Der Wohltäter
Er mußte einige Zeit warten, und dieser Umstand tat noch ein übriges zu seiner Verfassung. Er wurde durch einen schlicht uniformierten Aufsichtsbeamten in ein büroähnliches Wartezimmer geleitet, wo er nach grunzender Verlautbarung seines Wunsches sich zunächst niederließ. An der Wand, auf einer farbenfröhlichen Reproduktion, betätigte sich der Jesusknabe als Tierbändiger; den einen Arm hatte er um den Hals eines gezähmten Tigers geschlungen, und die andere gab den Takt des Marsches an mit einem kleinen Palmenreis. In silbernem Hemd trabte er daher nach Kinderart. Ein Lämmlein hüpfte auf seiner anderen Seite; und viel Tiere folgten. Ein Elefant machte den Beschluß.
Es wäre nun gut gewesen, wenn Herr Ziehlke – dem Sinn des Ortes entsprechend – auf den naheliegenden christlichen Gedanken verfallen wäre, sich unter diese gezähmten Tiere einzureihen und der kleinen Hussapeitsche aus Palmfiedern geduckten Nackens zu folgen. Demut und Bereitschaft zum Guten wären die richtige Verfassung gewesen. – Leider aber zog er noch keine solchen Schlüsse aus dem Bild, sondern saß bös und voreingenommen gegen das Gute auf dem Stuhl. Er war ein waschechter Berliner, und es war nicht so einfach, ihm mit Palmwedeln und besänftigten Tieren den Sinn für das Praktische zu lähmen – ebensowenig wie die recht augenfällig angebrachten Bibelsprüche ihn ohne weiteres überzeugten.
Mit einer heftigen Bewegung zog er die goldene Schnappdeckeluhr und nahm sich vor, genau noch fünf Minuten zu warten, bevor er die Angelegenheit anderen Wohltätern überließ. – Er sprang auf und ging schnell auf der Bastmatte hin und her. Da er dabei an einen Spiegel geriet, bot ihm die Betrachtung der eigenen Person flüchtige Zerstreuung. Er konnte nicht umhin, sich selbst mit einem gewissen grimmen Wohlwollen zur Kenntnis zu nehmen. Patent, ja, das war das Wort. Und das wollte was heißen in diesen Zeitläuften. – Seidenes Hemd, guten Schneider, hellgrau Flanell und spitze Schuhe mit Glanzlederkappen. Wer lacht da? – Bauchansatz. Runde Figur. Das Gesicht rosa, vollkommen haarlos. Haare stören den Masseur. Sein Schädel glänzte hell himbeerfarben. Die Bäckchen sackten ein wenig, der Mund war leicht zur Hufeisenform gezogen durch ihr schütteres Gewicht; das Gesicht war wie aus einem soliden Gelee, das nur durch das Erdbeben einer Gemütserschütterung zum Zittern zu bringen war. Jetzt ließ der Zorn es zittern.
Herr Ziehlke trug auf dem Sattel der großen Nase eine Hornbrille, seit er durch den hurtigen Anschluß an die Heeresversorgungsstelle in die Intelligenzklasse aufgerückt. Hinter dieser Brille drangen große, runde, wasserblaue Augen auf den Beschauer ein, unter wagerechten rosa Hautwülsten, von der leeren Intensität, mit der ein lauerndes Amphibium die Welt betrachtet. Und so wie ein solches ganz jähe Sätze macht nach stundenlanger Überlegung, so hatte auch Herr Ziehlke nach monatelanger Begrübelung seiner Chancen einen jähen und zielbewußten Satz gemacht in jene von selbst funktionierende Kriegsfutterkrippe hinein. – Darin saß er nun in einem Hagel von Bestellungen; er war der Situation nicht ganz gewachsen, denn sie trug zu sehr das Gepräge einer temporären Zweckgründung, die auffliegen mußte mit Kriegsende. Es hieß, ständig die Ohren steifzuhalten, und das machte ihn nervös. –
In immer steigendem Zorn nahm er seine Wanderung wieder auf. Eine Minute noch! Es war doch toll, was man ihm zumutete! Und wie die Weiber ihm in den Ohren gelegen hatten! Logik haben sie nun mal nicht, und gegen eine Verschwörung, wo bei ihnen das Gemüt mitspricht, zieht man immer den kürzeren . . .
Herr Ziehlke stand durchaus nicht auf, als sich jetzt die Tür öffnete und ein Beamter das stellungs- und herkunftslose Individuum vor sich herschob. Es mußte geschoben werden, denn selbst hatte es keine Eile.
Der Fabrikant beugte sich leicht im Stuhl vor, rückte an seiner Intelligenzbrille und stemmte die Handrücken auf die gespreizten Knie. Der Knabe betrachtete ihn mit halboffnem Mund. Herr Ziehlke sagte mürrisch:
»Das hab' ich gern, mein Sohn. Behalt' nur ruhig die Hände in den Taschen. Is ja auch viel bequemer. Keinen Namen vor Gott und der Welt und keinen roten Marawedi im Kapital; aber reingetrudelt kommt man wie der Kronprinz.«
Von dieser Anrede verstand der Knabe offenbar nichts, denn seine saloppe Haltung blieb dieselbe, und er blickte fragend nach dem Aufseher.
Dieser tippte ihm auf die Hosentasche. Nun begriff der Knabe und zog seine Hände hervor: frischgewaschene, seltsam langfingrige und schmale Hände. Dann lächelte er langsam, als handle es sich darum, die Laune eines Originals zu befriedigen, und fragte:
»Bitte sehr?«
»Wissen Se, Herr –« sprach der Aufseher, ein braver Fünfziger mit eckigem Schnurrbart, – »Sie dürfen es ihm nicht verübeln. Er hat nun die lange Leitung. Er macht ja alles; nur mit die Verstehste, da hapert's noch so'n bißchen. Er ist hier oben in der Denkabteilung, wissen Se, nich jenüjend einjedeckt; 'n bißchen ausjeleiert, wenn ich so sagen darf. – Wer kann wissen, ob se ihn nich schon mal auf 'n Kopp jekloppt haben mit 'nem Jewehrkolben, un' nu kann er nich logisch mehr denken, so stell' ich mir das vor.«
»Und ich, –« sagte Herr Ziehlke durchaus nicht besänftigt, – »ich stelle mir vor, daß er'n ganz gerissener Simulant is – Is es so, mein Jung', oder is es nich so?«
Der Knabe gab ein Kichern von sich; fröhlich und harmlos. – »Sie sind komisch«, sagte er mit mutierender Stimme und betrachtete voll erfreuten Interesses Herrn Ziehlke.
Dieser bekam einen lachsroten Kopf. –
»Jetzt sag' nur noch –« und er steigerte sich zum Schmettern – »sag' nur noch putzige Kruke zu mir oder alter Schäker. – Dann hat's aber geschnappt.«
Der Knabe wurde langsam wieder ernst. Seine Lippen wurden schmal. Er zuckte die Achseln, als wolle er andeuten, daß er die Unterhaltung als resultatlos abzubrechen wünsche. – Der Aufseher legte sich flugs wieder ins Mittel.
»Aber Herr,« sagte er beschwörend, »nu muß ich Ihnen schon jenau ersuchen, sich reinzuvasetzen in sein Jemüt. Wenn Sie 'n weiter so anbrülln, wo er doch 'n landfremden Menschen is, machen Se 'n janz verrückt. Un' wohlteetje Absicht un' Anpfeifen is zwoerlei, sozusagen. – Na, mein Jung' –« fuhr er gegen seinen Schützling gewandt fort, nach Möglichkeit »hochdeutsch« – »nun erkläre mal diesem freundlichen Herrn hier – (und die forsche Note, die mußte nich tragisch nehm') – daß du ganz genau ausbaldowert worn bist von die Herrn Ärzte un' daß du heilig die Wahrheit sagst, wennde sagst, du weißt von nischt.«
Hier ereignete sich das Erstaunliche, daß der Junge einen zusammenhängenden Satz von sich gab. Seine Aussprache war dadurch gefärbt, daß er die Silben falsch betonte; sonst sprach er korrekt. Er wandte sich nicht eigentlich dem zukünftigen Wohltäter zu, sondern dem bisherigen Beschützer, und sprach eintönig wie etwas Eingelerntes:
»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet für die mir zugedachte Aufmerksamkeit.«
Als er dies hervorgebracht hatte, atmete er erleichtert auf und überließ es den beiden Männern, sich zu wundern. Eine Pause erfolgte.
– – – »Sehn Se! Sehn Se!« rief der brave Aufseher. »Von schlechten Eltern is er nich; so elejant red't er Ihn'. Das schüttelt er so aus'n Handjelenk; flüssig sitzt ihn das.«
Herrn Ziehlke stand der Mund offen. – Was waren das eben für Töne gewesen? Gleichsam raffiniert hatte es geklungen; so druckreif. Er massierte daher gründlich sein rosa Kinn. Und nachdem er sich durch Reibung des gelähmten Kiefers gefestigt und in die frühere Fahrtrinne zurückgefunden hatte, erwiderte er auf die zierliche Rhetorik folgendes:
»Von wegen. – Und ›zu Dank verpflichtet‹ – Ich würde noch die Luft halten, mein Sohn, eh' ich sone Opern singe. – ›Aufmerksamkeit!‹ – Was denn noch? Dein Gedächtnis haste verloren; gut. – Woll'n mal sehn, ob wir dir nich wieder zurückverhelfen könn' zu deinem Gedächtnis.« – Immerhin hatte ihm die Sentenz so imponiert, daß er nicht umhin konnte, den goldenen Kern in der rauhen Schale ahnen zu lassen. Auch gesellte sich die durchbrechende Heiterkeit über die so fabelhaft gewählten Ausdrücke hinzu. Lächeln konnte er nicht; das lag nicht in seiner Art. Also grölte er. – »Verpflichtet fühlt er sich!! – Das is köstlich!!« – Er meckerte noch eine Weile, während der schlichte Mann mit den blanken Knöpfen schmunzelte und der Knabe ihn voll unschuldigen Ekels betrachtete: die kleine Falkennase gekraust und die Augen verengt . . .
Es erfolgte nun, daß Herr Ziehlke sich erkundigte, wie er seinen Probeschützling nennen solle, und der Ausseher ihm erklärte, »Max« genüge. Das in Frage stehende männliche Individuum habe, da staatenlos und unbekannter Herkunft, bereits einen provisorischen Namen erhalten. – Dies sei geschehen, weil die Polizei keine Verpflichtung spüre, den Namen der Erscheinung anzupassen. Der Name passe zwar wie die Faust aufs Auge, aber man habe im Jahr des Unheils 1915 weit wichtigere Angelegenheiten zu erledigen, zum Teufel, als symbolische Namensgebung.. Das Wesentliche stehe in Maxens Legitimation, die er vorwies; neben »besondere Kennzeichen« stand »ohne«. – Nicht einmal ein Muttermal habe er, oder eine auftätowierte Dame, oder ein krummes Fingerglied. Er sei einfach »ohne«; man habe auf seinem Körper jeden Fleck mit der Lupe abgegrast.
Freilich – und diesen Verdacht bekam selbst Herr Ziehlke – in Maxens Seele hinein hatten diese Lupen bisher nicht gereicht. Er nahm sich daher vor, ihm »hinter die Schliche« zu kommen, und dies begann ihn fast zu reizen. Mit Komplimenten und Danksagungen des Direktors versehen, packte er sich und Max in ein Mietauto und fuhr nach Hause.
Der Junge war stumm. Er trug nur ein ständiges nervöses Lächeln um den Mund, und als man ausstieg, bot er sich zur Unterstützung an, mit einer sonderbar hastigen Höflichkeit, als ob Herr Ziehlke eine ältere, unwirsche Dame sei.