Der eiserne Kopf
Er stand auf, und beide gingen aus dem Zimmer hinaus. Ein kleiner Gang nach dem Innenhof zu ward durchschritten, und was Harald zunächst zu sehen glaubte, war ein Treibhaus. Doch bei näherer Betrachtung, als sie angelangt, erwies sich dieses Treibhaus als eine mäßig erwärmte Halle, dem Patio eines spanischen Hauses nicht unähnlich, die von ganz bedeutender Größe und Höhe war.
Quadratische Glasplatten, die durch elektrische Klappvorrichtungen zu öffnen waren und durch deren grüne Decke der Himmel wie durch Wasser herabschimmerte, überdachten den Hof, der so geräumig war, daß der ganze kleine Hügel darin Platz fand.
»Ein hübsches Arrangement, wie?« meinte Dr. Sze und lächelte.
Er kletterte, die schwarzen, knisternden Ärmel wie Flügel schwingend, auf dem Hügel umher, einer tropischen Fledermaus ähnlich, einem Fliegenden Hund, der im Dämmerlicht beginnt, sich zu regen. Als er oben stand, konnte er das Glasdach gerade mit gestrecktem Flügel erreichen.
Er stelzte wieder herab und deutete auf Hacken und Schaufeln, die in einer Ecke aufgestapelt lagen.
»Wo tun wir die Erde hin?« meinte Harald.
Dr. Sze führte ihn um den Hügel herum, und hier öffnete sich vor ihnen ein Loch mit schiefem Eingang, wie ein Kellerfenster, durch das man Kohlen schüttet.
»Es ist Platz genug da unten für die Erde; außerdem schälen wir den Block nur heraus und brauchen nicht den ganzen Hügel abzutragen. Der Block sitzt nicht tief in der Erde, sondern die Steine haben ihn nicht eindringen lassen, so daß er gleichsam als Bekrönung auf einem eigenen Fundamente sitzt. Es wird einige Zeit dauern, bis wir dieses Monstrum, das Hunderte von Tonnen wiegt, ganz befreit haben; doch für einen so kräftigen Jungen wie Sie müßte es eine Leichtigkeit sein und eine Freude zugleich.«
Diese suggestiven Worte bewirkten, daß Haralds Knabenneugier die Oberhand gewann und er mit ehrlichem Interesse den Weisungen des Doktors folgte.
»Am besten, Sie befreien sich jetzt von Ihrem Gewand«, sagte der Doktor. »Ich werde dirigieren und Ihnen sagen, wo Sie die Sache anzupacken haben.«
Harald warf den schwarzen Kittel ab und ergriff eine Hacke, mit der er auf den Hügel zurückkehrte.
Die Treibhauswärme machte es ihm direkt zum Bedürfnis, nackt zu arbeiten. Er hieb mit aller Gewalt in die Stellen, die der gelbe Finger mit dem spitzen Nagel ihm wies, der brüchige Lehmboden kollerte in großen Brocken hernieder. Unablässig, unermüdlich schwang er die Hacke. Nicht einmal Schweiß trat auf seine blanke Haut. War das etwa den grünen Tropfen zu danken, die er zu sich genommen?
Er vergaß völlig der Zeit.
Der Himmel über dem grünen Glasdach dunkelte und nahm die Färbung der Tiefsee an. Gleichzeitig aber machte sich ein schon vorher phosphoreszierendes Licht bemerkbar, das an Intensität wuchs und das Glasdach wiederum erhellte, so daß wundervoll funkelnde Strahlenbrechungen darin entstanden.
Das Licht nahm seinen Ursprung offenbar von versteckten elektrischen Lampen. Das Funkeln wurde so stark, daß es die ganze ungeheure Halle mit Tageshelle erfüllte.
Was hatte es jetzt noch für einen Sinn, sich nach dem Stand des Zeigers umzutun? Uhren hatten hier ihren Sinn verloren, da es sich doch um Wochen handelte, die er hier zuzubringen hatte und Tag und Nacht ohne die Trennung von Hell und Dunkel verliefen.
Von dem Sturm draußen drang nicht das leiseste Wispern durch Mauern oder Glasplatten. Manchmal erzitterten diese ganz unmerklich; vielleicht war ein Ast darauf gestürzt. Sonst aber behielten sie das stille, intensive Glühen bei.
Unablässig klang die Hacke. Fortwährend schlug sie an Eisen mit klirrendem Ton, der an zerborstene Kirchenglocken gemahnte.
Stunden mochten verflossen sein, ehe Dr. Sze, der jede neue Entblößung des Meteoriten mit aufmerksamsten Augen verfolgte, die Hand hob und ihn anzuhalten bat.
»Es ist soweit«, sagte er. »Wir dürfen es nicht allzusehr beschleunigen, du mußt dich für den Anblick stärken.«
Harald blickte für einen Augenblick verblüfft auf. Das »Du« klang eigentümlich in dieser Stille, überraschend für einen, der ihn gefangen hielt und ihn bis jetzt mit eisiger Korrektheit behandelte.
Aber seine Verwunderung darüber dauerte nicht an. Es hatte zu natürlich geklungen, und es war ihm auch inzwischen das Bewußtsein in Fleisch und Blut übergegangen, daß er und dieser seltsame Asiate von irgendeinem Zwang zusammengeschmiedet seien, der sich nicht lockern ließ, und an dessen Fessel alle Phrasen wirkungslos zerschellten.
»Komm jetzt herab«, sagte Dr. Sze.
Harald folgte ihm bis hinunter. Und was er dort unten erblickte, machte ihm den Atem stocken.
Er wäre fast nach hinten gesunken, wenn nicht des Doktors Hand sich eng um seinen Arm gepreßt und er nicht ein leichtes Eindringen der spitzen Nägel auf der Haut gespürt hätte, einen leichten Schmerz, der ihn bei vollem Bewußtsein erhielt.
Zunächst sah er freilich nur eine Masse von zackigem Nickeleisen, von Löchern durchbohrt wie ein Schwamm und mit geborstenen Spitzen bekränzt. Dann auf einmal ward ihm klar, daß dies ein ungeheurer Kopf schien, den er ausgegraben.
Es war ein Antlitz, was dort herabstarrte; es war formlos; doch alles, was zu einem Antlitz gehört, war deutlich erkennbar. Zwei Löcher, in denen schwarze Dunkelheit saß, glotzten blind hernieder; eine gebogene Nase mit scharfem Rücken, besetzt von widerlich silbrigen Protuberanzen, wuchs zwischen ihnen herab. Lehm klebte noch an ihrer Spitze, aber was unter diesen Nüstern quer durch das zerfetzte Metall wuchs, war ein Maul, ein schnappendes Maul von so unerhörter Brutalität, von solchem Ausmaß, daß jede lauernde Maske, in Alpträumen erdacht, zu nichtssagender Puppenunschuld schrumpfte.
Es war ein klaffender Schlund, mit zerfressenen Zähnen besetzt, die gleich unregelmäßigen Hauern wie ein Gestrüpp von metallenen Zacken am Rand emporgezerrter Lippen kranzartig durcheinanderwucherten . . . Was das Widerlichste war: dieses Maul, dieses alles schlingende, schien zu lächeln; – ja, die Spitzen dieser gierigen Höhle schienen emporgezerrt zu satanischem, stillem, unersättlichem Grinsen.
Dieser Dämonenkopf glotzte von dort oben herab, und all das funkelnde, grünliche Licht, das so lebensvoll unter dem Dache spielte, rief nur stumpfen Reflex, den von Eisen und starrer Kälte, auf ihm hervor. Der Ausdruck war so entsetzlich in seiner versteinerten Tierhaftigkeit, daß Harald trotz der feuchten Schwüle sein Blut gefrieren fühlte und an allen Gliedern zitterte.
»Sieh ihn jetzt nicht an. Beuge den Kopf. Ich werde dich stärken.«
Dr. Sze war wieder entschwunden und kehrte mit der selben Flüssigkeit zurück, die Harald schon einmal so wohlgetan.
Er brachte sie an des Knaben erblaßte Lippen, und dieser schlürfte. Als er wieder aufblickte, sah er dort oben ein Stück Eisen hervorlugen, das nichts weiter zu sein schien, als eben das Erwartete, nämlich ein Teilstück des Meteoriten von vielleicht reichlich abenteuerlicher Form.
»Um Gottes willen,« stammelte er, »was war das dort oben?«
Dr. Sze lächelte und sah ihn fast erstaunt an.
»Du erschrickst leicht, mein kleiner Freund«, meinte er plaudernd. »Doch ich gebe zu: es ist eigentümlich, wie seltsam der Durchgang durch die äußerste Luftschicht so ein Stück Eisen aus dem Weltenraum modellieren kann. Da gibt es manchmal fratzenhafte Gebilde . . . Stelle dir vor,« meinte er und beugte sich gemütlich herab, »du hast hier ein Stück Blei. Du schmelzest es und läßt es in kaltes Wasser rinnen. Du erhältst einen Hund oder einen Schlitten oder ein Häuschen oder ein Gesicht, alles, was dein Herz begehrt. Das ist nichts Abnormes, und der Vorgang ist hier der gleiche.«
Harald blickte wieder auf.
»Nein,« schrie er plötzlich, »es kann nicht sein, es lebt schon wieder, das Ding dort oben, es schnappt nach mir. Helfen Sie«, und außer sich, drängte er sich an den Chinesen. »Lassen Sie mich heraus. Ich halte es nicht aus, lassen Sie mich, ich beschwöre Sie!«
»Phantastereien«, murmelte der Asiate. Er legte ihm die kühlen Hände, die welken Kastanienblättern glichen, auf die heiße Stirn und strich ihm leicht mit den Fingern über die geschlossenen Augen.
Sofort verstummte das Schluchzen. Harald richtete sich auf.
Dr. Sze blickte ihn mit etwas erweiterten Augen an. Mit einem Male versank alle Angst, alle Beklemmung, ja alles Gedächtnis an das Frühere wie ein böser Traum.
Erstaunt blickte Harald auf: wie kam er hierher? Wo war er hier? – Nichts beunruhigte ihn mehr. Nur das wußte er, daß er ein Werk zu vollenden hatte, und dieses Werk erschien ihm nicht mehr schwierig. – Er blickte sich suchend um. »Soll ich weitergraben?«
»Wenn du nicht müde bist, so tue es. Wir können uns Zeit lassen. Übrigens hast du so schnell gearbeitet, daß ich sehr zufrieden mit dir bin. Wenn du willst, kannst du dich jetzt damit beschäftigen, die Erde in den Schacht zu werfen. Ich denke, wir räumen sie regelmäßig zwischendurch hinaus, damit wir immer genug Platz haben.«
Harald, ohne ein Wort zu sagen, warf die Hacke weg, ergriff eine der Schaufeln und machte sich an die Arbeit. Als er damit fertig war und sich umsah, hatte die Beschaffenheit des Lichtes in der Halle sich wieder geändert. Das Geflimmer hatte sich in ein breites, ruhiges Glänzen verwandelt. Das war Tag, war Sonnenlicht da oben.
In Klarheit übertraf es das künstliche kaum, so daß man sich immer noch einbilden konnte, es sei Nacht. Doch der Übergang war so zart und unvermutet, daß die Tageszeit gänzlich an Bedeutung verlor . . .
Harald versuchte wiederum nachzugrübeln, wie er hierhergekommen sei; jedoch standen nur wenige Dinge klar in seinem Gedächtnis; hoben sich beleuchtet darin ab inmitten einer Flut nun unerkennbar trüber und gänzlich verdunkelter Dinge. Er dachte an einen Spaziergang, an drei sich rätselhaft folgende Geschehnisse, die mit Blut verknüpft waren; er dachte an seine Begegnung mit dem Chinesen und an eine silberne Vision, die sich zutiefst in sein Hirn gebrannt. Er grübelte, wann und wo er all dieses erlebt. Nichts kam ihm zu Hilfe; und er gab es auf.
Sein Leben schien von nun ab nur mit Erlebnissen verkettet, die auf diesen seltsamen Menschen dort Bezug hatten. Das andere, ach, das andere war so unendlich belanglos, daß das Hirn sich nicht einmal Mühe gab, es in greifbare Bilder umzuschaffen.