25

Sari und Djamila machten es sich auf den aufgehäuften Kissen mit groben Leinenüberzügen bequem, deren Farben von der andalusischen Sonne ausgebleicht waren und von jahrelangem Gebrauch zeugten. Ein dichtes Dach aus Weinblättern über der Pergola schützte sie vor der aufsteigenden Hitze des Mittags, während sie miteinander sprachen und ab und zu einen wachsamen Blick auf die Kinder warfen: Amira, Hai und die siebenjährige Dalitha. Die drei tobten zwischen den graugrünen Olivenbäumen herum, die in geordneten Reihen hinter dem Haus wuchsen und deren knotige und verschlungene Stämme die flinken Kinderbeine geradezu zum Hinaufsteigen einluden. Sari beobachtete ein wenig ängstlich, wie Hai an einem Stamm hochkletterte, sich in eine Astgabel hockte und dann vorbeugte, um Dalitha seine starke helfende Hand hinzustrecken, damit sie ihm nachkommen konnte.

»Hai beschützt Dalitha, als wäre sie seine kleine Schwester«, sagte Djamila lächelnd.

»Sie hätte sehr wohl seine Halbschwester sein können«, murmelte Sari traurig. »Manchmal bedaure ich, daß sie es nicht ist.«

Djamila blickte mit offener Verwunderung auf. In den acht Jahren seit ihrer jähen Vertreibung aus dem Hause Ibn Yatom war dies das erste Mal, daß Sari auf die Ereignisse damals zu sprechen kam.

»Aber warum?« fragte sie. »Nach Hais Geburt war ich doch kaum mehr als ein Eindringling in eurem Hause. Du, Hai und Da'ud, ihr wart eine so verschworene Gemeinschaft, daß für Amira und mich einfach kein Platz mehr war.«

»Es tut mir auch nicht um deinetwillen leid, sondern um unseretwillen, um Da'uds und meinetwillen. Ich habe die Haltung, die er nach Hais Geburt dir und Amira gegenüber an den Tag gelegt hat, nie gutgeheißen. Es ist das einzige Thema, das er sich strikt mit mir zu besprechen weigert. Bis heute habe ich ihm die Art und Weise nicht vergeben, in der er dich damals aus dem Haus gejagt hat. Es steht zwischen uns, ist ein ständiger unsichtbarer Vorwurf, der das Glück trübt, das wir einmal kannten. Es tut nichts zur Sache, daß du heute unendlich viel zufriedener bist, als du es je unter unserem Dach hättest werden können. Die Art, wie er dich benutzt und dann weggeworfen hat, ohne auch nur einen Augenblick lang deine Wünsche in Betracht zu ziehen, ist unverzeihlich. Selbst gestern, bei einem so feierlichen Anlaß wie Hais Bar Mizwa, die mit all der schlichten Eleganz und ruhigen Würde begangen wurde, die du aus unserem Hause kennst, konnte er sich nicht durchringen, Amira als seine Tochter zu behandeln. Ich selbst fühlte mich für sie gedemütigt. Ich hätte mir beinahe gewünscht, sie wäre nicht gekommen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das meine Freude getrübt hat.«

»O doch, das kann ich«, stimmte ihr Djamila traurig zu. Die Erinnerung an die Beschneidungsfeier war ihr noch schmerzlich im Gedächtnis. »Menahem ist wie du«, fuhr sie fort. »Er wird ihm auch nie vergeben. Er ist immer noch überzeugt, daß Da'ud hinter dem zweiten Angriff und seiner Verbannung aus der Stadt steckte. Saul und er müssen diesen Plan ausgeheckt haben, als sie sich am Abend zuvor in der Synagoge trafen. Menahem kannte seinen Dienstherren gut genug, um sich darüber im klaren zu sein, daß er den literarischen Streit mit Saul für seine eigenen Zwecke ausnutzen würde. Da'ud würde aus der ganzen Angelegenheit mit unbefleckter Ehre und makellosem Ruf hervorgehen und dazu noch die Einheit der Gemeinde wahren, daran bestand kein Zweifel. Da'ud konnte Menahem nie leiden, mußt du wissen. Er hatte ihn mehr oder weniger gegen seinen Willen eingestellt, um seinem ehrenwerten Lehrer Rabbi Samuel einen Gefallen zu tun. Obwohl Menahem ihm stets treu gedient hat, war Da'ud nur zu froh, einen Vorwand gefunden zu haben, unter dem er ihn loswerden konnte – und mich gleich dazu«, sagte sie lachend. »Ich werde nie vergessen, wie charmant er nach seiner Rückkehr aus Leon zu mir war, während er seinen Plan doch schon ausgeheckt hatte. Was für ein schlauer Fuchs er doch ist!«

»Du nimmst das alles so leicht«, wunderte sich Sari.

»Es ist zwecklos, Groll zu hegen. Mein Zorn kann Da'ud nicht erreichen. Er kann mich nur bitter machen. Ich streiche ihn lieber ganz aus meinem Leben und wende mich schöneren Dingen zu. Außerdem mußt du zugeben, daß er klug genug war, aus Menahems unschuldigen Zeilen eine Wahrheit herauszulesen, die keineswegs offensichtlich war, nicht einmal für mich. Nichts hätte mir ferner gelegen als eine Ehe mit Menahem. Und doch, als man uns so zusammengeworfen hatte und wir auf uns gestellt waren, wurde schon bald klar, wie grenzenlos dieser Mann lieben kann: Er fing mich auf, wenn ich strauchelte, beruhigte mich, wenn ich tobte, linderte meine Pein, wenn jede Faser meines Wesens schmerzte. Und er wurde für Amira der Vater, der Da'ud nie war und auch nie sein wird. Weißt du«, lächelte sie und breitete die Arme aus, als wolle sie das weißgetünchte Haus umfassen, die Blumenbeete in allen Farbschattierungen, die es umgaben, die schwer beladenen Obstbäume und die gut gepflegten Weinstöcke und Olivenhaine, »überall ist Leben und Freude und Schönheit. Ich bedaure nur, daß mein Vater es nicht mehr hat erleben dürfen.«

»Wäre Da'ud nicht in Leon gewesen, als ihn das Fieber ereilte, er könnte vielleicht heute noch unter uns weilen.«

»Vielleicht. Wenn ich mir auch niemals vergeben habe, daß ich auf Da'ud gehört, meinen Besuch an jenem Sabbatnachmittag verschoben und ihn so meiner tröstlichen Gegenwart in seiner Sterbestunde beraubt habe, danke ich doch Gott, daß es ihm erspart geblieben ist, die Schande meiner Verbannung aus dem Hause Ibn Yatom zu erleben.«

»Wer weiß?« fragte sich Sari. »Er hätte sie vielleicht als Segen betrachtet, so wie du selbst sie inzwischen siehst. Aber liebst du Menahem so sehr, wie du ihn zu schätzen weißt?« fragte sie.

»Ich habe es gelernt«, erwiderte Djamila und erhob sich plötzlich, um das Gespräch zu beenden. Sari hatte mit ihrer Frage an etwas gerührt, das sie sich selbst nicht eingestehen wollte. Denn trotz des Grolls, den sie einmal gegen Da'ud gehegt hatte, konnte sie nicht leugnen, daß er es vermocht hatte, sie in einen süßen Aufruhr der Liebe und Leidenschaft zu versetzen, daß schon seine zarte Berührung ausgereicht hatte, sie für ihn zu erwärmen, daß seine Distanziertheit in ihr nur das Verlangen und die Begierde noch vergrößert hatte.

Menahem hatte in ihr keine solchen wirbelnden Leidenschaften erregt, keine Begeisterung entfacht. Hatte sie ihn zu leicht gewonnen? fragte sie sich manchmal. Liebte sie ihn nicht so, weil sie sich nicht bemühen mußte, ihn zu erobern, ihm zu gefallen, ihn zu halten? Aber er besaß alle Eigenschaften, die sie brauchte, um ihr Leben neu aufzubauen: Er war maßvoll, wo sie stürmisch war, vorsichtig, wo sie waghalsig war, er schützte sie und war ungeheuer zuverlässig. Sie konnte nicht behaupten, daß sie nicht geliebt und geachtet wurde. Sie konnte sich nicht beklagen, daß er sie geringschätzte oder übersah. Und wenn auch ihr Herz nie raste, ihre Sinne bei seinem Anblick nicht erbebten, unter seinen ungeschickten Berührungen nicht entbrannten, dann lag der Fehler nicht bei ihm, wahrscheinlich nicht einmal bei ihr. Das Geheimnis der lodernden Leidenschaften lag anderswo, sie wußte nicht, wo. Sie hatte längst aufgegeben, danach zu suchen, war fest entschlossen, ihr Leben in ruhigen, gemächlichen Bahnen verlaufen zu lassen.

»Komm, laß uns Feigen für die Kinder pflücken«, sagte sie fröhlich und ging auf einen Baum zu, der in der Nähe stand. Dalitha kam sofort angerannt. Hai folgte ihr, nahm die runde, dunkelrote Frucht, die Djamila ihm hinhielt, und strich mit einem seiner langen, feinen Finger über den Flaum, der zart darauf lag. Sorgfältig öffnete er die Feige und untersuchte das reife, rote Fleisch, ob auch kein Wurm darin sei, ehe er eine Hälfte Dalitha reichte. Sie ahmte ihn nach und betrachtete die Feige genau. »Oh, das sieht ja wie ein ganzes Würmernest aus!« rief sie und schrak vor Ekel zurück.

»Überhaupt nicht«, antwortete Hai. Er beugte sich nieder, legte ihr einen Arm um die Schulter und ließ sie noch einmal hinsehen. »Es ist wie der Bart eines alten Mannes, lauter wirre weiße und rote Fäden.«

»Dann sind die Samenkörner die Flöhe im Bart«, meinte Dalitha starrköpfig und schauderte vor Widerwillen, während sie zusah, wie er die Zähne in das süße, saftige Fleisch hieb.

»Nein, das sind sie nicht. Es sind die Krümel von seinem Frühstück.«

»Amira, komm und schau dir das an!« rief das kleine Mädchen ihrer älteren Halbschwester zu. »Hai sagt, das Innere einer Feige sieht aus wie der Bart eines alten Mannes.«

»Wenn Hai das sagt, dann muß es stimmen. Er hat doch immer recht!« lachte Amira gutmütig, während sie Sari und ihrer Mutter half, den gelben Weidenkorb zu füllen, der unter dem Baum stand.

»Mach dich nur lustig!« erwiderte Hai und zog Amira spielerisch am Ohr.

»Hai ist immer so glücklich und so fröhlich, wenn er hier ist«, vertraute Sari Djamila an, während sie sich niederbeugten, um die gepflückten Feigen in den Korb zu legen. »So voller Lachen und Leichtigkeit. Wenn seine Studien ihm nicht eine solche Last auferlegten, er würde sicherlich mehr Zeit bei euch verbringen. Er nutzt ohnehin schon jede Gelegenheit, um der lähmenden Nüchternheit und Strenge unseres Hauses und den Launen Da'uds zu entfliehen.«

»Da'ud verhält sich dir und Hai gegenüber launisch? Das kann ich mir kaum vorstellen«, bemerkte Djamila mit einiger Überraschung, während sie sich den schweren Korb auf die starken, sonnengebräunten Unterarme hob.

»Die Zeit fordert ihren Tribut«, erwiderte Sari traurig. »Er leidet neuerdings an Gelenkschmerzen. Er sieht natürlich zu, daß er sich ausreichend bewegt, und beschränkt sich gewissenhaft auf leichte, wenig gewürzte Speisen. Er läßt sich auch ab und zu selbst zur Ader. Das scheint ihm einige Linderung zu verschaffen, doch schon bald kehren die Schmerzen zurück, besonders im Winter. Obwohl er Arzt ist, erträgt er Schmerzen nur schlecht, und er weigert sich, das Mittel anzuwenden, das er so oft anderen verschrieben hat, einen Umschlag aus Taubendung, glaube ich. Er sagt, er könne einfach den Geruch nicht ertragen. Du kennst ihn so gut wie ich und kannst dir sicher vorstellen, wie tapfer er seine Beschwerden vor der Außenwelt verbirgt. Hai und ich müssen den Großteil seines Unmuts ertragen, wenn er sich in der Abgeschiedenheit unseres Heims einmal gehen läßt. Hai ist geduldiger und mitfühlender, als man das von einem Jungen seines Alters erwarten würde, aber wie alle Kinder braucht er die Gesellschaft von Brüdern und Schwestern, die ihm zu Hause fehlt.«

»Er ist ein intelligenter, sensibler Junge. Vielleicht kommt er nur deshalb so gern hierher, weil er den kindlichen Wunsch hegt, uns dafür zu entschädigen, wie sein Vater uns behandelt hat? Er hat vielleicht sogar deine Mißbilligung gespürt und ist davon beeinflußt worden. Kinder bekommen oft mehr mit, als wir Erwachsenen meinen.«

»Ich weiß nicht. Wir haben nie darüber geredet. Später vielleicht, wenn er erwachsen ist. Ich möchte, daß er seinen Vater lieben und ehren lernt, was immer er auch in späteren Jahren über seine Untugenden herausfinden mag. Im Augenblick genießt er wahrscheinlich einfach nur die entspannte Atmosphäre in eurem Zuhause und die Gesellschaft der beiden lebhaften Mädchen.«

Djamila verfolgte das Thema nicht weiter. »Du weißt, daß Hai hier immer willkommen ist. Ich habe stets mein Bestes getan, damit hier sein zweites Zuhause ist, damit das Band zwischen ihm und seiner Halbschwester nie durchtrennt wird.«

»Das ist dir über alle Erwartungen gut gelungen. Er und Amira sind nicht nur beste Freunde, er scheint auch Dalitha, deine und Menahems Tochter, unter seine brüderlichen Fittiche genommen zu haben.«

»Ja, er ist von Anfang an unendlich lieb zu ihr gewesen. Aber komm, es ist Zeit, daß wir das festliche Mahl auftragen, das wir ihm anläßlich seiner Bar Mizwa versprochen haben. Und dann müssen wir ihm noch unser Geschenk überreichen.«

»Ein Geschenk ist doch nicht nötig. Da'ud hat dafür gesorgt, daß Amira ihm …«

»Nicht Da'ud, liebe Sari«, unterbrach Djamila sie, indem sie ihr fest die Hand auf den Unterarm legte. »Wir. Menahem, Dalitha, Amira und ich.«

»Was für eine Verrücktheit habt ihr euch wieder ausgedacht?«

»Keine Verrücktheit. Komm«, sagte Djamila und ging ihr voraus auf die andere Seite des Hauses. »Wir haben einen Teil unseres Gemüsegartens abgetrennt, mit dem Hai jetzt machen kann, was er möchte.«

Saris Augen wurden vor Rührung ganz feucht. »Wie passend«, murmelte sie.

»Genau, und zudem ist es ein Geschenk, das in unserer Macht steht. Menahem und ich haben oft bemerkt, wie eingehend er jede Pflanze untersucht, die ihm unter die Augen kommt – Blüten, Blätter, Wurzeln, alles. Dieses kleine Stückchen Erde wird es ihm möglich machen, Samen zu säen, zuzuschauen, wie sie wachsen, und seine Studien zu treiben, wohin ihn seine Neugier auch führen mag.«

Während Djamila sprach, blitzte vor Saris innerem Auge die Erinnerung an die Reihe von Pflanzen wieder auf, die in Da'uds Zimmer in seinem Elternhaus auf der Fensterbank gestanden hatte, zarte Pflänzchen, die er, in seinem Bemühen, sie ins Leben zurückzulocken, ihrer Obhut anvertraut hatte. Jetzt lebte sein jugendlicher Forschergeist in ihrem einzigen Sohn wieder auf. Für welche Zwecke würde Hai all das Wissen einsetzen, das er ansammelte? fragte sie sich. Würde er nur die Grenzen des menschlichen Wissens erweitern wollen wie Da'ud in jungen Jahren, oder würde er sich daran machen, das Los seiner Mitmenschen zu verbessern? Sie für ihren Teil hoffte, daß aus ihm der wahre Arzt würde, der sein Vater trotz seines großen Ruhmes nie gewesen war.

»Mehr konnte man von diesen Bauern auch nicht erwarten«, meinte Da'ud geringschätzig, als Sari ihm von Menahems und Djamilas schöner Geste berichtete.

»Ich finde es rührend, daß sie Hai bei seinem Studium der Pflanzen unterstützen wollen. Weißt du noch, mit welch selbstvergessenem Interesse du die Pflanzen betrachtet hast, die dir der Einsiedler damals hinterließ? Das gehört doch alles auch zu der umfassenden Bildung, die du für ihn vorsiehst, oder nicht?«

Da'ud antwortete mit einem übellaunigen Knurren. »Ich brauche keine Einmischung von dieser Seite.«

»Sie meinen es nur gut.«

»Mag schon sein.«

Hai errötete ob der Mißachtung seines Vaters für die Menschen, deren Warmherzigkeit und Schlichtheit er liebte, sagte aber aus Respekt kein Wort. Sari, die längst gelernt hatte, daß jegliche Diskussion überflüssig war, wenn ihr Mann in einer solchen Stimmung war, schwieg ebenfalls. Am folgenden Sabbat jedoch versuchte Da'ud alles wieder gutzumachen.

»Ich freue mich über dein Interesse an den verschiedenen Pflanzen«, sagte er zu Hai, als sie sich zum Abendessen niederließen. »Bei Gelegenheit, ehe meine Gelenke noch mehr schmerzen, müssen wir einmal zusammen zur Hütte des Einsiedlers reiten – wenn überhaupt noch etwas von ihr übrig ist –, und ich zeige dir, wo ich die Pflänzchen gefunden habe, die deine Mutter neulich erwähnte. Leider sind sie damals in dem harten Winter eingegangen, als du vier oder fünf Jahre alt warst. Unter den unzähligen Arten, die sich um die Hütte des Alten herum an unser Klima gewöhnten, war auch eine besondere Art von Aloe, deren Namen ich nicht kannte und von der er mir berichtete, daß sie überall im Orient für ihre Wunderkräfte berühmt war. Es waren beinahe seine letzten Worte. Er hat das Geheimnis ihrer Wunderwirkung mit ins Grab genommen.«

»Was ist aus den Pflanzen geworden, die er züchtete?«

»Als ich endlich alle Zutaten des Großen Theriak ermittelt hatte und Zeit gehabt hätte, mir um sie Gedanken zu machen, hatten Banausen sie bereits alle ausgerissen. Seltsamerweise hatte auch mein Lehrer Ibn Zuhr Gerüchte von einer Heilpflanze gehört, die in den Ländern des Ostens gegen bösartige Krankheiten angewandt wird. Aber alle Nachforschungen, die wir im Laufe der Jahre anstellten, waren ergebnislos.«

»Meinst du, es könnte die gleiche sein wie die, von der der Einsiedler sprach?«

»Ich weiß es nicht, aber es wäre wunderbar, wenn du die Suche fortsetzen würdest. Vielleicht hast du mehr Erfolg als ich. Du darfst jedoch nicht zulassen, daß die Liebe zur Botanik dich von deinen medizinischen Studien ablenkt, die nun bald beginnen. Wenn du dich in den wissenschaftlichen Fächern als ebenso brillanter Schüler erweist wie in deinen jüdischen, klassischen und sprachlichen Studien, dann bin ich ziemlich sicher, daß Ibn Zuhr, obwohl er inzwischen ein alter Mann ist, doch zustimmen und dich in den erlauchten Kreis derer aufnehmen wird, die er heute noch zu unterrichten geruht. Du hast mehr Glück als ich seinerzeit, denn heute haben wir ein Hospital, das diesen Namen verdient und in dem du die Krankheiten und ihre Symptome und die Wirkungen unserer Behandlungen studieren kannst. Du hast inzwischen die religiöse Volljährigkeit erreicht, und ich rate dir: Nimm die Weisheit dieses Lehrers in tiefen Zügen in dich auf und nutze jeden Tag, den Gott ihm noch schenkt.«

Saris Augen strahlten vor Freude, als sie dieses Gespräch zwischen Vater und Sohn hörte. Möge Da'ud noch erleben, wie die ehrgeizigen Pläne, die er für Hai schmiedete, sich verwirklichten.

Angefüllt mit Lernen und unersättlicher Neugier, verging Hais Jugend und frühes Mannesalter wie im Flug. Sein Vater wurde nun allmählich alt und zunehmend streitsüchtig, da ihn die Bürde seiner Aufgaben drückte. Das wachsende Mißtrauen gegen Intrigen im Palast verschlechterte seine Laune noch mehr, raubte ihm die Kraft, die er gebraucht hätte, um seine Gelenkschmerzen zu ertragen. Sari war die Geduld in Person, und auch Hai war voller Mitleid und Zuneigung für seinen Vater, wenn es ihm die Studien einmal erlaubten, mit ihm zusammen zu sein. Bei diesen Gelegenheiten versuchte Da'ud seinen Sohn in die Kunst des Überlebens am intriganten Hof von Córdoba einzuweihen, denn er bezweifelte keinen Augenblick, daß Hai in seine Fußstapfen treten würde. Der aber fand immer einen Vorwand, um derlei Gesprächen aus dem Weg zu gehen – einen Aufsatz über Fieberkrankheiten, den er noch einmal durchlesen mußte, anatomische Zeichnungen, die es anzufertigen galt, Listen von wärmenden und kühlenden Arzneimitteln, die auswendig zu lernen waren. Nie versuchte Da'ud ihn zurückzuhalten. Die intellektuellen Fähigkeiten und die Strebsamkeit seines Sohnes waren außergewöhnlich, und wie er es zu Recht vermutet hatte, gab Ibn Zuhr wiederholt seiner Genugtuung über das Vergnügen Ausdruck, das ihm die Unterweisung des jungen Mannes bereitete.

Auch Hais Besuche in dem Häuschen auf dem Land wurden seltener, je anstrengender seine Studien wurden. Trotzdem bereiteten sie ihm unverändert große Freude. Wann immer er erschien, kam im ganzen Haus eine fröhliche und festliche Stimmung auf. Djamila und ihre Töchter machten sich um ihn zu schaffen, Menahem lauschte in seiner mit Büchern vollgestopften Ecke, wo er sein Lexikon zu Ende schrieb, den neuesten Nachrichten aus Córdoba. Dann gingen Hai und die Mädchen nach draußen, um sich die Pflanzen anzusehen, die auf Hais Gartenstück in den Jahren seit seiner Bar Mizwa herangewachsen waren. Er hatte sie mit großer Sorgfalt und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Familie ausgewählt: dichte Büsche graublauen Lavendels, dessen Blüten man zwischen die Kleidung und die Wäsche der Familie legen konnte; die gelb blühenden pelzigen Senfpflanzen, aus denen Würze für die Speisen bereitet wurde, die Djamila aus dem von ihr angebauten Gemüse kochte, und schließlich der süße gelbe Steinklee, nach dem Da'ud so fieberhaft gesucht hatte, die einzige Zutat, die ihm für die Bereitung des Großen Theriak noch gefehlt hatte, als er wenig älter gewesen war als Hai jetzt. Die Geschichte der Entdeckung des Steinklees, die im Kreise der Familie immer und immer wieder wie eine Legende erzählt wurde, hatte Hai angeregt, ihn anzubauen. Seit seiner frühen Kindheit wußte er, daß auch dessen Wurzeln schon ein wirksames Mittel gegen Schlangenbisse darstellten, und der Gefahr von Schlangenbissen war Djamilas Familie, da sie ja auf dem Land lebte, ständig ausgesetzt. Wenn ihnen aus irgendeinem Grund der Vorrat an dem kostbaren Heilmittel der Ahnen, dem Großen Theriak, ausging, konnten die Kleewurzeln ihnen von großem Nutzen sein.

In den ersten Sommern nach seiner Bar Mizwa hatten es sich Hai und die Mädchen angewöhnt, die Ernte und das Trocknen der Lavendelblüten und der Senfkörner zu einem richtigen Fest zu gestalten. Sie begannen am frühen Morgen mit der Arbeit, lachten und neckten sich, bis sie völlig erschöpft in der sengenden Mittagshitze niedersanken und die Nachmittage hindurch schliefen. Doch als Hai die Menge seiner Studien derlei Vergnügungen nicht mehr erlaubte, mußte er den Mädchen den größten Teil der Arbeit überlassen. Wie vorauszusehen war, wurde Dalitha als Jüngste geschont. Sie behauptete, die pelzigen Senfpflanzen verursachten ihr am ganzen Körper schrecklichen Juckreiz, weigerte sich, sie auch nur anzurühren, und half Amira nur beim Lavendel.

Sobald aber Hais Studien der verschiedensten Arzneien weit genug fortgeschritten waren, kümmerte er sich wieder um die Pflanzen, die er gesät hatte, in dem verzweifelten Bemühen, einen wärmenden Umschlag zusammenzustellen, der die Schmerzen seines Vaters lindern könnte. Jeden Sommer trocknete er Senfkörner und mahlte sie zu Pulver. Dann fügte er Mehl und soviel Lavendelöl hinzu, wie er aus den Stengeln der Sommerernte gewann, ein zusätzliches wärmendes Ingredienz, das wirksam und – wichtig für Da'ud – zugleich wohlriechend war. Amira stellte sich als fähige Helferin heraus, Dalitha vergnügte sich damit, die Lavendelstengel aufzuheben, die bei der Ölgewinnung hierhin und dorthin flogen. Sie rieb sie zwischen den Handflächen und sog den erfrischenden Duft tief ein.

Dann ruhten sich die drei im kühlenden Schatten der Pergola aus, und während sie das Scherbett nippten, das Djamila ihnen gebracht hatte, erfragte Amira von ihrem Halbbruder zuweilen seine Meinung zu einem Gedicht, das sie geschrieben hatte. Einmal feierte sie das Thema des Frühlings, das Menahem für sie aus dem Hohen Lied Salomos ausgesucht hatte. Ein anderes Mal hatte sie, angeregt von den Wundern der Natur, die sie täglich beobachtete, ein Herbstgedicht verfaßt, in dem es lyrische Anklänge an das Buch Ruth gab. Hai lobte sie immer sehr, und wenn er zuweilen vorschlug, ein Wort oder einen Reim zu verändern, so tat er das so taktvoll und zart, daß er sie nicht kränkte.

Dalitha wurde dann immer ganz unruhig, rannte ins Haus und kam, eine Hand hinter dem Rücken verborgen, zurück. Sie war fest entschlossen, sich nicht von ihrer älteren Schwester in den Schatten stellen zu lassen, näherte sich Hai und errötete mit einer Mischung aus Schüchternheit und Bewunderung für diesen rotschopfigen, blauäugigen Halbgott, der sich mit der Anmut einer Antilope bewegte und der über alles unter der Sonne Bescheid wußte. Scheu und doch voller Stolz zog sie eine Seite mit hebräischer Kalligraphie hervor und hielt sie ihm hin. Hai legte dann immer den Arm um ihre schmalen Mädchenschultern und versprach ihr, er und sie würden eines Tages auch schöne Verse miteinander schreiben. Dalithas Herz hüpfte vor Freude, und wenn Hai sah, wie sich ihr Gesicht erhellte, wurde auch ihm ganz warm ums Herz.

Mit der Zeit war Ibn Zuhr mit Hais Fortschritten in der Kunst des Aderlasses zufrieden und erlaubte ihm, diese ab und zu an seinem Vater zu erproben, um ihn von den dickflüssigen Blutsäften zu befreien, die ihm die schmerzhafte Entzündung seiner Gelenke verursachten. Dabei bemerkten sowohl Da'ud, der Patient, als auch Sari, die als helfender Engel immer in der Nähe war, daß ihr Sohn eine Begabung besaß, die ihn unter allen anderen Ärzten, die sie kannten, hervorhob. Da'ud war sich nicht sicher, ob nicht vielleicht väterlicher Stolz ihn blind machte, und brachte das Thema bei seinem verehrten Lehrmeister zur Sprache, als er ihm aus Anlaß des großen moslemischen Festes Id il-Fitr als Vertreter der jüdischen Gemeinde einen Besuch abstattete.

»Ja«, bestätigte ihm der alte Lehrmeister, »dein Sohn ist mit einer außergewöhnlichen Begabung gesegnet, deren Zeugen sowohl ich als auch meine Studenten im Hospital bereits wurden. Es reicht aus, daß er seinen mitleidigen Blick auf einem Menschen ruhen läßt, für dessen Leiden wir kein Heilmittel kennen, es reicht, daß er eine schwache, fiebernde Hand in die seine nimmt, und schon kehrt Leben und Hoffnung in Augen zurück, die bereits fast erloschen waren. Wäre ich nicht ein Mann der strengen Wissenschaft, ich wäre versucht zu glauben, daß ein lebenspendender Strom von seinem Auge und seiner Hand in die Menschen überfließt. Schon allein sein Talent für die Diagnose und sein umfassendes Gedächtnis für Heilverfahren und Medikamente läßt ihn als einen der brillantesten Studenten herausragen, den ich je hatte. Wenn er sich trotz der ungeheuer vielen menschlichen Leiden, die zu heilen auch er außerstande sein wird, diese seltene und kostbare Gabe bewahrt, diese Fähigkeit, seinen Patienten ein Gefühl des Wohlbefindens und Vertrauens einzuflößen, ihnen die Prüfung des nahenden Todes zu erleichtern, dann wird aus ihm ein Arzt von ganz besonderem Rang.«

»Euer Lob ist überwältigend.«

»Ich spreche nur die Wahrheit. Ich bin zu alt, um mich mit Schmeicheleien abzugeben, wie das die Herren bei Hofe für nötig erachten.«

»Ich danke Euch, Meister. Möge Gott Euch noch viele Jahre gesund am Leben erhalten.«

An jenem Abend, als Hai auf Da'uds schmerzenden Knie mit leichter Hand den Umschlag auflegte, den er eigens für ihn zubereitet hatte, wußte sein Vater, daß die Linderung, die er verspürte, von dem tiefen Mitgefühl, das von seinem Sohn zu ihm strömte, ebenso ausging wie von den Heilkräutern. In Hais Augen leuchtete eine Wärme, die von seinem Verständnis für jegliche Form menschlichen Leidens zeugte und von dem leidenschaftlichen Wunsch, es zu lindern.