespräch mit den Griechen vertieft, die er nach Damaskus geschickt hatte, um dort die Flüsse und Brücken, die Bäume und Paläste zu studieren, die auf den herrlichen Mosaiken in der großartigen Moschee dieser Stadt abgebildet waren. Über einen improvisierten Tisch gebeugt, lauschte er aufmerksam ihren Erklärungen. Sobald sich Amram dazugesellte, unterbrach er die Künstler mitten im Satz. Ein Blick genügte, und der Eunuch, der Amram begleitet hatte, scheuchte die Griechen wieder an die Arbeit, gab ihnen kaum Zeit, ihre Zeichnungen zusammenzurollen und ihre bunten Steinchen einzusammeln. Während sie davoneilten, führte Habbus Amram von der Baustelle weg, ging mit ihm ein Stück den Berghang hinunter auf einen kleinen Zypressenhain zu, wo er manchmal die Abgeschiedenheit suchte und über die Staatsgeschäfte nachdachte.
»Ihr habt zweifellos von der unerhörten Forderung des Abu Dja'far gehört«, begann er, als sie sich dem Wäldchen näherten.
»Abu Ali hat mir davon erzählt.«
»Da Ihr der Vorwand dafür zu sein scheint, bin ich ganz sicher, daß Ihr Euch nach besten Kräften bemühen werdet, damit wir sicher sein können, siegreich aus dieser Konfrontation hervorzugehen.«
»Wie immer, o Schwert des Königtums, ist Euer Vertrauen gerechtfertigt. Aber um unseren Sieg garantieren zu können, wären wir meiner Meinung nach gut beraten, wenn wir die Söldner Málagas in unsere Reihen aufnähmen.«
»Ich habe diese Möglichkeit bereits in Betracht gezogen, doch ich möchte die Verhandlungen Euch überlassen. Wie Ihr wißt, habt Ihr im Herrscherhaus von Málaga eine getreue Verbündete, die Euch behilflich sein wird.«
Wieder die gleiche Anspielung … Inzwischen waren sie im Hain angelangt. Dort saß auf einer Steinbank, in Wolken aus Seide gehüllt, eine winzige Gestalt: Rasmia.
Darauf war Amram überhaupt nicht vorbereitet. Überrascht und verwirrt wandte er sich, eine Erklärung heischend, an Habbus, doch der König hatte sich bereits wortlos umgewandt und ging mit großen Schritten wieder auf den Palast zu. Dies war einer der seltenen Augenblicke in Amrams Leben, in denen er völlig unschlüssig war, wie er sich verhalten sollte. Diese Situation hatte er nicht voraussehen können. Sie war so ungewöhnlich, daß Rasmia allen guten Sitten trotzte und als erste das Schweigen brach.
»Als Ihr das letzte Mal mit mir zu sprechen geruhtet«, sagte sie und zog die seidenen Tücher fort, die ihr kindliches Erröten verborgen hatten, »versprach ich, daß ich wegen meiner Zuneigung zu Euch stets alle mir zur Verfügung stehenden Mittel zu Eurem Schutz einsetzen würde. Nun hat sich unerwartet eine Möglichkeit dazu ergeben, und ich habe Wort gehalten. Auf mein Beharren hat sich meine Familie in Málaga bereit erklärt, die Truppen Granadas im Kampf gegen Abu Dja'far zu unterstützen.«
Amram war schreckensbleich. Welchen Preis würde sie für ein derart unerbetenes – wenn auch bitter notwendiges – Einschreiten fordern?
Rasmia war bestürzt über seine kühle Reaktion, verfolgte ihr Ziel aber unbeirrt weiter. »Nun? Wollt Ihr mir nicht danken?«
»Auf … auf … welche Weise?« stammelte Amram, völlig verwirrt, weil einmal die Initiative nicht mehr in seiner Hand lag, sondern in den Händen dieses unschuldigen, aber eigensinnigen Kindes.
»Wie Ihr es für richtig erachtet.«
»Vielleicht habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt«, entschuldigte sich Amram in onkelhaftem, ja väterlichem Ton, während er um Fassung rang. »Was erwartet Málaga im Gegenzug für seine Unterstützung?«
»Auf mein Verlangen hin nichts.«
»Und Ihr?«
»Auch nichts. Eine Liebe wie die meine kann man nicht durch Feilschen gewinnen. Im Augenblick ist es mir genug, daß Ihr unversehrt und im Triumph des Sieges aus diesem unerhörten Angriff auf Eure Ehre hervorgeht. Wenn eine Frau liebt, so schenkt sie ohne Einschränkungen. Ich glaube jedoch nicht, daß ein Mann Eurer Umsichtigkeit einer so seltenen Liebe gegenüber auf immer gleichgültig bleiben kann oder ihren unschätzbaren Wert nicht erkennt. Eure Wertschätzung dieser Liebe soll mein Lohn sein.«
Wertschätzung? Oder Erwiderung? Wenn er sie nun wertschätzte, überlegte Amram, während er ihr kleines Gesicht mit beiden Händen sanft umfaßte, das sie in flehentlicher Erwartung eines Kusses zu ihm erhoben hatte. Aber er liebkoste es nur zärtlich. Seltsam gerührt von ihrer kindlichen Unschuld, dankte er ihr, machte dann abrupt kehrt und eilte, flüchtete beinahe den Hang zum Palast hinauf. Traurig folgte sie ihm mit den Blicken, bis er zwischen den Baugerüsten verschwunden war.
Blind vor Wut über die Verachtung, mit der der Herrscher von Granada seiner Forderung begegnet war, rief Abu Dja'far seine Truppen mit erstaunlicher Eile zusammen und schickte sie im wilden Galopp auf die Paßstraße zu, die über die Berge der Sierra Nevada in die Ebene von Granada führte. Als die Almerianer jedoch die Brücke über den reißenden Bergbach erreichten, den sie zuvor überqueren mußten, fanden sie nur noch ein paar zerborstene Bretter vor, die aus dem schäumenden Wasser ragten. Amram war schon vor ihnen dort gewesen. Abu Dja'far verfluchte den Juden mit einer Flut von Schimpfworten und jagte dann seine erschöpften Truppen den schmalen steinigen Ziegenpfad hinauf, der hoch über dem Bach in die Bergflanke eingegraben war. Sobald der größte Teil seiner Leute hintereinander auf dem Pfad aufgereiht war, ertönte schrilles Schlachtgeschrei, hallte rings um den schmalen Pfad furchterregend laut wider, als käme es vom Himmel selbst. Auf ein Zeichen Amrams stürzten sich Schwärme von Berbern mit gezücktem Schwert von oben den Hang herab auf die Almerianer und warfen sie von ihrem schmalen Weg in die tosenden Wasser. Ihre Schreie vermengten sich mit denen der Angreifer, wenn ihre Körper auf die dicht unter der Wasseroberfläche verborgenen Felsen prallten. Es war ein schreckliches Gemetzel. Neue Truppen, von Habbus angeführt, verstärkten nun den Vorteil Granadas, bis Abu Dja'fars Niederlage vollkommen war. All sein Flehen, all seine Angebote hoher Summen von Lösegeldern konnten ihn nicht vor dem Zorn des Siegers schützen. Habbus selbst, das ›Schwert des Königtums‹, durchbohrte ihn.
»Seit Ihr an meinen Hof gekommen seid, hat mich das Glück stets aus vollen Händen beschenkt«, erklärte Habbus und klatschte sich schallend auf den Oberschenkel, als er Amram nach der Rückkehr aus der Schlacht zu sich gerufen hatte. »Dank Abu Dja'fars Unverfrorenheit haben wir unverhofften Gewinn gemacht, nicht zuletzt jenen wichtigen Zugang zum Meer südlich der Sierra Nevada unweit Almuñécar. Es war ein Triumph für Granada, aber auch für das jüdische Volk.«
»Ich, o Schwert des Königtums, sehe es als einen Sieg der Toleranz über den Fanatismus, der Offenheit über die Scheinheiligkeit.«
»Ja, natürlich, Ihr formuliert es soviel eleganter als ich, ein ungebildeter Mann des Schwertes.«
»Das hat hier keine Bedeutung. Wichtig ist, daß wir einander verstehen, trotz aller Unterschiede.«
»Ich bedaure, daß Rasmia nicht hier ist und unseren Triumph mit uns teilen kann. Sie wurde nach Málaga gerufen, um dort den Tod eines Vetters zu beweinen, den sie sehr liebte und der darauf bestanden hatte, sich an Eurem Hinterhalt zu beteiligen. Als er sich auf einen Anführer der Almerianer stürzte, verlor er das Gleichgewicht und fiel zusammen mit seinem Gegner in den Tod.«
»Sie muß zutiefst betrübt sein«, erwiderte Amram, unbeschreiblich erleichtert, daß man ihn nicht aufforderte, ihr die Belohnung zu gewähren – noch nicht …
Nachdem die Schlacht gegen Almeria vorüber war, alterte König Habbus zusehends. Er war der Staatsgeschäfte müde, übertrug seinem jüdischen Wesir nun immer mehr Verantwortung, nicht nur für die Verhandlungen über Bündnisse mit anderen Berberreichen, sondern auch in der Führung anderer Feldzüge gegen Sevilla und die kleinen Fürstentümer, die es unterstützten. Dies war jedoch nicht Amrams einzige Sorge. In den eleganten Säulenhallen und blumenduftenden Gärten der großen Häuser der Stadt wurden bereits Intrigen gesponnen, die verschiedene Rivalen um die Nachfolge König Habbus' unterstützten. Wohin er auch blickte, im Königreich oder außerhalb, er sah nichts als Verrat und Betrug; in der blinden Jagd nach dem eigenen Vorteil waren alle Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Treue und Verrat gefallen.
Bei seiner Rückkehr von einer blutigen Schlacht, die er mit den Verbündeten des Tages – vielleicht den Feinden des nächsten? – geschlagen hatte, fand er ein wenig Trost in der vertrauensvollen Unschuld seines erstgeborenen Sohnes Musa, der auf ihn zugerannt kam, um von den starken Armen seines Vaters emporgehoben zu werden. Das Streicheln seiner sanften Patschhände im Nacken, seine Freude über die Rückkehr des Vaters, all das konnte einen Augenblick lang die Sorgen aus seinen Gedanken verbannen. Amrams andere Quelle des Trostes waren die Gedichte, die er verfaßte, Zeilen, in die er all die Bitterkeit fließen ließ, die an ihm nagte.
Soll ich für immer, einem Beduinen gleich, im
Zelte leben?
All meine Tage hinter dieser Zeltbahn nun verbringen?
Zeit und Wildnis haben mich die Freunde längst vergessen
lassen.
Nachdem er Zeuge geworden war, wie in einer Schlacht am Genil unzählige tapfere Männer niedergemetzelt wurden, wie der Kopf des Sohnes seines Erzfeindes, des Kadi Abbad von Sevilla, mit einem einzigen Hieb abgetrennt und im Triumph nach Granada getragen wurde, schrieb er:
Am Anfang gleicht der Krieg der schönen Jungfer,
mit der zu
kosen alle Männer Sehnsucht hegen,
Doch stellt er sich heraus als eine
garst'ge Metze, deren
Freier alle unter Schmerzen weinen.
Als er eines Abends die Feder niederlegte, nahm Amram noch einmal den Brief in die Hand, der ihn bei der Rückkehr von einem Gefecht an der Grenze erwartete hatte:
Mein geliebter Bruder,
mit großem Stolz und tiefem Ehrgefühl grüße ich Dich, zunächst als Dein Bruder, aber auch in hohem Maße im Namen unserer jüdischen Glaubensbrüder auf dem Boden von al-Andalus. Deine Serie militärischer Triumphe, Deine hohe Stellung als Wesir am Hofe von Granada, all das schenkt uns Juden ein neues Gefühl der Würde und stärkt uns in dem uneingeschränkten Vertrauen, daß wir, sollte unser Volk wieder einmal von schweren Nöten heimgesucht werden, in Dir einen mächtigen Fürsprecher unserer Sache finden werden. Ach, stünden doch Deine Begabung als Heerführer und Dein Geschick bei Verhandlungen, wie es seinesgleichen seit den Tagen unseres verehrten Großvaters Da'ud nicht gegeben hat, im Dienste eines Landes, das wir unser eigen nennen können, eines Königreiches wie Chasarien, das auf unseren Ahnen Da'ud eine solche Faszination ausübte. Müssen wir ewig auf die Ankunft des Messias warten, ehe dieser Traum Wirklichkeit wird? Ist die Zeit noch nicht gekommen, daß wir unser Schicksal in die eigene Hand nehmen?
Das Leben hier im Landhaus geht seinen ruhigen Gang. Ralambos Pflanzen haben ihre Kraft bewiesen, die gleiche unzerstörbare Vitalität, die meiner Meinung nach auch die Quelle ihrer heilenden Wirkung ist. Sie gedeihen wieder, aber wie Du weißt, muß ich meine Beobachtungen über die therapeutischen Eigenschaften des Extraktes beinahe ganz von Anfang an neu beginnen. Es ist eine mühevolle Aufgabe, die mich manchmal völlig entmutigt, um so mehr, als mir das Talent zur unfehlbaren Diagnose fehlt, mit dem unser Vater gesegnet war.
Wie Du in deinem letzten kurzen Brief geschrieben hast, ist es wirklich höchste Zeit, daß ich mir eine Frau suche, aber weißt Du, lieber Bruder, nur sehr wenige Frauen wären bereit, hier draußen im Schatten der Aloepflanzen inmitten ihrer stacheligen Klauenblätter zu leben, während ihr Zuhause täglich von einem nicht abreißenden Strom von Jammergestalten heimgesucht wird, die sich Linderung ihrer Leiden erhoffen. Unsere Mutter war darin einmalig. Die Bildung, die ihr Menahem vermittelte, schenkte ihr die Fähigkeit, sich unabhängig von ihrer Umgebung eine reiche innere Welt zu schaffen, sich von jenen eitlen Dingen zu befreien, die wir Gesellschaft nennen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf und tröste mich inzwischen mit dem Wissen, daß die Zukunft des Hauses Ibn Yatom durch Dich und Leonora in so würdiger Weise gesichert ist, wie ich es für mich nie zu erhoffen wagen würde.
Möge der Schild Israels Dich bei all Deinen Unternehmungen beschützen, und mögt Ihr, Du und die Deinen, noch viele Jahre mit Gesundheit und Stärke gesegnet sein.
Dein Dich liebender Bruder
Natan
Amram ließ den Brief aus der Hand gleiten und schloß müde die Augen. Wie er sich nach dem Frieden und der Ruhe des Lebens zurücksehnte, das er in seiner Kindheit im Landhaus gekannt hatte, nach einem Leben, das nicht dem Streben nach Macht gewidmet war, sondern der Suche nach Wissen. Hatte er sich in seiner Entscheidung geirrt? Über diese Frage grübelte er oft in Augenblicken der Niedergeschlagenheit nach, wenn er auch die Antwort nur zu gut kannte. Richtig oder falsch, dies war das Leben, für das er geschaffen war, und er mußte seinem Weg folgen, wo immer er ihn hinführte. Seltsam, dachte er nun, und wandte sich wieder Natans Brief zu, seltsam, daß sein Bruder Gedanken ausgedrückt hatte, die seit einiger Zeit Leonora und bei seinen häufigen Besuchen auch ihr Vater angesprochen hatten. Wenn er zu den oberflächlichen Schlußfolgerungen, die sie aus dem äußeren Anschein seines Lebens gezogen hatten, noch seine eigenen intimen Kenntnisse der militärischen und politischen Wirklichkeit seiner Zeit hinzufügte, mußte er notgedrungen ihrer Meinung sein.
Solange Habbus in Granada regierte, war seine Stellung gesichert, seine Treue unerschütterlich. Sobald der König aber starb – und dieser Tag war nicht mehr fern –, würde Chaos entstehen, denn alle Söhne und Neffen würden sich auf Leben und Tod in den Kampf um seine Nachfolge stürzen. In jenen unruhigen Gewässern müßte er dann aufs neue seinen Weg finden, und all das nur um das Recht, wieder einem anderen Prinzen dienen zu dürfen. Heute stand er auf dem Gipfel seiner Macht, einer Macht, die er tapfer erkämpft und behauptet hatte. Wenn Habbus nicht mehr war, würden ihm an jeder Wegbiegung Feinde auflauern und die nächste Gelegenheit abwarten, um ihn zu Fall zu bringen. Welchen Thronanwärter er auch unterstützte, jedes gegnerische Lager würde mit aller Macht versuchen, ihm zu schaden. Vielleicht hatten Natan und Leonora und ihr Vater Joseph recht, wenn sie ihn drängten, seine Talente im eigenen Interesse zu nutzen, im Interesse seines eigenen Volkes und nicht im Dienste kleiner Prinzen, für die er kaum mehr als ein nützliches Werkzeug war.
Jedesmal, wenn er aus den Schlachten und von den Gefechten heimkehrte, von den Städten, die er belagert oder gegen Belagerer verteidigt hatte, von den Hinterhalten, denen er mit knapper Not entronnen war, dann sah er, wie Leonoras Gesicht von Angst zerfurcht war. Wenn sie in der köstlichen Ruhe nach leidenschaftlicher Vereinigung beieinanderlagen, flehte sie ihn an, seinen Ehrgeiz dem zuzuwenden, was in ihren Augen die natürliche Schlußfolgerung war.
»Warum solltest du den Rest deiner Tage damit verbringen, für immer andere Kriegsherren zu kämpfen und Ränke zu schmieden? Was du so erfolgreich für sie errungen hast, könntest du doch auch für dich selbst erringen. Wenn jeder jämmerliche Kriegsherr, Berber, ehemalige Sklave oder Eunuch, von denen keiner auch nur einen Bruchteil deiner Fähigkeiten besitzt, sich selbst als unabhängigen Herrscher einsetzen kann, warum dann nicht du? Vater würde dir nur zu gern sein ganzes Vermögen zur Verfügung stellen und damit ein Heer aus Söldnern finanzieren, das einzige, was dir noch fehlt, um einen Teil des Landes an dich zu reißen, das du so gut kennst. Und wenn du dein Königreich gewonnen hast, dann werden die Juden aus allen Ecken von al-Andalus in hellen Scharen herbeiströmen. Handel und Gewerbe werden blühen, die Kultur wird gedeihen, und unser Hof wird in seinem Glanz dem von Córdoba zu seinen besten Zeiten in nichts nachstehen.«
Es war eine verlockende Vision, und sie deckte sich mit den ehrgeizigen Plänen seiner Jugend. Aber auf wen konnte er sich verlassen, um sie in die Wirklichkeit umzusetzen, in dieser Zeit, in der das Wort Treue jegliche Bedeutung verloren hatte und Eigeninteresse das einzige Motiv für die Handlungen der Menschen war? Eigeninteresse, grübelte er. Einem möglichen Verbündeten mehr bieten, als er, Amram, im Gegenzug bekommen würde. Eines nach dem anderen ging er die Fürstentümer durch, mit denen er irgendwann einmal Bündnisse abgeschlossen hatte: Carmona, Almeria, Málaga. Von allen hatte sich allein Málaga, dessen Herrscher aus dem Hause der Hammudiden nur dem Namen nach Kalif war, als halbwegs verläßlicher Verbündeter erwiesen, wenn auch eher aus Schwäche denn aus Treue. Ein Kalif ohne Kalifat … ein Kalif, der ein Kalifat brauchte … ein Kalifat im Austausch gegen …
Allmählich reifte in seinen Gedanken ein Plan heran und nahm Stück für Stück konkrete Formen an.