32
In der Dämmerung eines frühen Winterabends erschien Stella, Amrams frühere Kinderschwester, an der Tür des Landhauses. Sie war in viele wollene Schichten gehüllt und zitterte vor Fieber. Ihre Hautfarbe war von Natur aus dunkel, und sie war immer schon erschreckend dünn gewesen. Die großen braunen Augen, die ihr schmales, knochiges Gesicht beherrschten, wirkten nun um so eindringlicher. Ihre Wangen waren von der Krankheit eingefallen, und sie bot ein Bild des Jammers.
Schnell brachte Dalitha sie ins Haus, und trotz Hais eiserner Regel, daß alle Patienten warten mußten, bis sie an der Reihe waren, bestand sie darauf, daß er Stella sofort untersuchte. Mit der für ihn typischen Zartheit wickelte er die junge Frau aus den vielen Kleidungsstücken, in die sie sich gehüllt hatte, und half ihr auf den Diwan, auf dem er seine Patienten zu untersuchen pflegte. Schon seine Berührung, als er ihr die Hand auf die fieberheiße Stirn legte, schien sie zu beruhigen. Dann hustete sie, einen harten, trockenen Husten, und ihre Augen blickten ihn flehend an, fanden Trost in seiner Freundlichkeit. Als sie erneut hustete, nahm er ihr die Hand von der Stirn und übte einen leichten Druck auf ihre flache, magere Brust aus, die sich unter seinen empfindsamen Händen krampfartig hob und senkte. Plötzlich horchte er auf. Nicht wegen des Hustens oder des hohen Fiebers. Vielmehr hatte er mit den Fingerspitzen einen Knoten ertastet, einen harten Knoten, der ihr offensichtlich keine Schmerzen bereitete. Er deckte sie wieder zu, stand auf und wandte ihr den Rücken zu, um seine Bestürzung zu verbergen, bereitete die Instrumente vor, die er brauchte, um sie zur Ader zu lassen. Wegen ihrer allgemein zarten Konstitution entnahm er aus der Knievene nur die Mindestmenge Blut, die notwendig war, um sie von dem Überschuß an heißen, trockenen Körpersäften zu befreien, die ihre Adern verstopften.
»Das hat beinahe überhaupt nicht weh getan«, lächelte Stella schwach, erleichtert und unendlich dankbar. Dann verschrieb ihr Hai ein Mittel, das den Husten lockern würde – zuerst Honigwasser, und wenn das nicht half, ein Gemisch aus Honig und Butter.
»Ich möchte Euch auch empfehlen, möglichst nur Speisen zu Euch zu nehmen, die kühl und feucht sind, zum Beispiel Spinat, Melonen, Gurken, Salat, sowie Aprikosen, Pfirsiche, wenn Ihr sie in dieser Jahreszeit noch bekommen könnt. Macht Euch keine Sorgen. Es geht Euch bestimmt schon bald besser. Zieht Euch warm an, und ich schicke einen meiner Burschen mit Euch, damit Ihr sicher nach Hause kommt.«
Nachdem sie gegangen war, hielt er ein wenig inne, ehe er den nächsten Patienten hereinbat. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Stella hatte sich nur eine schwere Wintererkältung zugezogen. Die würde schon bald wieder vergehen. Aber was dann? Der harte Knoten in ihrer Brust, den sie offensichtlich noch nicht bemerkt hatte, mußte herausgeschnitten werden, sobald das Fieber nachließ. Hoffentlich hatte die Krankheit noch keine anderen Körperteile in Mitleidenschaft gezogen – doch das konnte er nicht sagen. Er wußte auch nicht, ob Abu'l Kasim es für nötig befinden würde, die ganze Brust zu entfernen. Die arme Frau, sie war ohnehin nicht mit übergroßen Reizen gesegnet, und nun sollte ihr auch noch ein Attribut ihrer Weiblichkeit genommen werden … Aber sie war jung, hatte ihr Leben noch vor sich. Ein entstellter Körper war besser als ein Körper mit einer tödlichen Krankheit. Und wer konnte es sagen, vielleicht würde ein aufmerksamer Mann die Schönheit ihres eindringlichen Blicks wahrnehmen, die Wärme hinter ihrem wenig attraktiven Äußeren spüren? Er mußte alles versuchen, um sie zu heilen. Aber konnte er das? Vielmehr, konnte Ralambos Extrakt sie heilen, den er nun in großen Mengen zur Verfügung hatte? Wie seltsam, daß die Frau, die Dalitha geholfen hatte, sich um ihren kleinen Sohn zu kümmern, die erste Patientin sein würde, an der dieses Mittel erprobt würde. Es schmerzte ihn, daß es so war, aber da das Schicksal entschieden hatte, sie mit dieser Krankheit zu schlagen, hatte er nun zumindest die Möglichkeit, einen Versuch der Heilung zu unternehmen …
Stella fühlte sich in Hais geschickten Händen so sicher, daß sie ohne Zögern seinem Vorschlag zustimmte, den Knoten in ihrer Brust unverzüglich zu entfernen. Sie fragte nicht nach dem Warum und Weshalb. Wenn Hai es sagte, war ihr das genug. Und da sie ihn nicht fragte, sah er keinen Grund, ihr zu erklären, daß das Risiko für ihre Gesundheit – ja, für ihr Leben – auch nach dem Schnitt noch bestehen würde, denn er konnte nicht sagen, wie tief die bösartige Krankheit schon in ihren Körper eingedrungen war. Warum sollte er jedoch einen so grauenerregenden Schatten auf ihr Leben werfen, ehe er alles in seiner Möglichkeit Stehende getan hatte, um sie zu heilen?
Vor der Operation ließ Hai sie selbst zur Ader, um ihren Körper von der schwarzen Galle zu befreien, und er bereitete auch den betäubenden Trank aus Opium, Baldrian und Honig in einem solchen Mischungsverhältnis zu, daß sie unter Abu'l Kasims Messer keine Schmerzen verspüren, aber auch keine Nebenwirkungen erleiden würde. Als der Chirurg in das Zimmer eintrat, das für die Operation vorbereitet war – das man auf Hais Geheiß gründlich gereinigt hatte –, lag seine Patientin schon betäubt und reglos auf dem Marmortisch, auf dem er seine Operationen vornahm.
Mit geschickten, sicheren Bewegungen schnitt Abu'l Kasim den gesamten Knoten mit dem umgebenden Gewebe heraus. Dann ließ er das Blut eine Zeitlang frei strömen und dämmte anschließend den Fluß ein, indem er die umgebenden Blutgefäße abdrückte. Während er begann, die Wunde zu versorgen, drängte ihn Hai, all seine Kunstfertigkeit zu benutzen, damit die Narbe, die dort bleiben sollte, wo sonst die sanfteste, weichste Rundung einer Frau war, so glatt wurde, wie es seine geschickten Hände nur erreichen konnten. Wenn sie bekleidet war, würde niemand bemerken, daß die Rundung fehlte, denn Stellas Brüste waren von Natur aus recht flach gewesen, und man konnte sie unter der Bekleidung kaum ausmachen. Aber was war in ihrer Hochzeitsnacht? fragte er sich, während er zusah, wie der Chirurg die klaffende Wunde kauterisierte und verband. Nach der Operation beschäftigte die gleiche, unausgesprochene Frage die Gedanken der beiden Ärzte: Hatte die bösartige Geschwulst auch andere Körperteile befallen, oder hatten sie sie entfernt, solange sie noch auf einen Ort begrenzt war?
Stella war noch immer benebelt von dem Betäubungsmittel und erschien Hai erstaunlich leicht, als er sie hochhob und zu einer bereitstehenden Trage brachte, auf der sie zu seinem kleinen Landhaus transportiert wurde. Er selbst ritt neben ihr her, um ständig über sie wachen zu können. Als sie zu Hause ankamen, brachte Dalitha die junge Frau in einem sauberen, frischen Zimmer unter. Obwohl seine Frau selbst neben der Patientin wachte, die die ganze Nacht unruhig schlief, kam auch Hai immer wieder herein, um nach ihr zu sehen und ihr wohl bemessene Mengen Opium und Baldrian zu geben, die ihr über den schlimmsten Schmerz hinweghelfen sollten. Er verband die Wunde im Lauf der nächsten Tage regelmäßig neu, versorgte sie mit frischen Galläpfeln, den Schalen von Granatäpfeln, Lakritzrinden und natürlich frischem Aloesaft, dessen heilende Wirkung bekannt war. Er achtete peinlich auf erste Anzeichen von Wundbrand, die sich als Folge der Operation zeigen könnten, doch Abu'l Kasim hatte so sorgfältig gearbeitet, daß diese Angst sich als unbegründet herausstellte.
Hais Besuche waren die Glanzpunkte in Stellas ereignislosen Tagen. Die Fürsorge, die sie aus seinen tiefblauen Augen las, die zarte Berührung seiner Hände auf ihrem Körper waren für sie das wirksamste Heilmittel, das er verschreiben konnte. Hätte sie ihn nicht mit solcher Ehrfurcht betrachtet, so hätte sie seine Hand auch auf die andere, die gesunde Brust pressen mögen, um auch dort die süße und erregende Berührung seiner Finger zu spüren. Von seiner ständigen aufmunternden Gegenwart gestärkt, konnte sie schon bald eine Weile aufsitzen und Nahrung zu sich nehmen.
Hai verschwendete keine Zeit und begann ihr sofort Ralambos Extrakt zu verabreichen, gab ihr danach gleich einen süßen Honigtrunk, um die Bitterkeit herunterzuspülen, die sie schaudern machte. Er wartete, angespannt und geduldig, und er mußte nicht lange warten. Schnell kehrten Stellas Kräfte zurück, genau wie die seines Vaters. Ralambo hatte ihn nicht betrogen. So erleichtert er auch war, diesen Verdacht nicht mehr hegen zu müssen, so war er sich zum anderen darüber im klaren, wie gefährdet seine Patientin immer noch war. Nur wenn sie den Extrakt ständig einnahm und dann eine beträchtliche Zeit gesund blieb, konnte er vermuten, daß diese Behandlung wirksam war. Aber nur vermuten, denn er würde niemals feststellen können, ob die Operation allein oder der Extrakt allein oder eine Kombination von beidem die bösartige Geschwulst eingedämmt hatte. Er würde unendliche Geduld brauchen und müßte viele ähnliche Fälle sorgfältig beobachten, um eine vorsichtige Schlußfolgerung ziehen zu können.
Als Dalitha etwa drei Wochen nach der Operation mit einem vollbeladenen Frühstückstablett und einem fröhlichen Lächeln in Stellas Zimmer trat, fand sie die Patienten auf und angekleidet. Unter unzähligen Dankesbekundungen gab Stella ihr zu verstehen, sie könne nun die Gastfreundschaft der Ibn Yatoms nicht mehr länger mißbrauchen. Sie wolle nach Hause gehen und in Kürze wieder ihre Arbeit als Kinderschwester bei anderen wohlhabenden Familien in Córdoba aufnehmen, eine Arbeit, die sie sehr liebte.
»Bist du ganz sicher, daß du gesund genug bist, uns schon zu verlassen?«
»Ich habe mich nie besser gefühlt.«
»Das freut mich sehr. Ich spreche nur kurz mit Hai. Er hat wahrscheinlich noch ein Medikament für dich.«
»Was?« rief Hai aus und fuhr sich erstaunt mit den Händen durch das Haar, als sie ihm Bericht erstattete. »Stella geht? Das ist unmöglich. Sie kann nicht gehen. Ich brauche sie hier. Ich muß sicher sein, daß sie den Extrakt genauso einnimmt, wie ich es ihr verschrieben habe, damit ich die Wirkung beobachten und die Dosis verändern kann …«
»Aber Hai, Liebster«, unterbrach ihn Dalitha, »Stella ist ein Mensch, kein lebloses Studienobjekt. Sie hat ihr eigenes Leben, eigene Bedürfnisse und Wünsche. Da du ihr nicht sagen kannst, wie lange sie noch zu leben hat, hast du auch nicht das Recht, ihr das Vergnügen vorzuenthalten, das sie in ihrem schlichten Alltagsleben findet. Solange sie sich dazu in der Lage fühlt, muß es ihr gestattet sein, ein normales Leben wie jeder andere Mensch zu führen.«
»Ich weiß, aber trotzdem …«
Schließlich einigte man sich. Stella würde genug Extrakt für eine ganze Woche nach Hause mitbekommen sowie strikte Anweisungen, wie sie ihn einzunehmen hatte. Wenn er aufgebraucht war, würde sie bei Hai mehr abholen. So konnte er überprüfen, wieviel sie von dem Pulver einnahm, und sie unter Beobachtung halten. Als Woche um Woche verging und Stella regelmäßig stark und gesund bei ihm erschien, um sich ihren Extrakt abzuholen, war Hai allmählich zufrieden. Jeder Tag, jede Woche voller Leben und Gesundheit war ein Sieg im Kampf gegen den Tod.
Hai berichtete seinen Kollegen im Hospital kaum etwas von seinem ersten Experiment. Nur Abu'l Kasim erkundigte sich ab und zu nach dem Zustand der Patientin und lächelte wie Hai mit vorsichtigem Optimismus. An dem Tag, als ihm Stella schüchtern mitteilte, sie werde bald heiraten, leuchtete Hais Gesicht vor Freude auf. Ihr zukünftiger Ehemann sei Sklave in dem Haushalt gewesen, in dem sie zuletzt angestellt war, erzählte sie ihm. Inzwischen war er frei und hatte vor, sich auf einem kleinen Stück Land niederzulassen, das ihm sein früherer Herr in Anerkennung seiner treuen Dienste überschrieben hatte. Nein, meinte sie und beantwortete die unausgesprochene Frage, die sie in Hais Augen las, ihr körperlicher Mangel machte ihm nichts aus. Er liebte sie, liebte ihre Wärme und ihr Verständnis für menschliche Schwächen. Ihr Körper sei nur eine Hülle für diese geliebte Seele. Was tat es da zur Sache, wenn er ein wenig beschädigt war?
Hai und Dalitha waren Ehrengäste bei der bescheidenen Hochzeitsfeier. Von allen Anwesenden war nur Hai bewußt, vor welchem Schicksal er die Braut bewahrt hatte. Es war einer der schönsten Augenblicke seines Lebens. Was konnte mehr Befriedigung verschaffen als die Gewißheit, ein junges Lebewesen aus den Klauen des Todes gerissen zu haben, und das große Privileg, dieses Leben aufblühen zu sehen?
Wenige Monate später kam Abu'l Kasim im Hospital zu Hai geeilt, als der gerade einen ausgemergelten alten Mann untersuchte, den man soeben eingeliefert hatte und dessen Magen so grotesk aufgedunsen war, daß er unter dem Druck kaum noch atmen konnte. Dicke blaue Adern traten unter der Haut des wie eine Trommel straff gespannten Bauches hervor, und es schien, als müsse der Leib des Ärmsten jeden Augenblick zerbersten. Den Studenten, die Hai auf seinen Rundgängen begleiteten und begierig seinen Worten lauschten, erklärte Hai:
»Dies ist ein klassischer Fall von Aszites oder Bauchwassersucht, wenn sich wegen einer Geschwulst in den Gedärmen zwischen diesen und dem Bauchfell Wasser ansammelt. Unser Bestreben muß sein, das auffälligste Symptom zuerst zu behandeln, nämlich die Wassersucht. Dieser Fall ist zu akut, als daß wir dem Patienten ein Diuretikum verabreichen könnten. Wir haben keine andere Wahl, als das Bauchfell zu punktieren, um die Flüssigkeit abfließen zu lassen und den Druck auf den gesamten Organismus des Patienten zu verringern. Geht Abu Wafid holen«, befahl er einem der Studenten. »Er besitzt großes Geschick in diesem Verfahren. Beobachtet ihn genau bei der Arbeit. Ihr könnt viel von ihm lernen.«
Abu'l Kasim, der abgewartet hatte, bis Hai mit seinen Erläuterungen zu Ende war, trat nun hinzu und nahm ihn zur Seite. »Ich bin gekommen, um mit Euch einen anderen Fall zu besprechen, aber als ich Eure Diagnose hörte, habe ich mich unweigerlich auch für diesen Fall interessiert. Würdet Ihr eine Behandlung mit dem Aloe-Extrakt in Erwägung ziehen?«
»Ich denke nicht. Die abführende Wirkung auf die Gedärme, die bereits von Krankheit befallen sind, würde den Patienten nur noch mehr schwächen.«
»Aber er könnte doch trotzdem etwas von den lebensspendenden Eigenschaften der Pflanze in sich aufnehmen? Wenn er ein wenig kräftiger würde, wäre es vielleicht möglich, die Geschwulst zu entfernen.«
»Ich bezweifle, daß die Aloe ihn dafür genügend stärken könnte.«
»Es ist einen Versuch wert. Es ist unsere einzige Hoffnung.«
»Meiner Meinung nach eine eitle Hoffnung.«
Und tatsächlich, kaum hatte sich der alte Mann von der Punktierung seines Unterleibs ein wenig erholt, da überkam ihn ein andauernder Durchfall, in dem sich auch mehr und mehr Blut zeigte. Wie immer hatte sich Hais Einschätzung bewahrheitet. Die ernsten Gesichter der beiden Männer, die auf die jammervolle Gestalt herabschauten, war eine stumme Bestätigung seines bevorstehenden, unvermeidlichen Todes.
Abu'l Kasim machte sich Sorgen um eine seiner Basen, eine Witwe, die seiner Frau beiläufig erzählt hatte, sie hätte einen Knoten in ihrer Brust ertastet.
»Ich vermute, der Fall liegt ähnlich wie bei Stella, und ich möchte gern, daß Ihr sie genauso behandelt. Würdet Ihr Euch bereit erklären, sie zu untersuchen?«
»Es überrascht mich, daß Ihr meint, fragen zu müssen«, erwiderte Hai. »Aber wie wollt Ihr sie dazu überreden, sich von mir und nicht von Euch, ihrem Verwandten, behandeln zu lassen?«
»Das überlasse ich meiner Frau.«
Und so geschah es. Wie Stella legte auch Abu'l Kasims Base ihr Schicksal vertrauensvoll in Hais erfahrene Hände und stimmte zu, daß der Chirurg den empfohlenen Schnitt durchführte. Während ihrer Genesung besuchte Hai sie jeden Tag, und allein schon seine Gegenwart, seine tiefe Menschlichkeit beruhigten, ermutigten und ermunterten sie. Wie Stella nahm auch sie den bitteren Extrakt genau nach Hais Vorschriften ein. Und zumindest für einige Zeit war auch sie vor einem Schicksal errettet, das sie nicht einmal ahnte.
Als aus Monaten Jahre wurden, wagten sich sowohl Hai als auch Abu'l Kasim zu der Annahme vor, daß das andauernde Wohlbefinden der beiden Frauen, die sie behandelt hatten, zumindest ein vorläufiger Beweis für die Wirksamkeit des Extraktes in diesen speziellen Fällen sein könnte. Aber sie vermochten sich nicht zu erklären, worin der Grund dafür bestand. Sie konnten nur vermuten, daß sie die Geschwulste der beiden Frauen in ihrem ersten Stadium entfernt hatten und daß daher die Lebenskraft, die Ralambos Aloe ihnen einflößte, das Entstehen weiterer Geschwulste verhinderte. Aber wie lange, wenn überhaupt? Dieser Zweifel blieb.
Inzwischen hatten die Frauen von Córdoba – hochwohlgeboren oder von niedrigem Stand – viel geredet und getratscht. Hais Name war in aller Munde – seine Freundlichkeit, seine Sanftheit, sein Mitgefühl – und sein Charme. Seltsamerweise wuchs der Anteil von Frauen unter seinen Patienten beträchtlich, und viele Frauen kamen nur unter fadenscheinigen Vorwänden zu ihm. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, daß sie allein um des Vergnügens willen erschienen, seine Finger auf ihren Brüsten zu spüren – denn auch davon flüsterten die Frauen … Erst als eines Donnerstags ein Ehepaar in sein Arbeitszimmer trat, der rotgesichtige Ehemann ungehobelt, die Frau ängstlich hinter ihm, dämmerte ihm die Wahrheit.
»Die Freundinnen meiner Frau haben sie so sehr in Aufregung versetzt«, begann der Mann in unverhohlen feindseligem Ton, »daß sie nun überzeugt ist, einen harten Abszeß in der Brust zu haben. Wenn ihn irgend jemand dort gespürt haben sollte, dann doch wohl ich, ihr Ehemann, aber ich habe nichts bemerkt. Das ist alles nur eine Einbildung ihrer lüsternen Phantasie, eine Entschuldigung, damit sie Eure Hände überall an ihrem Körper spüren kann, wie all die anderen, die wegen dieser skandalösen Vergnügung zu Euch gerannt kommen. Nun, ich werde dieser schändlichen Verirrung ein Ende setzen. Untersucht meine Frau, wenn es recht ist, aber in meiner Gegenwart, um diese verworrenen Gedanken ein für allemal aus ihrem Hirn zu verbannen.«
Zitternd vor Verlegenheit und unendlicher Scham, knöpfte die Frau ihr Hemd auf, ließ kaum genug Raum, daß Hai mit der Hand hineingreifen konnte. Während er ihre langen, hängenden Brüste abtastete, schaute ihm der Ehemann über die Schulter und begutachtete jede seiner Bewegungen genau. Die Frau wandte schamhaft die Augen ab. Plötzlich erstarrte Hais Gesichtsausdruck. Seine Hand kehrte noch einmal zu einer Stelle zurück, die er bereits abgetastet hatte, und obwohl er fest zudrückte, verspürte die Frau keinen Schmerz. Damit war die Untersuchung beendet. Während die Frau ihre Kleidung richtete, wandte sich Hai ihrem Mann zu und sagte mit fester Stimme: »Eure Frau hat recht. In ihrer linken Brust ist eine Geschwulst von erheblicher Größe. Ich empfehle, daß sie unverzüglich entfernt wird.«
»Unsinn«, bemerkte der Mann verächtlich.
»Ich kann Euch versichern, daß ein Irrtum ausgeschlossen ist.«
»Das ist unmöglich. Ich hätte es gespürt.«
»Nicht unbedingt. Die Geschwulst sitzt ziemlich tief.«
»Da habt Ihr sie also ordentlich betastet, Ihr elender Lüstling? Ich glaube Euch kein Wort. Und selbst wenn Ihr recht hättet, dann hat sie ihr Leben bisher mit diesem Ding gelebt und kann auch so weiterleben.«
»Nicht ohne schwerwiegendste Folgen.«
»Ihr erwartet doch nicht ernsthaft, daß ich mich an einer Frau mit nur einer einzigen Brust erfreue?«
»Besser eine Frau mit nur einer Brust als gar keine Frau«, erwiderte Hai trocken, entrüstet über die Brutalität dieses Mannes.
»Was meint Ihr damit? ›Gar keine Frau‹?«
»In einigen Fällen können solche Geschwulste, wenn man sie nicht behandelt, katastrophale Folgen haben.«
»Wenn Allah ihr Schicksal so bestimmt hat, dann soll es so sein.«
»Im Gegenteil. Allah hat sie zu mir geführt, damit ich ihr zu helfen versuche, wie ich schon anderen in ähnlichen Fällen geholfen habe.«
»Allah würde sie nicht zu einem verwerflichen Ungläubigen führen, um sie zu retten. Komm«, befahl er und zerrte seine Frau hinter sich her, »wir müssen diesem Sündenpfuhl entfliehen.«
Wenige Monate später erfuhr Hai, daß die Frau nach schrecklichen Schmerzen am ganzen Leibe angefangen hatte, Blut zu spucken, und bald darauf an einem Fieber gestorben war.
Doch Stella und Abu'l Kasims Base, die regelmäßig den Extrakt einnahmen, waren noch am Leben und bei guter Gesundheit …
War die Krankheit bereits zu tief in den Organismus der Frau vorgedrungen gewesen, als daß er sie noch hätte retten können, oder hätte er zusammen mit dem Chirurgen auch ihr helfen können? Diese Frage ließ sich nicht aus Hais Gedanken vertreiben, sie lauerte ihm im Schlaf auf und erregte in ihm eine Unruhe, die seiner ruhigen und sanften Natur völlig fremd war. Weder Dalitha mit ihrer Milde noch der aufgeweckte kleine Amram mit seinen vorwitzigen Fragen konnten ihm mehr als nur kurze Augenblicke der Ruhe schenken.