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Abd ar-Rahman wirkte erheblich jünger als seine fünfzig Lenze, als er am nächsten Morgen ohne Begleitung in das abgeschiedene Gemach schritt, in das er Da'ud ben Ya‘kub ibn Yatom zu führen befohlen hatte. Er schritt kraftvoll und energiegeladen aus, seine Bewegungen waren rasch, sogar ein wenig abrupt, und es umgab ihn eine Aura der Macht und Autorität, die bedingungslosen Gehorsam erzwang. Sein Hochgefühl des vergangenen Abends war noch durch die raffinierte Sinnlichkeit der wunderschönen Zahra jenseits aller Erwartungen gekrönt worden. Sie hatte seiner Männlichkeit eine jugendliche Kraft geschenkt, die er wiederzuerlangen sich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen erhofft hatte. So war er nun ein Herrscher auf dem Gipfel seiner Herrlichkeit, als er den schlanken jungen Mann musterte, der sich vor ihm zu Boden geworfen hatte.
Die Ähnlichkeit mit dem Vater war erstaunlich: die gleichen stillen, olivenförmigen Augen und fein geschwungenen Brauen, die gleichen schmalen Wangen, das gleiche feste Kinn, die leicht vorragende Unterlippe, wie man sie bei den meisten entschlossenen Menschen findet. Wie sein Vater war auch Da'ud mit schlichter Eleganz gekleidet, und seine Haltung spiegelte die gleiche würdevolle Demut wider. Doch schon nach dem ersten Austausch höflicher Floskeln spürte Abd ar-Rahman hinter Da'uds bescheidener Haltung auch ein durchaus gefestigtes Selbstvertrauen, das sich aus seinen großen intellektuellen Fähigkeiten nährte, und einen brennenden Ehrgeiz, der längst nicht gestillt war. Warum auch nicht? Er war der Sohn eines der reichsten Seidenhändler von Córdoba, hatte die beste Erziehung genossen, die im ganzen Westen zu haben war, ein Schlüssel, der ihm viele Türen öffnen würde – wenn er erst die Fertigkeit erworben hatte, ihn im Schloß umzudrehen. Mit der Zeit würde er das sicherlich lernen, doch diese Zeit war jetzt noch nicht gekommen. Im Augenblick paßten Da'uds jugendlicher Ehrgeiz, sein ungeheures Wissen und sein Mangel an Erfahrung mit dem Leben bei Hof hervorragend in die Pläne des Kalifen.
»Nun, junger Mann«, begann Abd ar-Rahman liebenswert, als Da'ud wieder aufrecht vor ihm stand. »Euer Vater teilte mir mit, daß Ihr gründliches Wissen in der griechischen und lateinischen Sprache erworben habt?«
»So gründlich, wie es mir meine Lehrer vermitteln konnten und wie es meine geringen Fähigkeiten zuließen«, erwiderte Da'ud mit falscher Bescheidenheit, die Abd ar-Rahman sofort durchschaute.
»Persisch?«
»Angemessene Kenntnisse.«
»Und Hebräisch und Aramäisch natürlich.«
Da'ud nickte zustimmend.
»Und Ihr müßt auch gründlich vertraut sein mit den Schriften unserer großen arabischen Heilkundigen Hunayn ibn Ishaq, Ali ibn Rabban al-Tabari und Muhammad ibn Zakariyya al-Razi?«
»Ich kenne sie.«
»Hervorragend.« In herzlichem, vertraulichem Ton fuhr der Kalif fort: »Ich suche schon lange einen Gelehrten Eurer Art, der in der Lage wäre, einen Vergleich zwischen den alten griechischen Schriften des Hippokrates und des Galen, den Vätern der antiken Medizin, und den verschiedenen arabischen Übersetzungen anzustellen, die im Laufe der Jahre angefertigt wurden.«
»Das ist ein außerordentlich glücklicher Zufall, denn ich habe oft in Erwägung gezogen, mich einer solchen Studie zu widmen. Viele Geheimnisse sind uns im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen, und es ist mein Ehrgeiz, sie wiederzuentdecken, auf daß die Menschheit Nutzen ziehe aus diesem großen Schatz des Wissens.«
»Soviel hat mir Euer Vater mitgeteilt, und ich denke, daß dieses Euer Ziel höchstes Lob und äußerste Unterstützung verdient, um so mehr, als es sich so sehr mit dem meinem deckt. Ich interessiere mich besonders für die beiden Zutaten des Großen Theriak, die uns heute noch ein Geheimnis sind. Deswegen bin ich geneigt, Euch eine großzügige Summe zur Verfügung zu stellen, unter der Bedingung, daß Ihr Euch ausschließlich der Suche nach diesen Ingredienzen verschreibt. Wenn Ihr diese Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erfüllt, liegt eine glänzende Zukunft vor Euch.«
Da'ud errötete vor Stolz und Vergnügen darüber, eine so unerwartete Ehre zu erfahren. Während seiner langen Studienjahre hatte er oft darüber nachgedacht, wie er das Vertrauen des Kalifen gewinnen könnte, aber nicht einmal in seinen kühnsten Träumen hätte er zu hoffen gewagt, daß er sich die Gunst des Hofes erwerben würde, ehe er sich einen soliden Ruf als Gelehrter und Heilkundiger geschaffen hatte. Niemals hätte er sich vorzustellen gewagt, daß ihm diese Ehre so bald schon und scheinbar mühelos zuteil würde. Sein Hochgefühl wurde durch die Herausforderung an seine Gelehrsamkeit in schwindelerregende Höhen gesteigert, und er war sich seiner Fähigkeit, die Anforderungen des Kalifen zu erfüllen, sicher – so sicher, daß er keinen Gedanken auf die Möglichkeit – oder die Konsequenzen – eines Versagens verschwendete. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, nahm er Abd ar-Rahmans Angebot an.
»Ich bin zutiefst und aufrichtig dankbar für die ungeheure Ehre, die Ihr mir zuteil werden laßt, o Herrscher der Gläubigen. Ich werde mein Möglichstes tun, um mich des mir erwiesenen großen Vertrauens würdig zu erweisen.«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, erwiderte Abd ar-Rahman, in dessen Stimme sich jetzt eine stählerne Härte geschlichen hatte. »Alle Menschen Eures Volkes, die wir bisher in unsere Dienste nahmen, haben sich als fähige, ehrliche und vor allem treue Diener des Glanzvollen Hauses der Omaijaden erwiesen. In Eurem Falle ist das besonders wichtig, da ich von Euch verlangen muß, daß Eure Arbeit ein eifersüchtig gehütetes Geheimnis bleibt, das nur Euch und Eurem Vater bekannt ist. Ihr habt jederzeit freien Zugang zu unserer Bibliothek, aber niemand darf den Gegenstand Eurer Forschung wissen. Ich habe Euch für diese Aufgabe nicht nur wegen Eurer erwiesenen Gelehrsamkeit und wegen Eures besonderen Interesses an diesem Thema ausgewählt, sondern auch, weil Ihr, der Sohn des erhabensten Anführers der Juden von Córdoba, sicherlich gelernt habt, die Toleranz zu schätzen, die ich Eurem Volke erweise, dessen Sicherheit und Wohlbefinden einzig und allein von meinem Wohlwollen abhängt. Ich weiß also, daß ich mich darauf verlassen kann, daß Ihr Eure Arbeit vor neugierigen Augen verborgen haltet und mir die erwünschten Ergebnisse binnen kürzester Zeit bringen werdet.«
Da'ud war keineswegs verstört von der Andeutung des Kalifen, daß alle Juden von Córdoba leiden müßten, falls er sein Vertrauen mißbrauchte. Daran waren sie im muslimischen Spanien gewöhnt, und die Mitglieder seiner Familie – und alle Juden – hatten damit zu leben gelernt, denn nirgendwo, weder in den christlichen Königreichen noch im Rest der muslimischen Welt, lebte man als Jude in größerer Sicherheit als hier in al-Andalus unter der relativ aufgeklärten Herrschaft der Omaijaden.
Abd ar-Rahman begab sich nun mit lässigem Schritt zum Fenster und winkte Da'ud zu sich, forderte ihn mit einer Handbewegung auf, durch das unterste Sechseck des netzfeinen Marmorfensters zu blicken. Unten lief eine Abordnung der Palastwache vorüber. Auf deren Speeren aufgespießt steckten Menschenköpfe, und das frische Blut, das noch heraustroff, hinterließ im ockerfarbenen Staub rostrote Spuren. »So verfährt Kalif Abd ar-Rahman al-Nasir, Herrscher der Gläubigen, Verteidiger der Religion Gottes, mit Verrätern seines Reiches!« schrien die Wachmänner, während sie sich daran machten, den Bürgern von Córdoba diesen schrecklichen Anblick ringsum zu bieten. Da'ud merkte, daß die Augen des Kalifen auf ihn geheftet waren, aber er zuckte nicht. »Erkennt Ihr die Gesichter?« fragte ihn Abd ar-Rahman mit leiser Stimme. Aber er wartete die Antwort nicht ab. »Dies sind die Köpfe dreier meiner Leibärzte bei Hof, dreier Narren, die …« Er unterbrach sich abrupt. Er wußte zu wenig über diesen jungen Mann, als daß er es wagen könnte, ihm den Zwischenfall von Simancas zu enthüllen. »… die meine Befehle mißachteten.«
Da'ud spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, wie seine Hände eiskalt und vor Angstschweiß klamm wurden. Wie naiv und gutgläubig er doch gewesen war, so geblendet von der Ehre, die ihm zuteil wurde, und von den Zukunftsaussichten, die sich ihm eröffneten, daß er gar nicht überlegt hatte, was noch hinter dem verlockenden Angebot des Kalifen steckte. Das hatte er nun von seinem übersteigerten Selbstbewußtsein und seinem überzogenen Ehrgeiz, machte er sich bittere Vorwürfe, ganz zu schweigen von seinem Mangel an Erfahrung mit der krassen Wirklichkeit der nackten Macht. Dieser brutale Absturz in eine grausame und fremde Welt hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Er hatte immer nur das beschauliche Leben des Lernens gekannt, war von Menschen umgeben und geschützt gewesen, die nach nichts anderem trachteten, als ihm bei seinen Unternehmungen zu helfen und Ermutigung zu schenken. Ihm war Abd ar-Rahmans Vorschlag nur als eine reibungslose und ganz natürliche Fortsetzung dieses Weges erschienen, als das Angebot eines geschützten, privilegierten Bereichs fern von allen Machtspielen, vom schmutzigen Wechselspiel der Interessen, von Verdacht, Intrigen und niedrigem Verrat. Eine gefährliche Illusion, das wurde ihm nun klar. Bei Hof hatte alles seinen Preis. Wie leicht hatte er sich täuschen lassen! Und doch, versuchte er sich zu rechtfertigen, hätte auch ein Mann mit weit feinerem Gespür wohl das Ausmaß der Gefahr nicht erkannt, die hinter der Gunst des Kalifen lauerte. Welche Art des Ungehorsams hatte den Heilkundigen eine solch grausame Strafe beschert? Und was lag hinter Abd ar-Rahmans übertriebenem Interesse am Großen Theriak? Die Diskretion, die sowohl er als auch sein Vater hatten geloben müssen, ließ darauf schließen, daß ihm ein weit mächtigeres Motiv als nur wissenschaftliche Neugier oder Ehrgeiz zugrunde lag. Es mußte sich um ein lebenswichtiges Interesse handeln. Warum war dann die Wahl auf einen unerprobten und unbekannten Gelehrten wie ihn gefallen? Doch all diese Überlegungen verblaßten vor der einen, fatalen Frage: Was hieß ›binnen kürzester Zeit‹?
Alle Sinne Da'uds waren nun wach und höchst konzentriert. Ganz streng trennte er seine Gedanken von seinen Gefühlen. Unter keinen Umständen durfte er zulassen, daß die Furcht sein klares Denken trübte. Hatte er einen Monat, sechs Monate, ein Jahr Zeit? Das Risiko war so beängstigend, daß er es für weise hielt, besser nicht danach zu fragen und so die Festlegung eines unverrückbaren Termins herauszufordern. In der Zwischenzeit würde vielleicht der Zorn des Kalifen auf seine Leibärzte schwinden, wichtigere Dinge würden seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und wenn er, Da'ud, bei der Erfüllung seiner Aufgaben auf Schwierigkeiten stieß, würde er all seine Gewitztheit aufbringen und Zeit schinden … Er hatte keine Wahl. Ein treuer Untertan schlägt seinem Herrscher keine Bitte aus. Er konnte sein Wort nicht zurücknehmen, ohne die glänzende Zukunft zu gefährden, die zum Greifen nah vor ihm lag. Er mußte das Risiko eingehen, wie unangemessen hoch es auch immer schien …
»Morgen werdet Ihr beim Verwalter des alten Palastes von Córdoba vorstellig, der die Zahlung Eurer Vergütung in die Wege leiten wird. Er wird Euch auch freien Zugang zur Palastbibliothek verschaffen, die zum Nutzen unserer erhabenen Gelehrten in der Stadt verbleiben soll.«
Eine beinahe unmerkliche Bewegung des mit Juwelen geschmückten Zeigefingers des Kalifen gab Da'ud zu verstehen, daß er nun entlassen war. Mit bemühter Ruhe verließ er den Raum und ging mit festen Schritten unter den wachsamen Augen der schwarzen Eunuchen, die ihn begleiteten, durch die vielen riesigen Innenhöfe und eleganten Torbögen, die aus dem Palastbezirk hinausführten. Erst als er wieder innerhalb der schützenden Stadtmauern Cordobas war, wagte er, die selbstbewußte Miene, die er aufgesetzt hatte, ein wenig zu lockern und die widerstreitenden Gefühle an die Oberfläche zu lassen, die in ihm tobten. Der Kopf schwirrte ihm beim Gedanken an die Zukunft, die vor ihm lag, wenn er Erfolg hatte, der Magen drehte sich ihm um vor Furcht, wenn er an die Folgen eines Scheiterns dachte. Doch allmählich drang auch der vertraute Anblick der lebendigen Stadt zu seinem Bewußtsein vor, ihre Geräusche und Gerüche, die so sehr zu ihm gehörten wie die zarte Oberfläche antiker Manuskripte. Diese Eindrücke ließen seine innere Unruhe abklingen und brachten ihn in die tröstliche Wirklichkeit seines früheren Lebens zurück. Doch gerade als er sich seinem Zuhause näherte, trug die Morgenbrise wieder die kehligen Schreie der Palastwachen an sein Ohr, die ihre grausigen Schreckensobjekte ringsum auf dem Marktplatz zur Schau stellten, und noch einmal überliefen ihn die Schauder der Furcht.
Als er in die Sackgasse einbog, die zum Haus der Ibn Yatoms führte, sah er auf der Schwelle die schmale Gestalt seines Vaters, der ängstlich auf seine Rückkehr harrte. Die beiden umarmten einander in schweigendem Mitgefühl und sprachlosem Verständnis.
»Kein Wort von alledem zu deiner Mutter«, warnte Ya'kub seinen Sohn, wobei aller Stolz, den er über die unerwartete Gunst des Hofes empfunden hatte, vor dem Wissen über die Bedrohung, die über seinem Sohn schwebte, geschwunden war. »Ich habe ihr nicht gesagt, wer die Opfer des Kalifen diesmal waren, um ihr unnötige Sorgen zu ersparen. Warum sollten wir sie beunruhigen, da doch dein Erfolg nicht in Zweifel steht? Spiele ihr nur eitel Stolz und Freude vor. Das soll zugleich deine erste Lektion in der Kunst der Täuschung sein, einer Kunst, die du dir aneignen mußt, wenn du in den Korridoren der Macht überleben und gedeihen willst.«