Der »Röntgenblick«

Meine Frau war schon drei Wochen lang krank gewesen; Sepsis; sprunghaft steigendes Fieber; das Kind war im Nebenzimmer untergebracht. Das Mädchen war auf Besorgung ausgegangen. Ich kam heim; es war ein dunkler Novemberabend.

Ich suchte nach Streichhölzern, um die Lampe in der Küche anzustecken und ins Krankenzimmer hinüberzutragen. Das Kind schlief; es war still im Haus; die Türen standen offen. Leise fluchend durchstöberte ich die Küche und den Rest der Wohnung nach Streichhölzern; ich fand sie nicht. Während ich nun einhielt und nachdachte, hörte ich, wie der singende Atem sich beschleunigte; er füllte die ganze Wohnung. Auf einmal traf mich wie ein Peitschenhieb der Gedanke: »Mach' Licht, sonst ist alles verloren. Mach' Licht!! . . .« Verzweifelt suchte ich weiter. Die Finsternis wuchs immer mächtiger, immer drohender. Und bevor es mir gelang, Licht zu machen, da war es, als ob eine Schattenfaust sich um ein Uhrenpendel schlösse: der singende Atem war plötzlich nicht mehr da.

Seltsamerweise schrie das Kind im selben Moment auf, als mir die zusammenstürzende Stille zum Bewußtsein kam. Es war, als habe man den Säugling plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Er hatte gar keinen Grund aufzuschrecken; er lag satt in purpurner Stille. Aber eine jähe Erhellung mit jähem Erlöschen muß in das knospenhafte Hirn hineingefahren sein, und solange das Blitzbild nachglomm, schrie er auf.

– – – Nachdem man sie begraben hatte, feierte ich im Halbschlaf wahre Feste.

Fünf-, sechsmal kam sie zu mir. Ich fühlte, ich griff sie. Sie war in Anspruch genommen von anderen Dingen. Sehr bevorzugt kam sie sich vor; außerordentlich begehrenswert; sie zeigte eine Mischung von Keuschheit und Schadenfreude . . . Ich weiß, das klingt absurd, meine Herren; aber wenn jemand sich etwas darauf zugute tat, es unvorstellbar besser zu haben als unsereiner »im Fleische«, so war sie es, und sie machte auch kein Hehl daraus. Ihr Erscheinen war ein süßes Entsetzen und eine wachsende Beklemmung, die durchs Blut pulsierte wie Rauschgift. Sie lag über mir, – und was auf mich niedertropfte wie warmer Sommerregen, was ich einsog, war eine Ewigkeit von eindringlichem Geflüster. Ich nahm sie ganz in mich auf . . . Solch hochzeitlicher Halbschlaf, der mich weitoffnen Auges zurückließ, geschah gegen vier Uhr morgens, und ich sehe noch die schweren Flechten auf und niedertauchen vor dem Bleigrau der Frühe in den Fenstern. Es war ein körperlicher Schatten, denn er schluckte das Licht, wo er sich regte . . . Ich sah – verstehen Sie – gleichzeitig mit dem inneren und äußeren Blick, und das ist eine grundvertrackte, kaum definierbare Angelegenheit.

Kennen Sie diesen »Röntgenblick«? – Alles wird gläsern, und die vertrautesten Möbel stehen auf einmal da wie unzureichende Kulissen vor verfemter Versenkung. Aus solcher letzten, gefährlichsten Wollust rang ich mich widerwillig hindurch an die Oberfläche der Dinge, ins normale Sein. Nur dieser Übergang war's, den ich so scheußlich empfand; ich wurde wach mit einem tauben Gefühl in den Gliedern, gehetztem Puls, schweißbedeckt und hastig atmend. Als die Besuche sich aber mehrten, gewann ich das Vermögen, meine große Unlust zu überlisten. Ich bat sie, sich ganz allmählich zu lösen, bevor sie scheide, und den Einbruch in meiner Seele gewissermaßen auszupolstern. So lullte mich fortan der Summton unserer Unterhaltung, plätschernder Akkord der Tiefe, in traumlosen Schlaf. Morgens erwachte ich dann – mit seltsamen Bildern im Kopf, mit seelischer Nachempfindung ungeheurer Selbstvergeudung . . .

Sie müssen sich nicht vorstellen, daß ich eine Adeptenhöhle aus meiner Wohnung machte; so einfach war das nicht. Als es mir seltener gelang, die Jenseitige kirre zu machen, hinterließ sie mir blassere Eindrücke; doch ihre öfters wiederholte Mahnung war: »Du brauchst mich nicht mehr; ich bin dem Kind auch nicht gewachsen; von nun ab will dich das Kind . . .« Lassen Sie sich nicht irreführen durch den Ausdruck Unterhaltung. Es war ein gemeinsames Träumen; ineinandergesenkter Austausch von Bildern. Was sie zischelte, waren wohl auch keine Worte, sondern ich pflückte einen Sinn von ihrem Lippenrühren. Der Nachhall sinnloser Silben, in meiner eigenen Stimme gesprochen, schwang noch, wenn ich erwachte, in der Luft. Ich wußte aber genau, daß diese Silben auf anderem Plan voll tiefen Sinnes gewesen. Als sie nun immer scheuer wurde und ihr Kopf das bleigraue Fensterquadrat kaum mehr verdunkelte, sondern ich auch durch sie hindurchsah wie durch Nebel, linderte sich sanft die Wunde, die das Leid in meiner Brust gefressen wie ein Loch. Sie ward verschüttet. Das Loch füllte sich, schon während das wirre Schilpen frühwacher Spatzen hereinschwoll, mit einer neuen täglich wachsenden Liebe: mit Marlies. Es war, als wechsele die Mutter nur den Körper; neuer Wert und neue Hoffnung erblühten. Und das war auch der Grund, warum ich sie nicht festzuhalten suchte – als sie sich »zurückzog«. Die Nächte voll Vernichtungsgefühl und abstrakter Wollust blieben aus.

»Mein lieber Stirum,« wollen Sie jetzt sagen (denn ich kenne Ihre schlichten Gedankengänge) – »binden Sie uns keinen Bären auf, der nach Spiritismus schmeckt. Bleiben Sie bei der Stange. Sagen Sie: ich habe geträumt; aber faseln Sie nicht von Geistern.« Es wäre ja auch gar nicht verwunderlich, wenn's so gewesen wäre. Ich bin jetzt noch bereit, mich als damaliges Opfer wiederholter Halluzination zu bezeichnen. Gut; ich habe lediglich plastisch geträumt; es gibt ja keine Zeugen. – Aber das eine kann ich Sie versichern: diese Träume waren immerhin nachhaltig genug, um sich neben der Wirklichkeit von vierzehn Jahren zu behaupten. Denken Sie also, was Sie wollen; aber wenn Sie mich unterbrechen, schweige ich . . . und Sie sind um einen wirklich interessanten Bericht gekommen . . . .

Ich soll weiterreden? Gut also. – Ich gehe ins Extrem; vielleicht ärgere ich Sie jetzt. Denn ich war seitdem sogar überzeugt, daß jene Erlebnisse die eigentliche Wirklichkeit sind und alles übrige nur trübes Treibholz unserer fragwürdigen »Erfahrung«. Ach, du lieber Himmel! Diese Erfahrung! Dies prachtvolle Kausalgebäude! Mit was für rohem Stückwerk arbeiten wir, um uns ein Bollwerk zu bauen gegen das Nichts, um uns in dumpfer Angst davor in einem sicheren Nest zu verschanzen, nur damit unser Ich nicht hinübertastet nach seiner eigentlichen Domäne! – – Vielleicht muß das so sein, denn wie wenige Menschen sind solchen Spaziergängen gewachsen! Stellen Sie sich die Panik der Bürger vor, wenn ihnen zum Zeitvertreib nur ein paar Stunden lang das innere Gesicht geschenkt würde!

Ich will nicht gerade behaupten, daß ich mit dem Bereich auf einmal grenzenlos intim wurde. Immerhin gelangen mir kleine Vorstöße; je mehr meine Neugier wuchs, desto mehr schrumpfte natürlich mein Interesse an »Alltags Lust und Leid«; desto maschinenmäßiger verlief meine leibliche Existenz.

Hohe Genugtuung ist es mir noch, daß ich der »Welt« dauernd ein Schnippchen schlug. Denn der bedächtigste Spion erriet nicht, daß ich ein vollkommenes Doppelleben führte. »Zum Sonderling ist er geworden durch den plötzlichen Tod der jungen Frau«, hieß es allgemein. Diese Version hatte ich in Umlauf gesetzt. Sie hatte das Gute, daß man sie nicht widerlegen konnte, und gab mir die Möglichkeit, mein Benehmen zu »strecken« über die offizielle Trauerzeit. Als die Teilnahme dann doch aggressiv wurde, hatte ich Gott sei Dank das Kind und schob es in die Bresche. »Pflege des einzigen Kindes«, war das nächste Aushängeschild. Auch dies war fast wahr.

Und so war ich dann, in mitleidigem Respekt so genannt, ein treuherzig-eigenbrödlerischer Narr, den man halb seufzend und halb sarkastisch in Ruhe ließ. Denn sie wußten nichts mit mir anzufangen. Schließlich hatten sie keine Lust mehr, mich mit Teilnahme zu belagern.