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Die Landschaft zwischen der Stadtmauer und den nördlichen Bergen glich einem trunkenen Ameisenhaufen, als sich Hai Córdoba näherte. Kolonnen von verzweifelten Menschen, denen das Gerücht von der Seuche zu Ohren gekommen war, ehe man die Stadttore verschloß, rannten hin und her auf der Suche nach einer Unterkunft außerhalb der Stadt für die Zeit, bis die Gefahr der Ansteckung vorüber war. Zu ihnen gesellten sich noch die Menschenscharen, die täglich in die Stadt drängten, um dort ihre Geschäfte abzuwickeln: An diesem Morgen hatten sie die großen Tore verschlossen und verriegelt vorgefunden. Während Hai das Bild betrachtete, das sich ihm bot, tobten in ihm widerstreitende Gefühle. Einerseits war er erleichtert, daß man rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen ergriffen hatte, daß also die Paläste wahrscheinlich von Ansteckung verschont bleiben würden. Andererseits war er zutiefst enttäuscht, daß man ihm den Zutritt zur Stadt verwehrte und er also seinen Kollegen im Hospital nicht zur Seite stehen konnte, wenn sie die Leiden der Pestopfer zu lindern versuchten.

Er hielt sich nicht lange in seinem kleinen Landhaus auf. Nachdem er sich versichert hatte, daß Sari wohlauf war, nahm er die Menge Großen Theriak, die Dalitha bereitet hatte, füllte, einem plötzlichen Impuls folgend, ein wenig aus der Korbflasche ab und galoppierte dann zur Medina Azahira, um dort Abd al-Malik, dem ältesten Sohn des Regenten, das Gegenmittel auszuhändigen. Wie auch beim Kalifen überließ er dem Erben al-Mansurs selbst die Wahl, wem das Mittel verabreicht werden sollte. Es war früher Abend, als er endlich nach Hause zurückkehrte. Mit Dalithas Hilfe bereitete er den Theriak aus vier Zutaten, und nachdem er noch einmal nach Sari geschaut hatte, legte er sich erschöpft zu Bett und fiel augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Einige Stunden später rüttelte ihn Dalitha wach. »Ich glaube, es ist jemand an der Tür«, sagte sie.

Sofort war Hai munter und lauschte aufmerksam. Kein Zweifel: in der Stille der Nacht war deutlich ein schwaches, unregelmäßiges Klopfen zu vernehmen. Hai rannte zur Tür, und als er sie öffnete, fiel ein benommener, fiebernder alter Mann ihm wie betrunken in die Arme. Hai legte ihn auf den Diwan in seinem Arbeitszimmer, leuchtete ihm mit einer Kerze ins Gesicht und erkannte Yahya, den Diener aus dem Haus der Familie in Córdoba. Er hielt dem alten Mann eine Tasse Wasser an die zitternden Lippen und untersuchte dann seine Leisten und Achselhöhlen nach den gefürchteten Pestbeulen. Bisher waren noch keine zu sehen. Es gab noch eine Chance … Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, eilte er ins Apothekenzimmer, auf dessen weiße Wände der Mond verzerrte Schatten der runden Tiegel und langhalsigen Flaschen zeichnete. Mit ruhiger Hand maß er eine Dosis von dem Großen Theriak ab, den er aus der Flasche für al-Mansurs Sohn abgefüllt hatte, kehrte ins Arbeitszimmer zurück und flößte dem fröstelnden alten Mann das Gegenmittel zusammen mit einem Becher Wein ein.

»Versuche, den Trank bei dir zu behalten«, drängte ihn Hai sanft. »Versuche, ihn bei dir zu behalten.« Wie durch ein Wunder erbrach sich Yahya nicht. Hai wachte den Rest der Nacht neben ihm, befeuchtete ihm die trockenen, aufgesprungenen Lippen mit einem nassen Baumwolltupfer, kühlte ihm die heiße Stirn, murmelte ermutigende Worte, überzeugt, daß der Alte überleben würde. Im Morgengrauen gab er Yahya, ehe er mit dem Gegenmittel aus vier Zutaten in die Paläste ritt, noch eine Dosis vom Großen Theriak und wie zuvor Schluck für Schluck einen Becher Wein. Obwohl der Mann noch im Fieberwahn war, verschlechterte sich sein Zustand nicht. Drei Tage und Nächte wiederholte Hai diese Behandlung, ehe das Fieber allmählich nachließ. Am vierten Tag war Yahya zwar ruhig und schwach, konnte aber doch sprechen.

Auf Hais Frage, wie er das kleine Landhaus erreicht hatte, antwortete er, als er vom Markt heimgekehrt sei und Sari nicht mehr vorgefunden habe, sei er wie die anderen, die von der Seuche gehört hatten, aus der Stadt fortgegangen. Erst im Laufe des Tages hatte er gespürt, wie das Fieber einsetzte. Sicher, daß er in Hais Haus Hilfe finden würde, hatte er seine letzten Kräfte aufgeboten, um hierherzugelangen. »Gott sei gepriesen, junger Herr, Ihr habt mir das Leben gerettet«, murmelte er unter Tränen und umklammerte voller Dankbarkeit Hais Hände.

Während der drei kritischen Tage von Yahyas Erkrankung hatte Hai seine Mutter genau im Auge behalten, aber als sich keine Anzeichen eines einsetzenden Fiebers zeigten und es Yahya besser ging, war er weniger wachsam und begann Schlüsse aus dem zu ziehen, was er beobachtet hatte. Es stimmte, Yahya war immer schon für sein ungewöhnliches Durchhaltevermögen bekannt gewesen, aber daß er in seinem hohen Alter die Pest überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. Gleichermaßen wundersam war es, daß Sari, die Gerichte gegessen hatte, die ihr der Diener zubereitet hatte, sich diese Krankheit gar nicht erst zugezogen hatte. Man konnte all das natürlich dem Zufall zuschreiben. Bei jeder Epidemie gab es Überlebende. Warum sollten Sari und Yahya nicht zu ihnen gehören? Aber das glaubte Hai nicht. Zum anderen war noch nicht bewiesen, daß der Große Theriak eine wirksame Waffe gegen die Pest darstellte, denn bisher war nur Yahya anscheinend durch das Mittel geheilt worden, und bei Sari hatte es offenbar erfolgreich seine vorbeugende Wirkung gezeigt. Die Lage war ähnlich wie bei Ralambos Extrakt.

Die Seuche war von begrenztem Ausmaß. Sie klang recht schnell ab, und aus den beiden königlichen Palästen wurde kein einziger Todesfall gemeldet. Auch hier war es unmöglich festzustellen, ob die Rettung der Isolation oder der vorbeugenden Wirkung des Großen Theriak zu verdanken war. Manche schrieben ihr Überleben dem einen zu, manche dem anderen. Manche dankten Allah und beriefen sich auf das Schicksal, das ihnen bestimmt war, andere schworen auf eine Mischung aus Göttlichem und Menschlichem. Doch was sie auch glaubten, beinahe alle zollten Hai Dank, ihnen das Leben gerettet zu haben.

Von nun an wagte es im ganzen Reich, weder im einen noch im anderen Palast, vom Niedrigsten bis zum Höchsten, niemand mehr, ein Wort gegen ihn zu sagen. Dank seiner hartnäckigen Ausdauer bei der Suche nach Heilmitteln für die Krankheiten der Menschen hatte er sich das Recht erworben, sein abgeschiedenes Leben als Heiler und Forscher weiterzuführen.

Doch schon bald sollte seine Ruhe aufs neue gestört werden. Als sich das Leben in Sevilla mehr oder weniger normalisiert hatte und die Verbindung zwischen der Hafenstadt und Córdoba wieder aufgenommen wurde, übermittelte ihm der führende Rabbi der Stadt die Nachricht, die er befürchtet hatte: Amira und ihre ganze Familie waren der Pest zum Opfer gefallen.

Es war, als hätte jemand alle Lichter im Haus gelöscht. Ein dunkler Schleier des Schweigens senkte sich herab, und jedes Mitglied der Familie reagierte auf eigene Weise auf diese Tragödie. Hai haderte wütend mit sich, denn er wußte, daß er seine Schwester und ihre Familie vielleicht hätte retten können, wenn sie nur in seiner Nähe gewesen wären. Sari begehrte gegen die Ungerechtigkeit Gottes auf und weinte unaufhörlich. Warum war sie, die ihr Leben gelebt hatte, sie, für die die Welt jeglichen Reiz verloren hatte, gerettet worden, während eine junge Familie hatte zugrunde gehen müssen? Dalitha war niedergeschmettert, zog sich ganz in sich zurück und wütete gegen Gott selbst. Benommen vor stummem Schmerz, vergrub sie sich in ihren Übersetzungen, versuchte verzweifelt, die Tragödie aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie war so sehr mit sich beschäftigt, daß sie Hai zuerst überhaupt nicht verstand, als er ihr mitteilte, daß Sari von nun an bei ihnen im Haus bleiben sollte.

Er hatte das schon lange in Erwägung gezogen. Nachdem seine Mutter ihre gewohnte Umgebung verlassen hatte und zu ihnen auf den Landsitz gekommen war, war ihre Gebrechlichkeit in vollem Ausmaß offenbar geworden. Plötzlich bemerkte er, wie zögerlich ihre Bewegungen geworden waren, wie schwach ihr Augenlicht, wie bebend ihre Stimme. Und nun dieser letzte Schicksalsschlag. Wenn sie jetzt nicht liebevoll von ihrer Familie umhegt wurde, fürchtete er, würde sie ihn nicht überleben.

Sari nahm seine Entscheidung ohne Murren hin. Nachdem sie die erste Trauer über Amiras Tod überwunden hatte, verbrachte sie ihre Tage in der ruhigen Melancholie der Resignation, saß in der Sonne, um ihre alten Glieder zu wärmen, streichelte über den Kopf ihres Enkels, um ihn in seiner Unruhe zu besänftigen, hörte geduldig ihrem Sohn zu, wenn er zu ihr kam und ihr von den Zweifeln, den Verzögerungen und Enttäuschungen erzählte, die ihn bei seinen unermüdlichen Bemühungen plagten, seine Vermutungen zu beweisen. Immer wieder sagte er, die unendliche Vielfalt menschlichen Seins verwirre ihn bei seinen Forschungen zutiefst.

»Warum hat ein Mensch einen so starken Lebenswillen, daß er ihm die Kraft verleiht, um sein Überleben zu kämpfen, während der andere voller Verzweiflung ist und stirbt? Was ist mit dem Alter, was mit den Privilegierten, die wohlgenährt und in guten Häusern leben und umsorgt werden, was mit den anderen, die arm und unterernährt in den furchtbarsten Behausungen ihr Leben fristen? Und was ist mit der Liebe, die dem einen im Übermaß geschenkt wird, der Gleichgültigkeit, die anderen entgegengebracht wird? Das alles entzieht sich meiner Kenntnis, ganz zu schweigen von einem meßbaren Einfluß dieser Dinge auf meine Patienten, wenn ich auch überzeugt bin, daß all das mit entscheidet, ob sie überleben oder sterben.«

»Du verlangst zuviel von dir, mein Sohn«, antwortete Sari dann mit einem verzweifelten Seufzer. »Du hast schon so viele gerettet und so vielen anderen Trost geschenkt. Du solltest damit zufrieden sein.«

»Ich werde niemals zufrieden sein. Das blinde Vertrauen, das mir die Leute entgegenbringen, ängstigt mich. Jeden Tag erlebe ich, wie wirkungslos meine Bemühungen im Kampf gegen die Mächte ist, die gegen mich angetreten sind. Ich allein weiß, wie viele Patienten ich nicht heilen konnte, und ihre Gräber sind stumme Zeugen meiner Unfähigkeit, die Grausamkeit der Natur gegen den Menschen zu besiegen, und eine bittere Anklage gegen meine Anmaßung, das tun zu können. Je mehr Erfahrungen ich sammle, desto größer ist meine Verzweiflung über das Chaos der Schöpfung. Was für ein wundersames Geschöpf der Mensch doch ist, wie kompliziert, und doch wie vollkommen ist er zusammengefügt. Nur ein göttlicher Geist kann ihn so erdacht und geschaffen haben. Warum dann hat diese Höchste Macht, die ihn ins Leben gerufen hat, es zugelassen, daß Unordnung diese Vollkommenheit stören darf? Zu welchem Zweck hat der Allmächtige das menschliche Leid in seine Schöpfung eingeführt? Ich habe genug davon gesehen, um zu wissen, daß es bei der Verteilung von Krankheit und Leiden keine Gerechtigkeit gibt, daß nicht zwischen den Ehrenwerten und den Bösen unterschieden wird, zwischen den Aufrechten und den Verderbten. Wenn ein so vollkommenes Geschöpf ins Leben gerufen wurde, warum wurde dann die Unvollkommenheit geschaffen, um es zu zerstören?«

»Ruhig, mein Sohn«, flüsterte Sari und legte ihre inzwischen beinahe durchsichtige, von feinen Adern durchzogene Hand auf die Hand ihres Sohnes, um seine gequälte Seele zu beruhigen. »Jahrelang habe ich deinen Vater, möge seine Seele in Frieden ruhen, ähnliche Fragen stellen hören. Er hat sie mit Philosophen und Gelehrten aller Glaubensrichtungen und Religionen diskutiert. Aber selbst die weisesten unter ihnen wußten keine zufriedenstellende Erklärung abzugeben. Schließlich hat er die Frage außer acht gelassen, war es zufrieden, die Leiden, die in Gottes Schöpfung auftraten, zu lindern, wo er konnte.«

»Und den unergründlichen Plan Gottes zu vereiteln?«

»Nein, mein Sohn. Die Fähigkeiten zu nutzen, mit denen Gott ihn gesegnet hatte, um die Leiden seiner Mitmenschen zu lindern.«

»Aber warum gibt es überhaupt Leiden?« beharrte Hai störrisch. »Warum bleiben einige davon verschont und dürfen friedlich in ihren Betten sterben, während andere eine unendlich schwere Last tragen und unter schrecklichen Schmerzen sterben müssen?«

»Darauf habe ich keine Antwort. Ich bin eine alte Frau und habe gelernt, das Unabänderliche zu akzeptieren, anstatt mich dagegen aufzulehnen. Weisere Menschen als ich haben gesucht und nichts gefunden. Warum sollte ich es mir anmaßen? Ich bete nur, daß ich so ruhig aus dem Leben scheiden kann, wie ich habe leben dürfen.«

Und so war es auch. Eines Morgens wachte Hai auf und fand seine Mutter, die mit einem ruhigen Ausdruck auf dem Gesicht friedlich in die ewige Ruhe eingegangen war.