Der letzte Alarm

Don Fernando Alamos, derzeit Gesandter seiner neutralen Regierung in Berlin, ehemaliger Präsident von Chile, war recht erstaunt, als eine zitternde weibliche Stimme ihn am Telephon beschwor, unverzüglich ins Lazarett zu kommen. Dort liege, so hieß es, ein junger Landsmann von ihm, der ihm äußerst wichtige und unaufschiebbare Mitteilungen zu machen habe.

Alamos war ein großer, beleibter, prunkvoller Mann mit einem seidigschwarzen, mit Silber gesprenkelten Vollbart, den er pflegte wie einen kostbaren Blaufuchspelz. Er trug einen Gehrock, prall an massive Hüften geschmiegt, einen Elfenbeinstock und Lackstiefel, die etwas länger und spitzer waren als sein zierlicher iberischer Fuß. Diese Lackspitzen zeigten sich unter den weiten, breitgestreiften Hosen vom Schnitt französischen Diplomatentums – diskret schlotternden Hosen von vertrauenerweckender Stoffvergeudung. Er ging – oder besser: er »verfügte sich« – mit leicht auswärts gesetzten Füßen, den steifen Hut als Andeutung munterer Bonhommie zurückgeschoben und den keulenförmigen gelben Stock quer in der Ellbogenhöhle, – nach ausgiebigem Kopfschütteln ans gewünschte Ziel. Er brachte viel exotischen Duft in dies kriegsverarmte, verödete, hoffnungslose Lazarett – den Duft unantastbarer Devisen aus einer anderen, ganz anderen Ecke der Welt.

In dem bezeichneten Krankenzimmer angelangt, zögerte er in der Tür. Er sah einen bleichen jungen Mann im Bett liegen; unverkennbar einen Landsmann. Zunächst jedoch wandte er sich der blonden Pflegerin zu und forschte: »Sie waren es, mein Fräulein, die mich rief?« –

Sein Organ klang wie ein Cello.

»Ja«, sagte Magda. »Bitte . . .« und sie präsentierte ihm mit einer rührend hilflosen Handbewegung ihren Patienten. – Dann stürzte sie wiederum hinaus. Sie mußte Ruhe haben; Stille. – Die Exzellenz, nach einer höchst formellen Verbeugung, schloß hinter ihr die Tür, und dann trat sie näher.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte der junge Mann in ausgesucht schönem Spanisch. (Diese Sprache beherrschte die nächsten zwei Stunden in allen Schmelz-, Ruf- und Beteuerungslauten, deren sie fähig ist.) Und als der schöne Gesandte sich niedergelassen, hörte er ohne weitere Einleitung den erstickten Aufschrei: »Sind Sie das, Don Fernando?!«

»Ja – bitte – ganz richtig, Señor – aber habe ich schon einmal das Vergnügen gehabt . . .?«

»Don Fernando!« jubelte es. Zwei Hände tasteten ihm entgegen. »Sie sind da!! – Kennen Sie mich nicht mehr? Ich bin Juan Garcia!«

»Juan –?!« stotterte der Vollbart . . . »Doch nicht Juan, der Sohn meines armen Enrique?!«

»Derselbe, Don Fernando! – Derselbe!!«

»Aber wie ist das möglich! Wie ist das möglich!«

Ungläubig-fassungsloses Staunen auf der einen Seite und schluchzende Beteuerung auf der anderen . . .

»Fassen Sie sich, Señor. – Erzählen Sie.« –

Und er zog sein goldenes Zigarettenetui hervor und bot es dem Jüngling. –

»Erzählen Sie . . . Vorläufig sind Sie ja längst tot, Señor, wie Ihre ganze arme Familie im Schoß der Muttergottes vom Meere . . . Wie ist das! Was sagen Sie! – Sollte die Gnadenreiche gerade Sie . . . Oh, dies ist viel! Dies ist zuviel!« –

Er spreizte die beringte Hand; er sank zusammen – – denn nun kam es wie ein Strom, ein ungehemmter Strom. Und was da in Bildern vor ihm aufstieg, in herzrüttelnden, eindringlichen Bildern, – die er kannte, die er wiedererkannte als Stück eigenen Miterlebens und eigener Trauer, war das Folgende:

 

Ein Heim! – Was ist ein »Heim«? Der kleine Knabe kennt es nur für Monate. Meistens ist es eine Hotelzimmerflucht mit fremden Stimmen und dem Kommen und Gehen von Kellnern; – Kellnern aller Völker.

Die Eltern sind beständig unterwegs; und das gehört sich so.

Sechsmal macht Juan mit seiner Schwester Dolores die Reise von Chile nach London, das bedeutet: länger als ein Jahr hält er das Parkett des Promenadendecks für die Welt, und die buntesten Leute werden intim mit ihm. Auch außer den Hotels gibt es soviel, was man nebenher erlebt unter Buchen oder Palmen . . .

Dann aber kommt die stille Zeit auf dem Landgut in Placilla bei Santiago. »Ich weiß noch gut, Don Alamos, daß wir Sie zum Vertrauten machten. Sie durften es nicht weitersagen: wir hatten eine kleine Wissenschaft untereinander. Der große schwarze Hahn hieß Juan, nach mir – wissen Sie noch? – und lebte in der Sonne; und die schwarze Henne, die Freundin von Dolores, war Kleinhuhn.– Sie war im Mond zu Hause. – Nachts durften sie zusammenkommen.«

Die Zigarette im silbernen Schwarz glühte auf; der Gesandte schloß bestätigend die zerknitterten Lider über den gewölbten Augen. Er wußte dies nicht mehr. Doch verschlug es nichts.

»Fahren Sie fort, Juan. – Erzählen Sie von Ihrem Vater, meinem Freunde.«

»Mein Papa . . . ach, lachen Sie mich nicht aus, – ich weiß nicht, wo ich beginnen soll . . . Er hatte grüne Augen, wie? Er konnte mit den Rottos lachen, die ihre Esel nach der Plaza trieben, und dann, wenn er mit Ihnen sprach, war es feines Castilianisch . . . Er trug den Bart kürzer als Sie, und spitzer . . . Ich war dabei, wenn man ihn schnitt. Ich freute mich über die Angst des Friseurs. Seine Wäsche, seine Schuhe, seine Hüte . . . er bezog sie nie vom Laden, sondern ließ sie anfertigen für sich. Er war einer der schönsten Männer, Don Alamos, und nicht schwach oder eitel, sondern er trotzte drei Operationen und verschaffte sich Respekt. Einmal erschoß er einen Pfau, der vor seinem Zimmer schrie, durch die Fensterscheibe. Er hatte das schnelle Blut; – dabei war er stark wie Stahl.«

»Gott weiß es, Juan. – Und wie war es? Wann sah ich euch zum erstenmal? Wie lernte ich ihn kennen, Ihren Vater Enrique?«

»Sie boten ihm einen Extrazug an nach Iquique zur ›Ema Luisa‹ – zur Salpetermine; – er übernahm sie dann und machte Geld daraus. Und später holten Sie uns wieder ab mit Ihrer Privatjacht, ›der Abwechslung halber‹, sagten Sie; wir kamen bis Valparaiso; es war amüsant. Dies alles geschah, weil mein Vater die Banco de Santiago rettete . . . Die Direktoren wollten sich zu den Einlagen der Teilnehmer verhelfen, also auch zu Ihrem Geld; aber mein Vater warf sie als einzelner Aktionär alle hinaus . . . sie hatten Namen wie Balladenstrophen, aber es half ihnen nichts . . . Da waren Sie voll Freude, Don Alamos, und schlossen mit meinem Vater unverbrüchliche Freundschaft. Sie schickten auch den Priester, der ihn warnte, als die gekauften Rottos mit den Revolvern hinter den Kakteen hockten . . .«

»Es ist alles wahr, Juan. – Niemand kann es wissen außer Ihnen und mir. Ich staune; ich bin erschüttert. – Sehen Sie mich nicht an. – Berichten Sie weiter. Ersparen Sie sich nichts; es sei für dieses eine Mal. – Wie stand es mit Ihrer Mutter?«

Juans Gesicht weitet sich bis in frühe Kindheit. Wovor warnt sein Vater, vor jeder Operation? – »Sagt es ihr nicht, Kinder; stört sie nicht; sie leidet an Kopfweh . . .« Wo ist sie, und wann sieht man sie überhaupt? Und doch ist sie auf unerklärliche Weise mit des Vaters aktivem Leben verkettet, schiebt sich stets hinter ihn wie eine Rollkulisse in Grau, hinter der es nach Medikamenten duftet. Sie ist immer zugegen, aber man ahnt sie nur – wie den Ahnenschrein eines reisenden Japaners . . .

Ein Hotel oder ein dunkles Privathaus. Wir müssen zwei leere Zimmer durchschreiten, Dolores und ich. Ganz hinten sind Kissen, und daraus spricht es mit uns: sanftes Deutsch mit spanischen Kosenamen. Die Mutter ist deutsch, blond und hat immer Migräne. Stets legt sie Patience. Sie treibt ihre Krankheit als schweigsamen Aufwand; sie sitzt schallsicher in dreifachen Kissenschichten – die Mutter. Was bedeutet das: »Mutter«?

Sie ist menschlich nicht faßbar. Ihre Tyrannei schlägt keine Beulen; sie bedrückt nur aus der Ferne. Ihr Egoismus ist naiv; er hat etwas ungeheuerlich Zwingendes, wohin er auch seine sanften Finger legt . . . auf die Erziehung der Kinder, auf den Geist des Mannes, auf eine zum Stummsein gedrillte Dienerschaft . . . Man will sie lieben, aber sie wehrt ab; immer wehrt sie ab.

Sie sieht ihre Kinder wie Schemen durch den Schleier ihres »Kopfwehs« tasten; sie hört ihre Rufe, doch in ihren Ohren braust das sanfte Fieber; sie kränkelt dahin; sie verträgt die Sonne nicht. Und so hört sie ihre Kinder nicht. Die Jalousien öffnen sich nicht mehr; will man sie retten, so muß man in ein deutsches Bad.

Und so schifft man sich ein im Juni – auf der »Etruria«.

 

Auf der »Etruria‹«, flüstert Don Alamos. »Ja; das ist schauerlich. Es strengt Sie an, Juan; ersparen Sie sich die Schilderung.«

»Nein, Don Alamos; ich will Ihnen erzählen . . . ich muß es erzählen, verstehen Sie, sonst gehe ich wieder von neuem unter, Nacht für Nacht . . . Es ist ohnedies nicht viel, was ich weiß. – Stellen Sie sich vor: das gewaltige Passagierschiff . . . Ich bin schon im Bett. Man musiziert, aber das hört man kaum. Es herrscht ein immerwährendes Dröhnen. Ich weiß, mein Vater ist nicht bei den Leuten; und auf einmal stehe ich auf und sehe Dolores an. Sie ist so hübsch in ihren Pyjamas; sie liegt in ihren rotgoldenen Haaren. ›Dolores,‹ sage ich, ›ich muß zu Papa.‹ – ›Wir müssen schlafen, Juan.‹ – ›Kommst du nicht mit?‹ – ›Nein,‹ sagt sie (und das war das letzte, was sie sagte) – ›ich versinke gerade so schön in den Schlaf.‹

Und so gehe ich die Korridore hinunter; langgestreckte grüne Läufer, die sich in Dunkelheit verlieren. Kein Steward zeigt sich; keine Menschenseele nimmt sich meiner an. Denn ich habe die Kabinennummer des Vaters vergessen. Ich fühle, mein Vater sitzt hinter einer dieser vielen Türen, mischt seinen Scotch und erwartet mich . . . Auf einmal ist mir, als höre ich ein leises Pochen . . . Klopft er nicht, ganz nahe mir, seine Pfeife aus? Ich rufe . . . ich rufe . . . Ich finde ihn nicht . . .«

»Weinen Sie, Juan, das erleichtert . . .«

»Was hilft das, Don Alamos . . . Sie wissen ja; – dann kommt der – Stoß und dann noch ein stärkerer Stoß . . . Zwei Torpedos sind das; – – dann kommt dies Schreien, dies Durcheinander, diese Hölle . . . Der Gang ist voll wahnsinniger Menschen . . . Man drängt mich zum Deck; ich falle übers Geländer, unwiderstehlich hinabgestoßen. Ich schreie nach meinen Eltern, nach Dolores . . . Ich finde einen Rettungsring, ziellos hinabgeschleudert, und packe ihn . . . Boote preschen vorbei; Menschen hängen daran wie Trauben . . . Oben, hoch über mir, glitzert noch die vierfache Lichterschnur des Schiffes – dann erlischt sie, alles ist schwarz, und ich spüre einen furchtbaren Schlag auf den Kopf. Es muß ein Ruder gewesen sein von einem der Rettungsboote. Ich hänge im Korkgürtel; mein Kopf bleibt über Wasser, und so treibe ich in die Nacht hinein. Als ich zu mir komme, liege ich zwischen den Felsblöcken eines Gestades, und mir ist so, als beschäftige sich ein Mann mit mir. Dann weiß ich wieder nichts für lange Zeit.«

»Ah – ein Fischer. Ein irischer Fischer.«

»Vielleicht ein Fischer. Es muß einige Meilen von der Unglücksstelle gewesen sein; er hat allein gelebt, an einer unzugänglichen Stelle der Küste. Dies sind Kombinationen, verstehen Sie, Don Alamos. Andere Leute landen und nehmen mich auf einen Kutter. Ich bin wie betäubt; vielleicht ist es ein Schmuggelboot für Munition, und sie lassen mich arbeiten und aufpassen. Sie merken, daß ich zu nichts zu gebrauchen bin und werfen mich an einer Stelle der englischen Küste an Land. Von dort aus laufe ich ziellos weiter. Der Schlag auf den Kopf schmerzt noch immer – – wer hat mir denn den Schlag auf den Kopf gegeben? – Ich weiß es nicht mehr. Niemand kann es mir sagen. – Alles ist schwarz in meinem Kopf.«

»Und jetzt ist hell, Juan.«

»Ja, aber sie tut weh, diese Helle.«