Der Spuk beginnt

Meine Herren, ersparen Sie mir, die nächsten Stunden zu schildern. Es war ein erneutes Ringen um Glauben. Aber ich beschwor mir mit aller Energie herauf, was nach dem Tode von Marliesens Mutter erfolgt war. Dieselbe Bereitschaft mußte ich in mir erzeugen wie damals. Keines ihrer letzten Worte durfte vergessen werden. Sie hatte gesagt: »Ich bleibe bei dir«, und: »Du findest mich wieder.« Der Durchbruch durch alle Zweifel: die wundervolle Leuchtrakete der Überzeugung überschwemmte die dunklen Regionen, in die ich einen Vorstoß plante, mit Licht.

Sie war da, und daß jenes Etwas, das sie im Bett dort zurückließ, nur vergänglich geprägter Umriß, bröckelnde Hohlform war, die gar nichts mehr mit ihr selbst zu tun hatte, wurde mir nun durch einen unnennbar schauderhaften Zufall klar.

Sie erinnern sich, daß ich Ihnen erzählte: Moloch war hungrig . . . Wie er ins Zimmer eindrang, ist mir nicht ganz klar. Kurz, ich erwischte ihn, wie er drauf und dran war, sich an der Leiche gütlich tun zu wollen . . . Muß ich das aussprechen! Ich packte ihn, kalt vor Entsetzen, und schleuderte ihn in weitem Bogen aus dem offenen Fenster. Meine Hand hatte sich wie eine Zange um seinen Hals gelegt. Er schlug leblos drunten auf; ich glaubte ihn endgültig los zu sein. Vorläufig kam er nicht wieder und ich vergaß ihn. (Doch es heißt, daß Katzen eine Mißhandlung nicht vergessen.)

Als Marlies begraben war, wurde mein Urlaub vom Chef aus in entgegenkommendster Weise ausgedehnt. Ich hatte Anfälle von tödlichster Einsamkeit, und hier, sehen Sie, zeigte es sich, daß die »soziale Bestie« meine vierzehnjährige Mißachtung keineswegs übersehen hatte; sie wandte mir mit großer Gebärde ihre kühle Rückseite zu. Der als Sonderling Gebrandmarkte würde schon (dies schien es mir zu bedeuten) einen Modus finden, um mit seinen privaten Stimmungen fertig zu werden. Etwas schales Mitleid bekam ich zu kosten, ein wenig spekulierende Kondolenz – und dann glitt man wieder zurück in die Beobachterrolle. Das war das Verhalten der »Welt«, und eigentlich hatte ich keinen Grund, auch keine Berechtigung, darüber erstaunt zu sein. Im geheimen bereitete sich ja auch etwas in mir vor.

Man kennt das Summen des Orchesters vor Beginn der strahlenden Oper . . . Kennt das atemlos geschäftige Treiben für eine kommende große Festlichkeit: ja, so war meine Stimmung vor diesem nahen Wiedersehen mit Marlies nach ihrer »vorübergehenden Verhinderung« auf der anderen Seite des »Übergangs«. Glauben Sie nun nicht, daß ich irgendwelche Magie getrieben hätte, an der Ihr schaler wissenschaftlicher Witz ein billiges Mütchen kühlen könnte. Nein! Alles, was ich tat, war folgendes: ich hungerte. Vielmehr aß ich nur das Allernötigste, das die vitalen Funktionen verbürgt. Ich zog abends die Rolläden vor die Fenster und die Vorhänge vor, sperrte den Tag so lang als möglich hinaus. Dies tat ich in der ganzen Wohnung und ließ alle Türen gewissermaßen einladend offenstehen; ebenso das kleine Fenster in der Besenkammer. Dann schaffte ich Marliesens Bett aus dem Zimmer hinaus, so daß nur noch mein eigenes darin stand, das ich in die Mitte rückte. Vor das Bett stellte ich einen breiten eichenen Tisch und in dessen Mitte das Puppenhaus.

Ich hatte mir berechnet, daß die Batterie, da sie so gut wie neu war, Brennvermögen für eine ganze Woche besitzen mußte. So konnte ich mich auf das beleuchtete Haus konzentrieren, ohne befürchten zu müssen, daß das Licht darin erlösche.

– – – Es war am vierten Abend, als ich zum erstenmal ihren Versuch spürte, sich bemerkbar zu machen.

Ich atmete tief, als jenes Knistern begann: im Korridor – dann im Salon – dann im Zimmer selbst – mit dem rapiden Sinken der Temperatur vom Teppich her. Es war verdammt ungemütlich, dies so objektiv zu erleben.

Doch ich sagte mir immer wieder: es ist ja Marlies; es ist ja eine freundliche Intelligenz. Sie will ja nur Vereinigung mit mir. – Vorläufig blieb es beim Knistern. Ich schlief am Schluß traumlos ein.

An den kommenden Abenden geschah folgendes: Ich hatte die Lampe noch brennen. Da geschah in der Ecke, wo ihr Bett gestanden, ein Knall wie ein Pistolenschuß, gefolgt von einem Geräusch, als drehe jemand sich auf der Matratze um. Ich hörte das leise Anklingen der Matratzenspiralen und ein Rauschen von Bettüchern.

Die Ecke war leer und hinlänglich bestrahlt, so daß ich jeden kleinen Papagei auf der Tapete bis zur Decke hinauf verfolgen konnte. Aha, dachte ich, die Kraft wächst. Mein Puls hatte ausgesetzt; nun schlug er wild. Zehn Minuten Stille. Dann geschah dicht vor mir klares, deutliches Klopfen im Holz des Tisches. Jetzt erschrak ich nicht mehr. Es war keine irre Manifestierung. Es war ein bewußter Versuch zur Verständigung; es heimelte mich gleichsam an.

»Bist du das, Marlies?« fragte ich laut. Meine Worte hallten laut und versickerten in der leeren Wohnung.

Ein lauter, kurzer Krach im Tisch geschah. – »Sie ist es!« dachte ich. Ich nannte die Buchstaben des Alphabetes, sobald das Klopfen sich wieder rührte, und hatte nach einiger Zeit die klare Botschaft, »Lampe aus.«

Ich erhob mich und befolgte ihre Anweisung. Die Batterie des Puppenhauses drehte ich an und starrte hinein. Mein Blick verfing sich zunächst in einem Spiegelchen, das einen winzigen Kronleuchter im Parterre reflektierte. Es war eine Art Kristallsehen. Manchmal war mir's, als gleite eine Verdunkelung über das Gesichtsfeld. Wie unter einem Zwang drehten sich meine Pupillen langsam empor.

Ich sah mitten in die Gesellschaft hinein, die im ersten Stock um den Tisch versammelt saß. Zunächst sah ich sie nur im Ausschnitt des Fensters – dann aber schien mir, als sei ich mitten unter ihnen. Wenigstens konnte ich allmählich das Zimmer rundherum von innen deutlich überblicken. Teufel ja. – Zuerst war es eine tolle Sensation – ich machte buchstäblich meine Visite.

»Wie bin ich eigentlich hineingekommen?« dachte ich und faßte mir an den Kopf. »Vermutlich durch das Fenster; jawohl . . .« Zugleich wurde mir der Gedanke an das Fenster schauderhaft peinlich. Abgewandten Gesichtes zog ich die Vorhänge vor – pfirsichfarbene Seidenvorhänge. Zusehends fühlte ich mich gemütlicher und zu allerhand Scherzen aufgelegt.

Ist etwas noch so fein gefertigt: unter der Lupe enthüllt es doch geheime Fehler. Und da ich nun gewissermaßen den »Röntgenblick« hatte, so boten die Herrschaften allerhand Überraschungen. Bis jetzt waren sie wie in einem umgekehrten Opernglas sichtbar gewesen. Ich nahm Platz auf einem Rokokostuhl, giftblau bezogen – eine durchaus rohe Attrappenarbeit, wie ich jetzt bemerkte –, und wartete. Die steifen Puppen warteten ebenfalls. Weiß Gott, es war eine erwartungsschwangere Atmosphäre. Der General war der einzige, der mir ins Gesicht blickte; es kam mir jetzt vor, als trage er einen erstaunten Ausdruck. Ich drehte ihn nach der Tür zu; er irritierte mich. – Endlich ging unten die Haustür. Es quietschte leise. Und dann hörte ich auf der Treppe, die seitlich an den Zimmern hinaufführte, leise Schritte, wie wenn Tropfen fallen . . . Oder war's nur mein Puls, der mir im Ohr sang?

Nein. Ich täuschte mich nicht. – Es war Marlies.

 

Es war, als sei sie ihrer Mutter ähnlicher geworden. Das Bild ihrer Mutter verschwamm jedenfalls mit dem ihren, als habe man zwei sich sehr ähnliche Gesichter übereinanderphotographiert. Dies war mein erster und letzter Eindruck von ihr, und es erstaunte mich nicht im geringsten. Sie ging ganz geschäftsmäßig, als sei sie in Eile, auf mich los und setzte sich mir kameradschaftlich auf den Schoß. – »Nun?« fragte sie und blickte mir gespannt ins Gesicht: – »hab' ich Wort gehalten?«

Sie war wie immer – nur hatte ihre Stimme einen anderen Klang und etwas wie unendliche Erfahrung leuchtete aus ihren Augen. Sie war kein Kind mehr; sie war immer alt gewesen; sie war uralt; trotz der kurzen Gastrolle »im Fleische« . . . Mein eigenes bisheriges Leben kam mir jetzt so vor wie eine verschollene Viertelstunde in unwürdigem Käfig voll verworrener Unlust, für die es keinen Begriff mehr gab . . . Deshalb erwiderte ich mit großer Selbstverständlichkeit:

»Das gehört sich auch so.«

»Anfangs« – fuhr sie fort und löste sich von meinen Knien – »haben sie mir ja Spaß gemacht.« – Sie blickte die Reihe der Puppengesichter entlang. – »Jetzt aber hab' ich schon den Geschmack verloren an diesem Teebesuch. Es ist eine Ewige Teegesellschaft, da hast du recht; was soll ihnen schon viel Neues einfallen. Und damit hab' ich mich zufrieden geben müssen – bisher.«

Ich zerbrach mir den Kopf, warum sie »bisher« sagte; wie lang war es denn schon her? Es war doch erst vor kurzem gewesen, daß sie . . . Nun, es herrschte eben eine andere Zeitrechnung hier. – Es mußte ja auch das veränderte »Format« ringsumher in Betracht gezogen werden . . . Deshalb war ich nicht indiskret genug, um Fragen zu stellen. Marlies mußte ja wissen, wie sie sich auszudrücken hatte.

»Jetzt komm' und hilf mir; wir wollen sie in Gang bringen! – Vielleicht finden wir noch eine neue Nuance!« Sie sprach geziert und altklug. – (›Kunststück‹, dachte ich, ›altklug zu sein unter diesen Umständen . . .‹) – Wir standen auf. Marlies ging auf nackten Sohlen im raschelnden fußlangen Hemd. Das Sterbekleid! Der Duft faulender Astern drang aus ihrem Körper. Sie hatte eine vertrackte Art, auf den vorderen Fußballen zu trippeln, und das Hemd gab nicht die Formen ihres jungen Leibes wieder, sondern fiel andauernd in steifen Falten herab. Zuweilen, wenn sie kniete oder stieg, knisterte es elektrisch in diesen Falten; auch drangen, berührte ich sie, Ströme in meinen Körper gleich sanften Nadelstichen. Sie aber tat, als sei das die natürlichste Sache von der Welt. –

Mit dem General fingen wir an; es war keine leichte Arbeit. Der Uhrenschlüssel wurde bei ihm, wie bei allen, in der Nabelgegend angesetzt; wir drehten gemeinsam. Das frühere leichte Zirpen erschien jetzt als großes Gerassel und Geknarz. Als wir mit der ganzen Runde fertig waren, sagte Marlies: »Puh! – Ich bin froh, daß ich's geschafft habe. Man wird nicht kräftiger in meiner Situation, Mark. – Nun drück' ihnen fest auf die Scheitelknöpfe, und dann nimm mich auf den Schoß. Es verlohnt sich; du wirst lachen müssen. Erschrick nicht über den Spektakel!«

Während ich die Federn auslöste, da ging es – das kann ich Ihnen sagen – zu wie in einem Tollhaus. Ein solch viehisches Geplärr stereotyper Redensarten hab' ich meiner Lebtag nicht gehört. Doppelt unheimlich war dabei dies gespenstische Auf- und Niederwogen von Gliedmaßen; dies Schnurren und Gerassel; – hier hoben sich Arme wie Mühlenflügel, dort ruderte ein Beinpaar. Zwei ganze Oberkörper wippten, und von überall her trafen mich rotierende Blicke, leer, erbost, schelmisch und tückisch aus lackierten Zügen. Jeder schien vom Ehrgeiz besessen, den anderen zu überschreien. Im vornherein war mir klar, daß die entfesselten Gewalten dieser wüsten Geselligkeit auf eine Katastrophe zusteuern mußten. Marlies schien es ja auch darauf anzulegen, daß man sich in »die Haare geriet«. Sie lachte dabei wie gequält; ich sah ihr perlweißes Gesicht auf und niedertanzen. Der Tisch schwankte; das Geschirr klirrte. Plötzlich fiel auch hinter mir – (als stehe das im Programm!) – der Diener um und röchelte, halb unter dem Tisch, sein fürchterliches: »Tee gefällig? Tee gefällig?« Mir war's, als müsse mein Kopf bersten. »Um Gotteswillen!« schrie ich. »Bring' sie zum Schweigen!«

Marlies stahl sich wieder zu mir heran.

»Liebling,« sprach sie dicht an meinem Ohr – darum verstand ich sie –; »Du weißt doch: es dauert drei Minuten . . .«

»Aber die sind längst um!«

»Daß du dich ja nicht verrechnest!« sagte sie voll Schadenfreude. »Hast du nicht selbst den Ausdruck geprägt von der ›Ewigen Teegesellschaft‹?«

»Mag sein . . . Aber ich halt' es nicht mehr aus . . .«

»Man kann sie nicht stoppen,« belehrte mich Marlies, »ohne sie kaputt zu machen. Aber wir können sie ins Parterre hinunterschaffen; dort fallen sie uns weniger auf die Nerven. Ich habe dir ohnedies wichtige Sachen mitzuteilen; ganz unter uns!« Sie machte verschmitzte Augen. »Da ist eine Falltür; die erspart uns die Treppe. – Schau' einmal hinunter!« – Ich hob die Falltür auf und blickte von oben in den Saal hinab, der die ganze Breite des Parterres einnahm. Er war leer; an allen Wänden waren Spiegel. In der Ecke stand ein Piano, dessen Tastatur eine einzige Oktave umspannte. – Drei Kronleuchter brannten.

»Also gut! Werfen wir sie alle in den Saal hinunter!« rief ich unternehmungslustig und war schon bei dieser Arbeit. Zarte Rücksicht gab es nicht diesen mörderischen Mechanismen gegenüber. – Die Zwillinge kamen zuerst dran. Auf ihnen landete die Gouvernante; sie bildete ihrerseits wieder die Unterlage für den General. Der grüne Soldat fiel angenehm weich auf den elastischen Filzbauch des Börsenmagnaten. – »No was denn?« schrie dieser, unentwegt weiter gestikulierend. Das Gastgeberpaar und den »geistigen Arbeiter« mit der Mähne feuerte ich hinterdrein, und als Schlußeffekt die beiden Dienstboten. Es war ein Gekrabbel und Tohuwabohu, als habe man einen Sack voller Maikäfer drunten aufs Parkett entleert. – Ich klappte die Falltür zu, und der Lärm dämpfte sich.

Auf einmal schien mir, als werde der Klang viel erträglicher. Verblüfft legte ich mein Ohr wieder auf den Boden. Was hörte ich denn? Was war denn das? Herrschte nicht eine ruhige, vollkommen menschliche Konversation dort unten? – Eine Täuschung war unmöglich . . .

– – – ». . . Exzellenz!« sprach eine spitzige Stimme (war das die Gouvernante?): »Sie verzeih'n; aber Ihr Antrag kommt mir so unerwartet . . .«

– – – »Ah bah!« erwiderte ein fettiger Baß unter klirrenden Orden, »immer schon Absicht jehabt, Attacke zu reiten! – Die charmante Jelejenheit . . .«

Die Schritte entfernten sich; neue tauchten auf.

– – – ». . . Sie werden sich das überlegen, junger Mann!« tönte ein gepflegtes männliches Organ – (der Gastgeber?) –: »Ihre politische Überzeugung ist solange nicht meine Sache, als sie sich in einigermaßen gesellschaftlichen Formen hält . . . Aber Herrn Kommerzienrat Trommelfell in meinem Hause zu beleidigen, das geht zu weit . . .«

Es trippelte. »Papa!« fuhren die Kinderstimmen dazwischen. »Wir dürfen doch heute ausnahmsweise bis zwölf aufbleiben?«

Pause.

Die Gouvernantenstimme, hingehaucht: »Ehe ich Ihnen mein Jawort erteile, Exzellenz . . .«

Grollendes Räuspern, stampfende Schritte. – Vorbei.

– – – ». . . Man fragt sich immer wieder vergebens,« dröhnte jetzt ein sonor ekstatisches Organ (das konnte nur der langhaarige Komponist oder Dichter sein), »wie sind wir hierhergekommen? – Ist draußen nur schwarze Nacht, oder gibt es viele Häuser wie dieses? – Und geht in ihnen Ähnliches vor? – Wird auch dort ewig nur Tee getrunken? – Ist dies alles nur (wie soll ich sagen?) leeres Theater? – Machen wir uns nur etwas vor?«

– – – »Junger Mann!« tönte die Backenbartstimme des Hausherrn. – »Sie Schelm, Sie philosophieren ja wieder . . . ›Macht eine Ewigkeit aus dem Augenblick!‹ – sage ich immer. ›Dann dauert er ewig!‹ – Kürze wird Würze!« – Es erhob sich Gelächter, als ob er einen wunderbaren Witz gemacht habe. – »Und jetzt, geschätzter Meister, geben Sie uns Ihre letzte Komposition zum besten!«

Daraufhin, in gespannter Stille, wurde auf dem Piano die eine vorhandene Oktave langsam hinaufgeklimpert.

Brausender Applaus.

Langsam kletterten die Töne wieder hinab.

Die Begeisterung stieg; das allgemeine Gespräch schwoll wieder an. Mir war übel; ich erhob mich vom Boden. – »Marlies,« fragte ich entsetzt, »was soll all dies irre Geschwätz? Bin ich wirklich im Tollhaus?«