18
Es war das einzige Mal in seinem Leben, daß Da'ud ibn Yatom die Mauer der Diskretion durchbrach, mit der er sonst eifersüchtig das Privatleben seiner Familie hütete. An dem Tag, den man für die Beschneidung seines erstgeborenen Sohnes Hai bestimmt hatte, standen die Türen seinen Hauses allen weit offen, die kommen und seine Freude mit ihm teilen wollten.
Erst wenige Wochen vor der Geburt des Kindes hatte man letzte Hand an das neue Haus angelegt, das Da'ud für seine wachsende Familie hatte errichten lassen. Von der Tür zur Straße hin führte ein schmaler Flur in einen großen Innenhof, um den die drei Flügel des Anwesens gruppiert waren. Der mittlere war ausschließlich Da'ud vorbehalten. Hier würde er arbeiten und seine wenigen Besucher empfangen. Die seitlichen Flügel waren für die beiden Frauen und ihre Kinder vorgesehen, eine Trennung, die jetzt und in Zukunft dem Haushalt Frieden und Ruhe sichern sollte. In emsiger Geschäftigkeit waren die griechischen Mosaikkünstler und Marmorbearbeiter, die arabischen Wasserexperten und Meister des Kachelverlegens, die berberischen Maler, die persischen Teppichverkäufer und die Seidenhändler aus Córdoba ein und aus gegangen, stets dienstbeflissen und eifrig, hatten sich in ihrer Hast beinahe überschlagen, um das Werk zum verabredeten Zeitpunkt zu vollenden.
Wenige Augenblicke, bevor die Gäste kommen sollten, nahm Da'ud Sari bei der Hand und ging mit ihr zum fernen Ende des wunderbar harmonisch gestalteten Wassergartens, der mit seinen schönen Schwüngen den Mittelpunkt des Innenhofes bildete. Dort, in der lauschigen Stille ihres Glücks, blieben sie einen Augenblick stehen, um den schmalen Wasserlauf zu betrachten, der geschützt zwischen zwei Reihen dichter, dunkler Zypressen lag. Feine Wasserschleier stiegen aus einer im Laub verborgenen Quelle auf, schwebten durch die Lüfte, ehe sie wieder ins ruhige Wasser zurücksanken. Die schlanke, nach oben schmaler werdende Silhouette der Bäume, die aufrecht, reglos und stumm wie Wachtposten dastanden, fand ihren Widerhall in einem einzigen fedrigen Zypressenschößling, der in eine Marmoreinfassung mitten im Wasserlauf gepflanzt war. Dorthin lenkte Da'ud seinen Blick.
»Ich habe dieses zerbrechliche, zarte Ding heute im Morgengrauen gepflanzt, damit es mit Hai zusammen aufwachse. Solange er noch klein ist, wollen wir seine Körpergröße daran messen, und wenn er herangewachsen ist, wollen wir beobachten, wie der Baum an Kraft und Größe gewinnt und wie unser Sohn zu den Höhen großer Errungenschaften, zu Würde und Stolz aufsteigt. Dies hier«, fuhr er fort und wandte sich seiner Frau zu, während er aus dem Ärmel seines Festgewandes einen kleinen Samtbeutel hervorzog, »dies hier ist für dich.« Er hob zärtlich ihre Hand und ließ eine goldene Kette hineingleiten, an der, aus Smaragden in goldener Fassung, ein Ebenbild des kleinen Schößlings hing.
»Wie ähnlich dir das sieht«, lächelte ihn Sari sanft an, »immer ein elegant gedrechselter Satz, eine kunstvolle höfische Geste.«
»Weder Worte noch Gesten reichen aus, um dir meine unendliche Freude mitzuteilen. Wie viele Menschen genießen zu Lebzeiten das Glück – was sie auch immer dafür bezahlen –, all ihre ehrgeizigen Wünsche erfüllt zu sehen?«
»Ein ernüchternder Gedanke, der uns mit Bescheidenheit erfüllen sollte«, murmelte Sari, als sie in Gedanken zu den ersten Erinnerungen ihres Lebens zurückkehrte, zu der primitiven Gewalt, den niedrigen Instinkten, der Furcht und dem Schrecken, dem Schmerz, der Häßlichkeit, dem Elend, der Einsamkeit – den einzigen Weggefährten ihrer unglückseligen Kinderzeit. Sie konnte nicht wie Da'ud sagen, daß alle ehrgeizigen Wünsche ihres Lebens erfüllt waren. Ehe er sie gerettet hatte, war ihr gar nicht bewußt gewesen, daß das Leben überhaupt irgend etwas Erstrebenswertes bieten konnte. Ihr einziger glühender Wunsch war allein die Flucht gewesen, obwohl sie nicht wußte, wohin sie fliehen sollte. Wären da nicht der radanitische Kaufmann und dann Da'ud selbst gewesen, sie hätte vielleicht nie erfahren, daß das Leben auch etwas anderes sein konnte als die Schrecken, die sie durchlitten hatte. Mehr noch, daß die Liebe, ein Gefühl, das sie weder empfangen noch gegeben hatte, tierische Lust zu höchster menschlicher Ekstase wandeln konnte.
Oh, welche Ekstase! Wie leicht und zart er sie berührt hatte, wie zärtlich er sie liebkost, mit seinen Händen das leiseste Beben der in ihr erwachenden Lust erspürt hatte. Mit diesen sicheren, liebenden Händen, die sie langsam auf den Pfaden ihres Verlangens emporführten, bis sie aus eigener Kraft mit ihm zu den schwindelerregenden Gipfeln der Leidenschaft aufstieg. In den Monaten nach der Geburt Amiras hatten sie sich ihrer Liebe hingegeben. Ihre Sinne, ihre Körper, ihrer beider Wesen verschmolzen zu einem einzigen lebendigen Ganzen, in das sich beide versenkten, einer vom anderen durchdrungen. Und wenn sie getrennt waren, sehnte sich einer nach der Berührung, nach dem Anblick des anderen, harrte ungeduldig auf das nächste Verschmelzen. Wie groß war die Gefahr gewesen, daß sie ihr Leben in Unkenntnis dieses höchsten Geschenks verbracht hätte, der vollkommenen Liebe eines Menschenwesens zu einem anderen, und der Wonne ihrer Erfüllung in der Erschaffung eines neuen Menschen – einer gottähnlichen Handlung. Wie vielen anderen, die wie sie in ein elendes Leben hineingeboren waren, war es denn vergönnt, eine so wundersame Wandlung ihres Geschicks zu erfahren? Dieses Wissen um die Unwägbarkeiten des menschlichen Schicksals – warum ausgerechnet sie, warum nicht eine andere? – zwang sie zur Bescheidenheit.
Wenn sie jetzt ihren Ehemann betrachtete, durchströmte sie ein überwältigendes Gefühl der Freiheit. Nun empfand sie nicht mehr die Schuld, ihm Enttäuschung und Unglück gebracht zu haben. Jetzt, da sie ihm freizügig gewährt hatte, was er geduldig erwartete, wonach er sich so schmerzlich verzehrte, was er aber nie erzwungen hatte, jetzt, da sie so viel gegeben wie gewonnen hatte, fühlte sie sich ihm ebenbürtig in der Partnerschaft ihrer Liebe, frei und gleich, so daß sie ihm ihre innersten Gedanken enthüllen konnte.
»Warum warst du während meiner Schwangerschaft so ruhig, so beinahe unnatürlich gelassen, und als Djamila ihr Kind Amira erwartete, so übermäßig besorgt?«
»Diese Frage habe ich mir in all den Monaten immer wieder selbst gestellt«, erwiderte Da'ud. »Ich hätte eigentlich ebenso von Ängsten geplagt werden müssen, nicht nur, weil sich vielleicht während deiner Schwangerschaft oder bei der Geburt ein nicht wiedergutzumachender Schaden, den man dir in deiner Kindheit zugefügt hatte, furchtbar hätte auswirken können. Der bloße Gedanke, dich im Kindbett zu verlieren, hätte mich Tag und Nacht verfolgen müssen. Aber es war nicht so. Von dem Augenblick an, als du dich mir so großzügig, so vollkommen geschenkt hast, mit grenzenloser Liebe und schrankenlosem Vertrauen, da wußte ich in meinem Innersten, daß unsere Vereinigung vom Himmel gesegnet war. So wie ich beim erstenmal, als dich meine Augen erblickten, wußte, daß ich mein ganzes Leben lang dich und nur dich lieben würde, so hatte nun die unerschütterliche Überzeugung von mir Besitz ergriffen, daß Hai dazu bestimmt war, gesund und sicher in diese Welt zu kommen, das lebendige Symbol unserer Vereinigung, das Zeugnis unserer Liebe, bestimmt dazu, sie fortzusetzen.«
»Und doch haben die Hebammen die Geburt nicht als leicht bezeichnet. Sie waren sehr besorgt. Einen Augenblick lang dachte ich, man hätte mir ein Stück meiner selbst mit Gewalt entrissen.«
Da'ud wartete einen Augenblick, ehe er antwortete. »Ich habe mit ihnen gesprochen.«
»Es wird keine weiteren Kinder geben, nicht wahr?«
»Vielleicht nicht. Das kümmert mich nicht. Ich habe nicht das Verlangen, dich noch einmal so leiden zu sehen. Ich habe dich, und ich habe unser Kind der Liebe, Hai, dessen Name ›Leben‹ heißt. Mit zwei solchen Schätzen wäre es vermessen, um noch mehr zu bitten.«
»Und du hast Amira – und Djamila ebenso.«
Da'ud brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Sie hat ihren Zweck erfüllt«, sagte er nüchtern und bestimmt.
Hais leises Weinen beendete das Gespräch. Sari eilte in ihren Flügel des Hauses zurück, um ihr neugeborenes Kind zu stillen, während Da'ud die Ärmel seines dunklen Gewandes zurechtzupfte und die Gäste empfangen ging.
Rabbi Samuel Ben Mar Shauk, der ehrwürdige Gelehrte aus Lucena, kam als erster. Er war noch nie von kräftiger Gestalt gewesen, inzwischen jedoch gebrechlich und ein wenig zitterig geworden, und sein dünner weißer Bart gemahnte an den feinen Wasserschleier, der über dem Wassergarten schwebte. Tränen der Rührung standen ihm in den schwach gewordenen Augen, als er seinen ehemaligen Schüler umarmte, der sich von Anfang an als hervorragender Denker gezeigt und Großes versprochen hatte. Was für ein Vergnügen war es gewesen, ihm die Schönheit der biblischen Sprache und ihrer poetischen Bilder zu vermitteln, ihm die Weisheit der Talmudgelehrten zu erläutern. Welche Befriedigung hatte ihm die Gewißheit verschafft, daß jedes seiner Worte vom wachen Verstand dieses Jungen aufgenommen und dort sorgfältig abgewägt wurde. Selbst wenn Da'ud in seinem späteren Leben die Einhaltung bestimmter Regeln, die seiner Meinung nach mit seinem Alltag nicht vereinbar waren, weniger ernst genommen hatte, so war er sich ihrer doch bewußt und hatte eine wohlüberlegte eigene Entscheidung getroffen. Dafür konnte ihm Rabbi Samuel im Grunde seines Herzens keinen Vorwurf machen. Er war zutiefst gerührt über die Ehre, die Da'ud ihm hatte zuteil werden lassen, als er ihn zum Paten für Hai ausgewählt hatte. Obwohl Rabbi Samuel wußte, daß ihn die Reise aus der Abgeschiedenheit Lucenas in die geschäftige Stadt Córdoba, die einmal seine Heimat gewesen war, sehr ermüden würde, hätte ihn nichts bewegen können, diese Ehre auszuschlagen. Als nun seine schwachen Arme die schmale, ernste Gestalt Da'ud ibn Ya'kub ibn Yatoms, des mächtigsten Juden in ganz al-Andalus, umfingen, da murmelte er ein Dankgebet, daß Gott ihn am Leben erhalten und dafür gesorgt hatte, daß er diesen Tag erleben durfte. Da'ud war gerührt und zutiefst zufrieden. Die Wahl Rabbi Samuels zum Paten hatte ihm nicht nur die Möglichkeit gegeben, seinen Mentor zu ehren, er entging so auch der Gefahr, eifersüchtige Streitereien zwischen den prominenten Mitgliedern der Gemeinde heraufzubeschwören, die alle um seine Gunst buhlten.
Gleich hinter Rabbi Samuel erschien Rabbi Ezra, der Beschneider, dem Abu Sa'id und Abu'l Kasim unmittelbar folgten. Nachdem die beiden Ärzte Da'ud begrüßt hatten, unterhielten sie sich mit Rabbi Ezra über die sicherste und schnellste Art, die Vorhaut eines Neugeborenen zu entfernen. Mit der Miene der absoluten Autorität fuhr Ibn Zuhr mit dem Finger über die scharfe Klinge des Messers, das der mohel benutzen würde, während Abu'l Kasim überprüfte, ob der Schlitz zwischen den lotosförmigen silbernen Blättern der Schutzklemme, die den Penis des Säuglings abschirmen würde, die richtige Breite hatte. »Diese Instrumente wurden eigens für den heutigen Anlaß gefertigt«, gab Rabbi Ezra zu verstehen.
Nach einem zustimmenden Blick auf Abu'l Kasim verkündete Ibn Zuhr knapp: »Sie sind in Ordnung.« Dabei ließ er ein kleines goldenes Behältnis in die Hand des Beschneiders gleiten, das ein weißes alkalisches Pulver enthielt. »Streut ein wenig davon auf die Wunde, ehe Ihr sie verbindet«, sagte er und mischte sich dann zusammen mit Abu'l Kasim unter die anderen Gäste.
Eine glänzende Gesellschaft hatte sich versammelt. Der jüngere Bruder des Kalifen war als al-Hakams persönlicher Vertreter zugegen, zusammen mit anderen Prinzen aus dem Hause der Omaijaden, alle mit reichen Gewändern und funkelnden Juwelen geschmückt. Zu bedeutenden Wesiren gesellten sich Höflinge von geringerem Rang. Rabbis und Richter von den jüdischen Gerichten waren aus allen Gemeinden von al-Andalus gekommen. Dichter, Gelehrte und Philosophen in großer Zahl waren erschienen. Aus den christlichen Königreichen hatten die Herrscher von Leon und Navarra ihre persönlichen Gesandten geschickt. Königin Toda, die noch nie jemand der Undankbarkeit hatte bezichtigen können, schickte dem Sohn des Mannes, dem ihr Enkel Gesundheit und Thron verdankte, ein Miniaturschachspiel: filigrane Figuren aus Gold und Silber, das Schachbrett aus rotem und grünem Jaspis.
Als Da'ud den Blick über die zahllosen Gäste schweifen ließ, erfüllte ihn ein Stolz, der ihn ein wenig ängstigte. Wenn ein Mann den Gipfel seiner ehrgeizigen Wünsche erreicht hat, wenn die Höchsten des Landes ihm, dem engsten Vertrauten des Kalifen, dem Gelehrten und Arzt und dem Höchsten unter den Juden in al-Andalus, ihre Ehrerbietung erwiesen, was lag dann noch vor ihm? Der Titel eines Wesirs war ihm verwehrt, um ihn vor der Gegnerschaft der Imame zu schützen, die es nicht dulden würden, daß ein Jude Autorität über die Moslime bekam. Er konnte also nicht weiter aufsteigen. Die Zukunft konnte ihm folglich nur Stillstand oder Niedergang bringen. Andere junge Männer, die so sehr vom Ehrgeiz getrieben waren wie einstmals auch er, würden sicherlich auftauchen und mit ihm um die Gunst des Kalifen wetteifern … Und wer konnte vorhersagen, wie es in der Zukunft um sein persönliches Glück bestellt sein würde, das heute vollkommen war, aber doch zugleich äußerst verletzlich, da zwei Frauen, zwei Kinder einander gegenüberstanden, getrennt durch den harmonischen Garten, den er zwischen ihnen angelegt hatte. Bis heute war alles gutgegangen, ermahnte er sich. Genieße deinen Triumph! So wie du in der Vergangenheit den Gefahren getrotzt hast, so wirst du dich auch in Zukunft verteidigen, dich und deine geliebte Frau Sari und Hai, euren langersehnten Sohn.
Nun winkte ihn Rabbi Ezra zu sich. Seine Mutter Sola hatte Sari den Säugling bereits abgenommen und ihn an Rabbi Samuel weitergereicht, der auf seidenen Kissen ruhte und das Kind auf dem Schoß hielt, die Handreichungen des Beschneiders erwartete. Rabbi Ezra hatte die glänzenden neuen Instrumente sorgfältig auf einer makellosen Marmorplatte ausgebreitet und näherte sich dem Kind, entfernte die Windeln und spreizte die winzigen, protestierend strampelnden Beine weit auseinander. Sari, die vom Fenster ihres Zimmers aus die Zeremonie beobachtete, unterdrückte einen Angstschrei, ihr Körper krampfte sich heftig zusammen. Ihr einziger Wunsch in diesem Augenblick war die Flucht, die Flucht vor dem Anblick Ezras, der mit starker Hand die Beine des Kindes gegen dessen Willen spreizte, so wie andere, grausamere, brutale Hände vor vielen Jahren ihre mageren Kinderbeine mit Gewalt gespreizt hatten … Auch damals hatte sie ihre Angstschreie unterdrückt, aus Furcht, die Hände der alten Männer könnten ihr noch größere Gewalt antun … Sola, die sich ihrer inneren Qual nicht bewußt war, legte mütterlich den Arm um sie, eine warme menschliche Berührung, die tief in Saris innerstem Wesen etwas löste. Hemmungslos ließ sie ihren Tränen freien Lauf, und mit ihnen strömte all der Schmerz aus ihr heraus, den sie seit ihrer Kindheit stumm in sich verborgen hatte. Es war, als wäre sie durch ihren Sohn selbst wiedergeboren und hätte sich nun endlich davon befreit. Der Klang von Hais gesundem, kräftigem Protestgeheul – schwach in den Ohren anderer, aber ein durchdringender Schrei in den Ohren seiner Mutter – vermischte sich mit ihren eigenen Schluchzern, mit ihrem eigenen verspäteten Protest. Erst jetzt war in ihr der Wunsch nach Flucht für immer gewichen, und mit ihm in der Flut ihrer reinigenden Tränen auch der Schmerz. Sie mußte hierbleiben, ihren Sohn beschützen, ihn in den Armen wiegen, ihn an ihrer Brust nähren, ihn trösten, wie sie selbst getröstet worden war. Niemals würde sie ihn verlassen, so daß er die Prüfungen des Lebens allein bestehen mußte. Niemals, so lange sie Atem in sich verspürte.
An der gegenüberliegenden Seite des Gartens weinte auch Djamila an ihrem Fenster – heiße Tränen des Grolls und des verletzten Stolzes. Nicht um ihrer selbst willen, versuchte sie sich einzureden. Da'ud hatte aus seinen Absichten nie einen Hehl gemacht, als er sie zur zweiten Frau nahm. Sie hatte den Handel, den er ihr angeboten hatte, bereitwillig angenommen. Sie hatte nur sich allein die Schuld zuzuschreiben. Wie offenkundig er sie auch ignorierte, sie war jetzt und in Zukunft Mitglied seines Haushaltes, mit all dem Respekt und all den Annehmlichkeiten des Lebens, die ihr in dieser Rolle zustanden. Nein, sie weinte um Amira, seine Tochter, deren Existenz er nicht zu Kenntnis nahm. Der Anblick der festlichen Menge, die draußen versammelt war, ließ in ihr eine Welle der Auflehnung emporsteigen, trieb ihr vor Wut das Blut in den Kopf. Für Hai wurde eine öffentliche Feier veranstaltet, wie es sie in den Annalen dieser zurückhaltenden, aber mächtigen Familie noch nie gegeben hatte. Für Amira hatte es nichts gegeben. Gar nichts. Kaum eine Familienfeier. Daß Da'ud seit der Geburt ihrer Tochter ihr Bett gemieden hatte, war eine Beleidigung, die sie sich zu ertragen zwang. Aber daß er keinerlei Zuneigung zu seinem erstgeborenen Kind zeigte, war etwas, das sie ihm nicht vergeben konnte und wollte.
Ihre Freundinnen, die Schwestern Bar Simha, die gekommen waren, um ihr während der Zeremonie Gesellschaft zu leisten, versuchten sie nach Kräften zu trösten. Niemals würden sie die Erniedrigung vergessen, die sie über sich ergehen lassen mußten, als Da'ud sie abwies und einem Findelkind den Vorzug gab, das er auf dem Sklavenmarkt aufgegabelt hatte. Es wurde kein einziges Wort zwischen ihnen und Djamila gewechselt, aber sie verstanden sich auch so vollkommen. Während man den Schwestern jedoch beigebracht hatte, ihren Groll zu unterdrücken und sich ergeben in ihr Schicksal zu fügen, war Djamila aus anderem Holz geschnitzt. Sie war ein unabhängiger Geist, in ihr brodelte die Auflehnung, sie weigerte sich, ihr Schicksal einfach hinzunehmen. Plötzlich hörte sie auf zu weinen, richtete sich voller Stolz auf und sagte mit ruhiger, entschlossener Stimme zur Amme ihrer Tochter: »Fatma, komm und sieh dir die Zeremonie an. Ich kümmere mich um Amira.«
Gespanntes Schweigen herrschte in der versammelten Menge, viele Augenpaare ruhten auf Rabbi Ezras Händen: Ibn Zuhrs durchdringender Habichtblick war voller Unruhe. Da'uds unvergleichliche äußerliche Ruhe wurde Lügen gestraft durch das unruhige Nesteln seiner Hände an der silbernen Borte seines Gewands. In Rabbi Samuels alten Augen standen Tränen des Mitleids. Saris Augen waren vor Angst fast blind. Und Djamilas Augen funkelten vor Groll. Mit einer schnellen, geschickten Bewegung seines glänzenden Messers nahm Ezra den kleinen Hai ben Da'ud ibn Yatom in den uralten Bund Gottes mit dem Volk Israel auf. Im Gartenhof erhob sich lautes Geschrei, als die versammelte Menge Segenswünsche über das Kind und über das Haus Ibn Yatom ausschüttete.
Auf diesen Augenblick hatte Djamila gewartet. Mit einer ausladenden Bewegung ihrer kräftigen Arme hob sie Amira hoch und trug sie mit festen, sicheren Schritten nach draußen in den Garten. Dort stand sie, trotzig, herausfordernd inmitten der erlesenen Männergesellschaft, in frecher Mißachtung aller Sitten. Ihre mutige, störrische Haltung war ein verzweifelter Protest: Und mein Kind, deine Tochter, ist sie nicht auch würdig, von den Menschen gesegnet zu werden? Zutiefst erschreckt von der drängelnden Menschenmenge, ließ Amira einen durchdringenden Schrei ertönen. Die Köpfe wandten sich zu dem Störenfried um. Ängstliche Blicke flogen zum Hausherren. Aber Da'ud schien sich der Unruhe nicht bewußt zu sein. Nun schwollen Amiras Schreie zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll an. Mit einer Kraft, die man ihrem kleinen Körper nicht zugetraut hätte, schlug sie wild mit Armen und Beinen um sich, versuchte sich mit aller Macht aus der Umklammerung ihrer Mutter zu befreien. Djamila unternahm nichts, um sie zurückzuhalten. Sie drängte zu Da'ud, ihrem Mann, als könne sie ihn durch bloße Willensanstrengung zwingen, sie zu bemerken, aber es half alles nichts. Amira, die kleinen Füße fest gegen die Brust ihrer Mutter gestemmt, konnte sich mit einem letzten Aufbäumen befreien. Mit einem Angstschrei fiel sie zu Boden, das Gesicht vor Wut und Schrecken schon blau angelaufen. Schockiertes Schweigen senkte sich über die Menge, man wechselte erstaunte und über diesen skandalösen Zwischenfall entrüstete Blicke. Ein schüchterner junger Mann, dem Amira zu Füßen gefallen war, hob das Kind auf, gab es seiner Mutter zurück und geleitete die beiden mit unerwarteter Freundlichkeit ins Innere des Hauses zurück. Im gleichen Augenblick reichte Da'ud, der die unerhörte Szene ignorierte, den kleinen Hai, dessen Schluchzen man mit einem Tropfen Wein auf die Lippen gelindert hatte, in die Obhut seiner Mutter zurück.
So wurde nun Hai sanft an der Brust seiner Mutter gewiegt, und auch Amira lag sicher und geborgen in den Armen Djamilas, die Ordnung war wieder hergestellt. Das Fest konnte beginnen. Die Musikanten spielten ihre Weisen, deren Rhythmen in die herannahende Nacht hinausdrangen. Dichter deklamierten elegante Verse, perfekt gereimte und fein formulierte überschäumende Lobpreisungen auf ihren Gastgeber und Mäzen. Roter Wein ergoß sich schäumend aus goldenen und silbernen Karaffen in edle Kelche. Die letzten Gäste verabschiedeten sich erst, als der Gesang der Vögel sie daran erinnerte, daß die Morgendämmerung nahte. Dieses Fest sollten alle Anwesenden noch viele Jahre in Erinnerung behalten, jeder aus seinem eigenen, ganz besonderen Grund.