Der Horizont im Weizengeist
Nach einer Stunde erreichte er das Haus, in dessen viertem Stock er zwei Zimmer bewohnte. Er fand sich plötzlich vor der Tür, ohne genau zu wissen, wie er hinaufgelangt war, und dann in der Wohnstube, deren Tür nach dem Schlafzimmer offenstand. Er knipste die grüne Tischlampe an und enthüllte damit ein Milieu, das sich in dieser Gegend tausendfach wiederholte. Ärmlich war es nicht, beileibe nein, denn Herr Zinkeisen war nicht umsonst ein leidlich gut bezahlter Herr. Er hatte es mit dem ehrlichen Willen gekauft, ein Heim zu schaffen . . .
Er setzte sich noch nicht an den Tisch, sondern grub erst alles aus seinem Mantel hervor, Geld, Heft und Flasche. Darauf zog er seinen tadellos geschnittenen Frack, seine Hosen und alle Hotelwürde aus; hängte sie mechanisch sorgsam im Wandschrank über die Kleiderhaken und bekleidete sich mit seinen verwaschenen Pyjamas. Die Lackschuhe stellte er parallel an das gewohnte Plätzchen und tat dafür ein Paar alte Filzpantoffeln an. Hierauf schnaufte er ganz gewaltig auf, ohne sich viel Mühe zu geben, das Geräusch seiner Erleichterung zu dämpfen . . .
Er wußte genau, daß diese Vorbereitungen von seiner Frau so völlig überhört wurden wie Fliegensummen. Es war die Routine von Jahren. Neu war heute einzig eine Expedition in die Küche, wo er sich Selterswasser und Glas holte. Er trank sonst nie vor dem Schlafengehen. Heute aber tat er's, und verwunderte sich nicht einmal.
Er schlug das Heft auf und malte mit verbissener Gründlichkeit wie immer seine sechs bis neun Nullen. Auf einmal jedoch war es, als werde sein Kopf in eine andere Richtung gelenkt. Die schreibende Hand erlahmte, und sein Blick bohrte sich in das schwarze Rechteck der Schlafzimmertür. Der Bleistift entfiel den Fingern, und eine Weile saß er wie aus Holz geschnitzt.
Die beklommene Brust drängte sich schweratmend an die Tischkante. Als falle es ihm erst jetzt ein, kehrte sein Blick zur Flasche zurück und zu der Aufschrift der Etikette: »Purveyors to His Majesty.« –
Die Worte entlockten ihm ein irres Lächeln.
Es wird da ein Trank gebraut, irgendwo auf der Welt, den sich ein König, oho, ein veritabler König für seine Tafel bestellt! Sie gestatten, Sire, daß ich mir das für Ihren Privatgebrauch vorgesehene Getränk selber gönne, sozusagen hinter Ihrem Rücken!
Er gluckste vor sich hin und strich sich mit der Hand übers Knie. Dann füllte er das Glas zu einem Drittel mit dem bernsteinfarbenen Weizengeist und tat den Sprudel hinzu. Es moussierte wie Champagner. – »Etwas habe ich noch vergessen,« formten seine Lippen lautlos, »wesentlich, sehr wesentlich; es muß doch alles harmonieren; wir machen jetzt eine kleine Totenfeier für ein begrabenes Dezennium, das einmal zu leben sich verlohnte!« – Damit holte er sich aus den Tiefen des Kleiderschrankes eine runde Blechbüchse mit handlichem Deckelöffner, schnitt sie auf und sog den Duft der Capstan-Zigaretten ein. Es roch wie Sand und Honig.
Süßer Qualm steigt auf . . . Und nun sind die Straßenzüge da, von grellstem Leben überbrandet; gezackte Pisangblätter . . . Rollen von Rikschas . . . lehmgrüne Kanäle . . . ziegelrote Erde . . . Weißgekleidete Menschheit bewegt sich durch Schattenbänder, und über seinem Scheitel hängt eine senkrechte, eine ganz andere Sonne. Oh, dieser Geruch, der hinter Suez beginnt und in Australien endet!
Er trank das Glas mit vier Zügen leer und setzte es dann energisch auf den Tisch zurück. Dieser Knall hörte sich an, wie eine Herausforderung an alles, was ihn umgab; in dem Blick, den er den Möbeln schenkte, lag etwas kritisch und boshaft Abschätzendes. Genau konnte er sich's nicht klarmachen, was ihn an dem gehäkelten Überzug des Sofas dort und an jenen Öldrucken eigentlich störte. War es der gänzliche Mangel an Handwerkertum, was ihn erboste? Die Dutzendware, ausgespien von dieser seelenlosen Zeit, hatte sie ihm nicht selbst den Stempel aufgedrückt? Es gab einmal ein Individuum, gab freies Menschentum . . . Wie lange ist es her? Das lag vor dem Scherbenberg.
Sein Gesicht bekam etwas Verfallenes, seine Augen suchten und suchten. Nichts war da, gar nichts; und es grauste Herrn Zinkeisen auf einmal ganz bedenklich. Gegen dies plötzliche Unvermögen, Behaglichkeit zu empfinden, half nur ein zweites und ein drittes Glas. Seine Augen tränten, sein Puls klopfte beschleunigt. Da war sie wieder, die Engländerin: nackte Schultern und Arme, schlanke Schenkel, hoffärtige Brüste und herrisch geschürzte Lippen . . . Das ist nun der Feind, dachte er stier. Doch warum ist es eigentlich der Feind? Es ist das einzig Denkbare. Es ist Herrentum; und wenn man es selbst nicht leben kann, so will man es wenigstens anerkennen dürfen. Wenn man aber selbst dies nicht darf?
Ich verstehe euch ja so gut! Ich verstehe euch ja aus eurem eigenen Leben heraus! Ich müßte einer der Euren sein, wenn auch nicht auf gleichem Niveau, so doch irgendwie bescheiden beglaubigt! Denn das, was man jetzt hier treibt und tut, hat nichts mehr mit Menschentum zu tun! – Mit einem kaum unterdrückten ächzenden Aufschrei fegte er das Heft zu Boden und die Geldscheine hinterdrein, so daß sie das Zimmer wie Schneegestöber füllten. Dann schloß er beide Fäuste und brütete weiter.
– – – Nach fünf Minuten tödlicher Stille hörte er, wie sich ein Körper im Nebenzimmer im Bett herumwarf. Dies weckte ihn aus der Apathie. Mit lahmen Schritten ging er auf das schwarze Rechteck der Tür zu. Ein leises Gähnen war hörbar, gänzlich verschlafen, das sogleich wieder zu tiefem fauchendem Atem wurde. Er setzte sich im Dunkeln auf den Rand des eigenen Bettes, dem ihren gegenüber. Die schwache Beleuchtung aus dem Wohnzimmer ermöglichte es ihm, Umrisse zu sehen. Er erkannte ihren Kopf und den einen Arm, der halb aus dem Bett heraushing. In der Stube herrschte ein Geruch nach Leinöl und stagnierendem Küchendunst. Auf der schwarzen Fläche der Finsternis entstand wieder das Bild der strahlenden Schultern. Doch diesmal erweiterte es sich und wurde zum Leib, dessen herrischer Umriß sich in sein Hirn einätzte. Es war nicht eigentlich dieser schlanke Leib selbst, der ihn beunruhigte, sondern die Geste, mit der das Bild sich auftat: die Unnahbarkeit. Lichtjahre entfernt kreiste es, unbekümmert um sein winziges und fragwürdiges Dasein.
Doch lag eine seltsame Wollust in der Vorstellung solcher Unerlangbarkeit. Er wußte, dies Gefühl würde ihn mit der Zeit auffressen. Neid war das auf eine ganze Rasse von Menschen, deren Eitelkeitsbarriere es ihm selbst noch verwehren wollte, ihnen zu dienen . . .
Nach einer langen Pause Grübelns drehte er das Nachttischlämpchen an und streckte sich aus. Das soeben geschaute Bild wollte nicht verblassen. Er brachte es kaum über sich, die Augen nach dem anderen Bett hinüberzuwenden. Als er es dennoch tat, sah er, daß sie fest schlief mit jenem törichten Ausdruck, den Schlafende oft zeigen.
Dumm kam sie ihm vor, sklavisch und unterdrückt; ein an die Wand gehetztes Gewohnheitstier, das ermüdenden Käfigtrott im Schlaf vergaß.
Sie träumte nicht einmal. Sie pustete nur ihre Atemzüge in die muffige Luft, und hinter der niederen Stirn unter dem zerzausten Haarbusch regte sich nicht der Schatten einer Vorstellung. Sie war weiß Gott kein Geschöpf, das einen Mann ermuntern konnte, sein Bestes herzugeben! Nein, die kleinste Scheidemünze seiner Persönlichkeit, die er ihr hingeworfen, war gerade noch gut genug für sie!
– – – Lang noch ruhte sein Blick voll grimmer Lieblosigkeit auf ihrem törichten Gesicht. Er empfand es in diesem Moment als durchaus möglich, nicht bloß diesen Körper in endlose Distanz zu schieben, sondern auch alles, was mit ihrem tanzmausähnlichen Dasein zusammenhing. Ha, man mußte dort anknüpfen können, wo dies noch nicht begonnen hatte . . . So, als habe man sich kurz niedergelegt, sei nach schwerer Mahlzeit eingenickt und habe in einem kurzen Albdruck, der einem neun Jahre voll beklemmender Selbsterniedrigung vorspiegelte, konzentriert Liederliches geträumt, und nun erwache man mit einem Ruck. So wäre es gut.
Seine Blicke wurden mehr als lieblos. Abscheu nahm ihnen allmählich jeden Funken von biederer Wärme. Da half nur eins: Finsternis und Vergessen. Er knipste das Lämpchen aus. Ein Loch fraß jetzt alles, vielleicht verschwand es nun und war nie gewesen . . .
Nun begann es wieder: leuchtendes Grün, weißgekleidete Menschen in Schattenbändern, Großzügigkeit, Geld und Teilhaberschaft am Luxus der Erde . . . Es drehte sich langsam als Panorama und flammte . . . Eine Gestalt entpuppte sich, greifbar nah, die ihn mit weichem Spiel der Schulterblätter zwang, ihr blind zu folgen . . . Ein schaumweißer Leib, herrschsüchtig noch in der Demut der Hingabe, wölbte sich ihm entgegen und stieß ihn von sich: halb fordernd, halb sich versagend. Seine Arme griffen zu: da strafften sich diese apfelrunden Brüste und wurden fühlloser Stein . . .