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Nach dem Tod seiner Mutter war in Hai etwas zerbrochen. Sein Mitgefühl und seine Empfindsamkeit, die ihn zu einem großen Arzt hatten werden lassen, machten ihn nun so verletzlich, daß er den Verlust all jener, die ihm so lieb gewesen waren, nicht verwinden konnte. Es war, als hätte man ihm einen Teil seiner selbst fortgerissen und eine klaffende Wunde hinterlassen, die nicht heilen wollte. Er suchte Trost bei Dalitha, er brauchte sie so sehr, daß sie selbst aus ihrem stummen Schmerz gerissen wurde. So wie Hai anderen beigestanden, ihnen großzügig gegeben hatte, bis seine eigene innere Quelle versiegt war, mußte nun sie ihm beistehen. Ihre Traurigkeit band sie nur noch fester aneinander und verlieh ihrer Liebe, die sie schon seit Kindertagen vereinte, neue Tiefe und Reife.
Ein Jahr nach Saris Tod wurde ihr zweiter Sohn Natan geboren. In der Sorge um dieses neue Leben fand Hai den Balsam für seine wunde Seele.
Amram faßte sofort Abneigung gegen das schrumpelige, schreiende Geschöpf, das ihm seinen Platz als Dreh- und Angelpunkt des gesamten Haushalts strittig machte. Obwohl sie sich seiner Reaktion bewußt waren, konnten ihn weder Hai noch Dalitha ganz dafür entschädigen, daß nun ein Teil ihrer Aufmerksamkeit dem kleinen Bruder galt. Mit der Zeit wurde seine Abneigung eher größer, sie schwelte noch viele Jahre in seinem Herzen.
Als die Kinder heranwuchsen, nahm auch die Verblüffung ihrer Eltern über ihre gegensätzlichen Persönlichkeiten zu. Während Natan die Empfindsamkeit und Sanftheit seines Vaters geerbt zu haben schien, war Amram seinen Eltern so wenig ähnlich, daß sie manchmal kaum ihren Sohn in ihm erkannten. Kurz nach Natans Geburt entwickelte Amram eine Aggressivität, die die friedliche Atmosphäre im Haus empfindlich störte. Stundenlang zog er sich zurück, war völlig vertieft in die Schlachten, die er zwischen gegnerischen Armeen aus Zinnsoldaten austrug, und die markerschütternden Schreie, mit denen er die Angriffe begleitete, hallten durch das Haus und beunruhigten Hais wartende Patienten zutiefst. Natan, den die grellbunten kleinen Figuren faszinierten, näherte sich schüchtern seinem älteren Bruder und wollte gern beim Kriegsspiel mitmachen, doch der schubste ihn nur unsanft weg, schloß ihn von den triumphalen Siegen seiner aufregenden Feldzüge aus. Niedergeschlagen tippelte Natan dann zur Mutter und kuschelte sich an ihre Knie, um seinen Kummer zu verbergen. Dalithas Herz war voller Mitleid für ihn, und sie unterbrach ihre hebräische Übersetzung von Abu'l Kasims neuestem Aufsatz und nahm den Kleinen auf den Schoß, um ihn zu trösten.
Obwohl Amram sich, wie seine Vorwitzigkeit als kleines Kind hatte vermuten lassen, zu einem hervorragenden Schüler entwickelte, zeigte er wenig Eignung für die Medizin, wie es sein Vater gewünscht hätte. Der rastlose junge Mann verschwand immer öfter aus dem Elternhaus vor der Stadt, oft länger, als Hai für angebracht hielt. Wenn er ihn dann fragte, wo er gewesen sei, erklärte er, er habe bei muslimischen Freunden in Córdoba Arabisch gelernt. Aber das stimmte nur zum Teil. Die meiste Zeit verbrachte er damit, durch die Straßen und Märkte der vor Menschen wimmelnden Stadt zu streifen und aufmerksam allen Gesprächen zu lauschen, die um ihn herum brandeten.
Wenn er von seinen Streifzügen durch die Stadt zurückkehrte, wurden die Gespräche mit seinem Vater in einem Ton geführt, den man zuvor innerhalb der ruhigen Mauern des Hauses nie vernommen hatte. Warum, wollte Amram wissen, hatte sein Vater in voller Absicht dem Hof den Rücken gekehrt, wo dort doch die Quelle aller wirklichen Macht lag? Und wenn er sich schon entschlossen hatte, der Macht und dem Einfluß zu entsagen, warum waren ihm dann auch weltliche Güter gleichgültig, die einzige andere Art der Macht, die als Verteidigung und Schutz dienen konnte? Warum weigerte er sich, von den meisten Patienten jegliche Form der Bezahlung anzunehmen, und akzeptierte selbst von denen, die es sich leisten konnten, nur symbolische Honorare?
Ruhig und geduldig erklärte Hai seinem rebellischen Sohn, er habe genug Leid gesehen, um den trügerischen Wert weltlicher Güter zu kennen. Im Angesicht der Krankheit sind alle Menschen gleich, sagte er, und ihr Vermögen ist ihnen weder von Nutzen, noch tröstet es sie. Er hätte kein Recht, aus ihrem Leid Vorteil zu schlagen. Zu sehen, wie seine Patienten von ihrem Krankenbett aufstanden und wieder ein normales Leben aufnahmen, das war ihm mehr wert als ein Dutzend Truhen voller Gold.
Und wo blieb bei all dem seine Mutter? war Amram oft zu fragen versucht. Mit den Jahren hatte er beobachtet, daß sein Vater so sehr in seine Beobachtungen und Forschungen vertieft war, daß er ihre Gegenwart beinahe vergaß. Dalitha bewunderte ihren Mann wie eh und je und äußerte nie ein Wort des Protests. Sie verlor sich einfach in ihren Übersetzungen. Doch seine Vernachlässigung ließ ihre Augen immer trauriger werden und ihre Erscheinung vor der Zeit altern. Nicht einmal Amram wagte es jedoch, in diesen heiklen Bereich einzudringen, genausowenig wie Hai es gewagt hatte, die intimsten Gefühle seiner Mutter im Zusammenhang mit seiner Geburt zu erfragen.
Nach diesen unguten Gesprächen zwischen Vater und Sohn verfiel Hai stets in tiefe Melancholie, und Amram war voller bitterer Vorwürfe für die ausschließliche Hingabe seines Vaters an die Wissenschaft und die Medizin. Aus all dem, was er während seiner Streifzüge durch die Straßen von Córdoba in sich aufgenommen hatte, war ihm mehr als klar geworden, daß das Kalifat von Córdoba bei all seiner Macht und Herrlichkeit nur so lange überleben konnte, wie ein starker Herrscher, den niemand anzugreifen wagte, auf dem Thron saß. Beim kleinsten Riß, der sich in der Führung offenbarte, würde das Reich zerfallen, sich in die verschiedenen Elemente auflösen, aus denen es sich zusammensetzte und die untereinander erbittert streiten würden, um ein Stück für sich zu ergattern.
Was hatten, so fragte Amram seinen Vater, die blutrünstigen Berbersöldner, die al-Mansur aus Nordafrika zur Verstärkung seines Heeres herbeigeholt hatte, mit den Slawen aus Osteuropa gemein, früheren Sklaven, die in die oberen Ränge der Verwaltung aufgestiegen und damit mächtig geworden waren? Und wie betrachteten die Andalusier, die immer hier gelebt hatten, diese beiden Gruppen von Fremden, die sich in ihrem Lande niedergelassen hatten und dabei fett geworden waren? Wenn die Zeit reif war, würden diese drei Bevölkerungsgruppen einen unerbittlichen Kampf gegeneinander führen, in dem es um einen Teil der riesigen Territorien ging, die die Omaijaden ausgeraubt hatten, aber nun nicht mehr zu regieren vermochten. Wenn er weder Einfluß bei Hof noch ein Vermögen hatte, mit dem er sich Schutz erkaufen konnte, wie wollte sich Hai dann in den schwierigen Zeiten, die bevorstanden, verteidigen?
»Ärzte sind in solchen Zeiten noch gefragter als sonst. Ihr Beruf schützt sie«, erwiderte Hai dann unweigerlich.
»Ich kann Blut und Eiter nicht aushalten. Ich werde meine Zukunft auf andere Weise sichern.«
»Jeder Mensch muß seinen natürlichen Neigungen folgen«, murmelte Hai, »aber welchen Beruf du auch wählst, mein Sohn, übe dich in Bescheidenheit. Das ist der Preis für das Überleben.«
Niedergedrückt vom Kummer über die Revolte seines Sohnes, wandte sich Hai dann dem sanften Natan, seinem anderen Sohn, zu, von dem er spürte, daß er einmal in seine Fußstapfen treten würde.
Al-Mansur starb, wie er gelebt hatte. Er tat seinen letzten Atemzug bei der Rückkehr von einem weiteren Sieg über seine kastilischen Vasallen, einem Feldzug, dem die symbolische Schleifung des geheiligten Schreins der Christen in Santiago de Compostela vorausgegangen war. Als die Nachricht von seinem Tode Córdoba erreichte, verkündete Amram seinen Entschluß, das Elternhaus zu verlassen. Obwohl Hai von tiefer Trauer erfüllt war, war er doch überzeugt, daß sein Erstgeborener wie der Verlorene Sohn wieder zu ihm zurückkehren würde. Doch Amram wußte, das würde niemals geschehen.
Zum Abschied enthüllte Hai Amram das Geheimnis der genauen Zusammensetzung des Großen Theriak und gab ihm den Rat, dieses Mittel vorbeugend zum Schutz gegen die Pest anzuwenden. »Dieses Wissen, mein Sohn, könnte sich sehr wohl einmal als dein bester Schutz herausstellen.«
Obwohl Amram seinem Bruder so fremd war wie eh und je, mußte Natan doch weinen, als er ihn davonziehen sah.
In das unverwechselbare dunkle Gewand des Hauses Ibn Yatom gekleidet, zog Amram ben Hai ben Da'ud ibn Yatom durch die Provinzen von al-Andalus, von Sevilla im Westen nach Granada im Osten, beobachtete, nahm alles in sich auf, hörte zu und lernte. Überall wandten sich die Köpfe nach ihm um, wurden Augen fragend erhoben, wenn der große, kräftige Fremde vorbeikam, dessen Bewegungen – die Bewegungen seiner Großmutter Djamila – so ausladend und frei waren, dessen wache blaue Augen in scharfem Kontrast zu seiner dunklen Haut standen. Aber besonders seine geschliffene Aussprache und seine eleganten Sätze sicherten ihm die Bewunderung aller, die ihm begegneten, und flößten allen, die sich seiner Talente bedienten, Vertrauen ein. Hier verdingte er sich als Unterhändler, handelte Absprachen zwischen muslimischen und jüdischen Händlern mit der Finesse aus, die er sich während seiner jugendlichen Streifzüge durch die wimmelnden Gassen und Märkte seiner Heimatstadt erworben hatte. Dort stellte er seine literarischen Talente in den Dienst eines Berberprinzen, der des Lesens und Schreibens nicht mächtig war, oder eines freigelassenen slawischen Sklaven, der sich mit Waffengewalt aus den Bruchstücken des zerborstenen Kalifenreiches ein unabhängiges Reich geschmiedet hatte.
Genau wie er es vorhergesehen hatte, war das herrliche Reich, das der unfähige Hisham II. geerbt hatte, nach dem viel zu frühen Tod des 'Abd al-Malik, des fähigen Sohnes und Erben al-Mansurs, zerfallen. Das Gerücht ging um, der hajib sei von seinem eigenen jüngeren Bruder vergiftet worden. Dieser eitle, arrogante und vergnügungssüchtige Bruder mit Namen Sanchol, Sohn einer christlichen Prinzessin aus Navarra, zeigte ganz unverhohlen seine Verachtung für die Sitten des Moslems, als wolle er seine murrenden, von Steuern ausgebluteten Untertanen nun auch noch damit strafen. Sein letzter wahnsinniger Streich war jedoch, daß er den glücklosen Hisham zwang, ihn als Erben des Kalifentitels einzusetzen. Entrüstet erhoben sich die Bürger von Córdoba, stürzten das Kalifat in wildes Chaos. Nie wieder sollte es sich von diesem Schlag erholen. All seine riesigen Gebiete fielen an jene, die ein Schwert oder einen Säbel zu führen verstanden.
Amram verbannte die Turbulenzen der Zeit einen Augenblick aus seinen Gedanken und gab sich ganz der Freude hin, als er jenseits der gedrungenen Mauern Málagas, dessen mit dem Halbmond verzierte Türme hoch aufragten, am Strand entlangspazierte. Das Meer war ruhig wie kaum je, die Strahlen der Sonne ließen die Wasseroberfläche glitzern und schienen seine eigene gute Laune zu spiegeln. Soeben hatte er einen fabelhaften Handel zwischen einem nubischen Kaufmann, der eine atemberaubende Auswahl ungeschliffener Edelsteine anbot, und Joseph ibn Aukal, dem berühmtesten Juwelier von ganz al-Andalus, vermittelt. Wie viele andere Juden hatte Amram vor den Unruhen der Zeit Zuflucht in dem stillen Hafen gefunden, der Málaga geblieben war, ging seinen Geschäften nach und häufte ein Vermögen an. Geschickt eingefädelt, dachte Amram lächelnd, während die Sonne leicht über die kleinen Wellen tänzelte, geschickt eingefädelt, wie er die Sonne selbst den Handel hatte entscheiden lassen. Er hatte die Edelsteine aus der verschwitzten Pfote des stattlichen Nubiers in seine eigene feine, schmale Hand – Saris Hand, Hais Hand – gleiten lassen, war aus dem düsteren Schatten des bedestan ins Tageslicht getreten und hatte seine Hand ein wenig schräg gehalten, so daß die Sonne die glühenden Rubine und die festlich grünen Smaragde hatte aufleuchten und erstrahlen lassen. Innerhalb von Sekunden waren vor Joseph ibn Aukals Augen Bilder von Fassungen aus Gold und Perlen entstanden, in die er diese Juwelen einfügen würde, um sie am besten zur Geltung zu bringen. Sein einziger Wunsch war nur noch, sie als Schmuck einer Frau zu sehen, deren Schönheit allein sie überstrahlen konnte. Der Nubier war so entzückt gewesen, seine gesamte Ware an einen einzigen Käufer loszuwerden, der Juwelier so in die Betrachtung der Vollkommenheit dieser Steine vertieft, daß sie beide einwilligten, die völlig überzogene Vermittlungsgebühr zu zahlen, die Amram am Anfang verlangt, aber niemals zu bekommen gehofft hatte.
Mit dieser ansehnlichen Summe in der Tasche konnte er nun an den Kauf eines Hauses denken, am Fuß des Djabal Faro vielleicht, zwischen die Zypressen in der Nähe der Burgmauer geschmiegt. Gedankenverloren hob er eine ovale Muschel auf, deren zartes Muster sein Auge fesselte: Von der Mitte aus verliefen abwechselnd Streifen in braun, beige und weiß nach außen, verschmolzen die Farbnuancen harmonisch, strahlten in vollkommenen, rhythmischen Proportionen zum Rand hin aus, wie sie keine Menschenhand je hätte erschaffen können. Diese Vollkommenheit der Schöpfung hatte seinen Vater immer verwirrt, erinnerte er sich nun mit einer Zärtlichkeit, die wohl der Entfernung von seinem Zuhause zu verdanken war. Wenn derlei Vollkommenheit in der Welt war, was hatte sie dann getrübt? War Gott seiner Schöpfung müde oder überdrüssig geworden? Hatte er sein kapriziöses Vergnügen an Verirrungen, Unordnung, Konflikten und menschlichem Leid gefunden? Wenn das so war, wie konnte man Ihn dann als weisen, barmherzigen und allmächtigen Gott verehren, dem das Wohl der Menschen am Herzen lag? Amram legte die Muschel wieder in den Sand, gab seine fruchtlosen Grübeleien auf und wandte sich der praktischen Frage des Hauskaufs zu.
Es mußte einen Säulengang haben, mit schmalen Hufeisenbögen, durch die man auf das sich ständig verändernde Panorama des Himmels und des Meeres blicken konnte. Der Gedanke gefiel ihm. Hier in Málaga war er sicher, denn der slawische Gouverneur der Stadt, ein von einem von al-Hakams Höflingen freigelassener Sklave, hatte einen Pakt mit den streunenden Berberführern geschlossen, die ihm versprochen hatten, sein Gebiet in Ruhe zu lassen. Die Berber hatten diese Übereinkunft zweifellos aus purer Notwendigkeit getroffen: Eine friedliche Enklave, in der Handel ohne Störungen möglich war, war für sie lebenswichtig, um eine regelmäßige Versorgung ihrer Männer mit Nahrung, Waffen und Munition zu sichern, damit sie ihre Überfälle auf die Überreste des Kalifenreiches unternehmen konnten.
Ein Haus, vielleicht auch eine Frau, träumte Amram weiter, während er sich auf den Rückweg in die Stadt machte, in die massive Festung mit ihren quadratischen Türmen, die von der Anhöhe des Berges Djabal Faro auf sie herabblickte und ihren schützenden Schatten auf die Behausungen warf, die sich auf der Ebene in den Mauerring schmiegten. Das Klatschen der Wellen, der Duft des Geißblatts und Jasmins, der von den Palastgärten zu ihm herüberwehte, all das versetzte ihn in Hochstimmung.
Um so mehr erschrak er, als er gewahr wurde, wie Joseph ibn Aukal beinahe im Laufschritt über den sandigen Weg zwischen der Stadtmauer und dem Meer auf ihn zugeeilt kam, das makellose weiße Gewand um die Knöchel raffend, um sich schneller fortbewegen zu können.
»Unheil ist über deine große Stadt Córdoba hereingebrochen!« rief er, als er in Hörweite war. Er zog einen Brief aus der Tasche seiner Djellaba, wedelte wild damit in der Luft herum, während er atemlos fortfuhr: »Die Gerüchte, die während der letzten paar Tage im bedestan umgegangen sind, sind gar nichts verglichen mit der Wirklichkeit, die mir einer meiner Kunden in diesem Brief beschreibt. Die Belagerung der Stadt durch die Berber war erfolgreich. Sie zwangen die Einwohner durch Aushungern in die Knie, obwohl diese tapfer beteuert hatten, sie wollten lieber sterben, als unter Berberherrschaft gelangen. Beim Eindringen in die Stadt verübten die Barbaren dann Massaker, die sich jeder Beschreibung entziehen. Säuglinge wurden in den Armen ihrer Mütter dahingeschlachtet, ehrwürdige Theologen wurden beim Betreten ihrer Studienhäuser von hinten erdolcht, ihr weißes Haar färbte sich rostrot vom Blut, das aus ihren Wunden troff. Wenn sie von einer Frau wußten, daß sie ein Vermögen besaß, hängte man sie so lange an ihren Brüsten auf, bis sie das Versteck verriet. Was die Plünderungen angeht, so überlasse ich das Eurer Vorstellungsgabe. Sobald ein jeder Gegenstand von einigem Wert aus den Häusern der Reichen gestohlen war, setzten sie die Villen und Gärten in Brand. Alles, was von den herrlichen Wohnhäusern in den westlichen Vorstädten noch übrig ist, sind rauchende Ruinen, zwischen denen um Mitternacht die Schakale heulen.«
Amram erbleichte. »Wo finde ich das schnellste Roß von Málaga?« rief er und umklammerte den Arm des Händlers mit eisernem Griff.
»Überlaßt das mir.«
Amram legte den Viertagesritt nach Córdoba in weniger als drei Tagen zurück. Unermüdlich sprengte er durch die sanfte Hügellandschaft, blind für alle Schönheit – das zarte Grün, den hauchdünnen Schleier des Frühlings, auf den eine Vielzahl bunter Blüten gestreut war, die der erbarmungslose Sommer noch nicht hatte verdorren lassen. In seiner Bitterkeit hätte er wahrscheinlich sogar diese herrliche Pracht als zynische Täuschung betrachtet, die Schönheit der Natur als trügerische Maske, die ihre Grausamkeit verbergen sollte …
Nie hatte der ältere, rebellische Sohn von Hai ibn Yatom so inbrünstig gehofft, daß sich die Argumente seines Vaters bewahrheiten würden. Nur eines ersehnte er: Hai und seinen Bruder Natan vorzufinden, geschwächt vielleicht, aber doch immer noch damit beschäftigt, die Verwundeten von Córdoba in dem Haus vor der Stadt zu versorgen, das sein Heim gewesen war, ihr Arztberuf als Schutz für die ganze Familie … Hätte er noch an den Gott seiner Ahnen geglaubt, er hätte gebetet, aber die bestialische Schlächterei der Berberhorden – auch sie Gottes Schöpfung – hatte seinen Glauben an die Existenz eines Höheren Wesens für immer zerstört. Wenn Er tatsächlich das barmherzige und allmächtige Wesen war, an das die Menschen glauben wollten – glauben mußten –, wie konnte Er dann zulassen, daß an unschuldigen Menschen solche schrecklichen Greueltaten verübt wurden? Und doch, wenn Er nicht existierte, an wen oder was konnten die ganz normalen Menschen sich dann noch wenden, wenn ihnen sonst alle Hilfe verwehrt war? In Amrams scharfem Verstand standen sich blinder Glaube und abgrundtiefe Verzweiflung gegenüber. Keine von beiden Möglichkeiten bot eine Lösung. Was dann? Nur ein skrupelloser Kampf ums Überleben, jeder für sich nach den unbarmherzigen Gesetzen der Natur, ohne Tempel oder Priester, die um die Gnade jenes Allmächtigen flehten?
Die Sonne hatte schon beinahe ihren mittäglichen Höchststand erreicht, als das kleine Landhaus in Sicht kam. Der Anblick der Geier, die darüber ihre Kreise zogen, der Gestank verrottenden Menschenfleisches, der ihm in die Nase stieg, als er näher kam, töteten jede Hoffnung, die er während seiner Reise noch gehegt hatte, im Keim ab. Und doch, als er sich beim Eintreten ins Haus niederbeugte und Dutzende verstümmelter Leichen, die dort auf dem Boden lagen, mit dem Gesicht nach oben drehte, als er gegen jede Vernunft überlegte, wenn er seinen Vater, Natan und seine Mutter hier nicht entdeckte, hätten die drei vielleicht wirklich einen Beschützer gefunden … Während er sich einen Weg durch die Toten bahnte, wußte er schon, daß das nicht so gewesen sein konnte. Hai ibn Yatom hätte niemals die Verwundeten im Stich gelassen, die hilfesuchend zu seinem Haus gekrochen und gehumpelt waren, und Dalitha wäre niemals von ihm fortgegangen. Als Amram seinen Vater schließlich fand, erkannte er aus der Lage der Leiche, daß man ihn ermordet hatte, während er gerade kniete, um einen Patienten zu behandeln, dessen Körper von Messerstichen übersät war. Ihm selbst hatte man ein Schwert in den Rücken gerammt, das ihn, so hoffte Amram, auf der Stelle getötet hatte. Er war zur Seite gefallen, den Körper gekrümmt wie ein Ungeborener. Dalitha hatte man zu Boden gestreckt, als sie ihm zu Hilfe eilte. Wie viele dieser Unmenschen sie vergewaltigt hatten, ehe sie erdrosselt wurde, konnte er nicht sagen …
Blindlings stolperte er über die anderen Leichen hinweg und taumelte aus dem Haus. Benommen vor Schmerz und Grauen, angewidert vom Gestank des Gemetzels ringsum, erbrach er sich, bis er nichts mehr im Leib hatte. Dann wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn und versuchte, des Zitterns Herr zu werden, das ihn am ganzen Leib erfaßt hatte, suchte ringsum nach einem angemessenen Grab, in dem er die Leichname seiner Eltern zur letzten Ruhe betten konnte. Wohin er auch blickte, nichts als Verwüstung. Den Hausgarten, der immer so voller Leben gewesen war, hatten die Horden zertrampelt, den Gemüsegarten völlig ausgeräumt, die Obstbäume ihrer Zweige beraubt, die zarten Weinschößlinge in wilder Zerstörungswut niedergemacht. Die Aloepflanzung hatte man mit dem Schwert zerhackt, die breiten fleischigen Blätter in Stücke geschnitten und am Boden unter den leeren Strünken der Fäulnis überlassen. Amram stand da, betäubt von der sinnlosen, wilden Grausamkeit der Berber, als er hinter sich Schritte hörte, die zögernd vom Haus näher kamen. Noch ein verzweifelter Patient, dachte er, als er sich zum Haus umwandte. Es dauerte einen Augenblick, ehe er in der gespenstischen Gestalt, die auf ihn zugewankt kam, seinen Bruder erkannte.
Wortlos legte Amram seinen stützenden Arm um Natans Schulter, und zusammen machten sie sich mit unsicheren Schritten auf den Weg zum Gärtnerschuppen. Dort setzten sie sich auf einen Stapel alter Säcke. Amram gab Natan den letzten Schluck Wasser aus seiner Kürbisflasche und den Rest seines Proviants, den er aus Málaga mitgebracht hatte. Dann wartete er schweigend, bis Natan die Kraft zum Sprechen aufbrachte.
Mit hängenden Schultern preßte sich Natan den Daumen an die Schläfe und fuhr sich mit den Fingern über die Augen, als wolle er die Bilder auslöschen, die noch immer vor ihm standen. Aber es nutzte nichts. Schließlich murmelte er: »Es war ein unglaubliches Gemetzel. Zunächst hat man uns hier in Frieden gelassen, obwohl wir uns schon denken konnten, was für Greueltaten begangen wurden, weil der Wind das Heulen und Wehklagen aus der Stadt zu uns trug und die Flammen hoch in den Himmel loderten und über dem Leichnam der Stadt dichten Rauch wie ein schwarzes Leichentuch ausbreiteten. Die Verwundeten kamen in Scharen zu uns, Berber und Cordobaner gleichermaßen. Wir arbeiteten Tag und Nacht, um zu helfen, wo wir konnten. Doch dann, als in der Stadt niemand mehr war, den sie hätten töten können, kamen sie, immer noch blutrünstig, hierher gestürmt. Die Verwundeten haben sie ohne Ansehen der Person niedergemetzelt, ganz gleich, ob es ihre eigenen unglückseligen Soldaten oder ausgehungerte Verteidiger unserer geliebten Stadt waren.« Natan schluckte und legte eine kleine Pause ein, ehe er weitersprach.
»Als sie Vater erblickten, kreischten sie wilde Anschuldigungen, er hätte ihre Feinde behandelt, und töteten ihn auf der Stelle, wo er gerade kniete und einem Mann von unbekannter Herkunft die Todespein zu lindern versuchte. Was sie vor meinen Augen mit Mutter gemacht haben«, und hier brach ihm die Stimme, »war so grauenhaft, daß ich es nicht in Worte fassen kann.«
»Und du?«
»Mich haben sie verschont, unter der Bedingung, daß ich mit ihnen in die Stadt zurückging und dort einen ihrer Anführer behandelte, auf den aus einem brennenden Haus ein schwelender Balken herabgefallen war. Das Haus …« Natan unterbrach sich noch einmal, wurde von wildem Schluchzen geschüttelt. Nicht einmal Tränen wollten fließen, um das Grauen zu lindern. »Das Haus«, stammelte er schließlich, »war unseres. Als ich ihnen sagte, der Verwundete würde noch einen oder zwei Tage nicht im Sattel sitzen können, wurden meine Geiselnehmer ungeduldig und galoppierten auf der Suche nach weiteren Opfern davon. Ihre Blutrünstigkeit hat mir das Leben gerettet.«
Benommen vor Grauen standen die Brüder auf, vereint in ihrem Schmerz, wie sie es in ihrer Kinderzeit nie gewesen waren. Zusammen nahmen sie die Spaten, die im Schuppen lagen, und gruben am Fuß der Zypressen an der Grundstücksgrenze der Ibn Yatoms ein Doppelgrab. Sie bahrten die Leichname auf, so gut sie konnten, wickelten sie in den Gebetsschal ihres Vaters, den sie wunderbarerweise unberührt in einer kleinen Truhe fanden. Zusammen trugen sie die Leichen zu ihrem Grab und legten sie sanft in die Erde. Erst jetzt flossen Natans Tränen. Er barg den Kopf an der mächtigen Schulter seines Bruders und weinte, bis er nicht mehr konnte.
»Und jetzt?« fragte Amram schließlich. »Was jetzt?«
»Für mich gibt es keine Frage«, antwortete Natan. »Mein Platz ist hier, meine Aufgabe ist es, unser Heim wieder aufzubauen und alles neu zu pflanzen. Von der Apotheke ist nichts mehr übrig. Alle Tiegel, Töpfe und Flaschen sind zerbrochen, als die Horden durch das Haus trampelten. Wichtiger noch, ich muß Vaters wissenschaftliche Studien dort fortsetzen, wo er aufgehört hat, vielmehr versuchen, sie nachzuvollziehen, den Weg noch einmal gehen, den er so mühsam zurückgelegt hat.«
»Wieso noch einmal gehen?«
»Weil, mein lieber Bruder, seine sorgfältigen Aufzeichnungen zusammen mit unserem Haus in Córdoba in Flammen aufgegangen sind, wo er sie aufbewahrt hat – ein kleines Unglück unter unseren augenblicklichen Lebensumständen, ein ungeheurer Verlust, wenn man es aus einer weiteren Perspektive betrachtet. Und du?« fragte er seinen Bruder mit ernster Stimme.
»Ich weiß es noch nicht. Ich weiß nicht. Das einzige, was ich will, ist Macht, Macht, die ich ausüben will, um all die zu schützen, die mir lieb und teuer sind. Wo immer Macht ist, ich werde sie suchen und mir meinen Anteil daran sichern.«
»Aber wo liegt die Macht? Gestern bei den Slawen, die Córdoba im Namen des Kalifen regierten, heute bei den Berbern, morgen bei den alteingesessenen arabischen und muslimischen Andalusiern von Sevilla. Die dort aufstrebende Dynastie der Abbaditen wird nicht lange untätig dasitzen und zusehen, wie sich die Berber die Überreste des Kalifats einverleiben.«
»Das ist gerade mein Dilemma.«
Es war ein Dilemma, das zu lösen Amram keine Gelegenheit bekommen sollte. Am nächsten Morgen, als die beiden Brüder ausritten, um in der Umgegend nach Essen zu suchen, überholte sie auf dem Weg der Berberführer, dessen Wunden Natan behandelt hatte.
»So treffen wir uns also wieder, junger Mann. Und wer ist das?« fragte er mißtrauisch und wies mit einer knappen Kopfbewegung auf Amram.
»Mein Bruder«, erwiderte Natan und konnte seines Schreckens kaum Herr werden. Der Berber kniff drohend die Augen zusammen, eine Hand am Dolch, während er nach einer Familienähnlichkeit suchte, die Natans Worte bestätigen könnte. Sie hatten weniger ihre Gesichtszüge gemein als ihre unverwechselbare noble Haltung, das überzeugte den Berber schließlich. »Ist er ein ebenso geschickter Arzt wie Ihr?«
»Nein«, antwortete Amram an Natans Stelle. »Nur ein bescheidener Handelsmann.«
»Und doch habt Ihr eine geschickte Zunge.«
»Wie mein Bruder habe ich an den Akademien von Córdoba die beste Erziehung genossen.«
»Das ist offensichtlich. Und da Ihr der Bruder des Mannes seid, der mir das Leben gerettet hat, wäre es unehrenhaft, Euch ein Leid anzutun. Allah erinnert mich daran, Euch mit mir nach Granada zu nehmen, wo der Anführer meines Sinhaja-Stammes herrscht. Ein Jude von Eurer Bildung und ohne ehrgeizige Landgier könnte für uns von unschätzbarem Wert sein. Kommt, laßt uns zusammen fortreiten.«