Der Musterkoffer
Wo steigt man in Singapore ab?
Natürlich im Adelphi-Hotel. Wiewohl viel englisches Publikum dort verkehrt, ist man als »Fremder« – als »Europäer« schlechthin – nicht ganz isoliert, da auch andere Leute dort anzutreffen sind, die nicht das beneidenswerte Glück haben, britisch zu sein. – Dorthin also ließ Herr Zinkeisen seinen großen Kabinenkoffer und seinen Musterkoffer schaffen; er war nicht das erstemal, verstehen Sie, in Singapore, und kannte auch genau die Trinkgelder. Fröhlich ließ er sein völlig ausreichendes Gebrauchs-Malaiisch erschallen und wählte sich an der Werft selbst seinen Rikschakuli aus.
Die ersten Tage seines diesjährigen Aufenthaltes (man zählte Mai 1914) waren der Aufnahme alter Geschäftsverbindungen gewidmet. Um vier Uhr nachmittags von den Boys angemeldet, zeigte er sich in einer adretten Aufmachung, die nicht zu überbieten war, im Rahmen der hölzernen Verschläge, der tropischen »Empfangsräumchen«, im Hof des Hotels. Ebenso stämmig und seifig duftend erschien er auf den Wandelgängen des ersten und zweiten Stockes (durch deren Bögen man hindurch eine Aussicht auf den Platz der St. Andrews-Kathedrale genießt) und klopfte diskret in Kopfhöhe an den Klapptürchen. – Gewöhnlich war das Echo seines Erscheinens zunächst ein langgezogener Fluch; hierauf ächzte es noch, räusperte sich und spie Tabak, und endlich tönte eine gottergebene Stimme: »Come in...«
Ging Herr Zinkeisen dann wieder, so hatte er gewöhnlich die Herzen gewonnen oder doch zum mindesten den Humor dieser vertrackten Burschen, wie er die Engländer nannte, in Schwingung versetzt. Dies zeigte sich darin, daß eine grinsende Figur im Schlafanzug ihm gewöhnlich persönlich die Klapptür öffnete und ihn hinausgeleitete. Im übrigen schonten sie seine Würde nicht, die Engländer, beileibe nein. Sein Korrektheitsnerv hatte eine ziemliche Anzahl von Malen Gelegenheit, schmerzhaft zu zucken; und auf die geistigen Hühneraugen ihm zu treten, das liebten sie geradezu. – Aber wie schon angedeutet, nahm er das als Märtyrer des Völkerverständnisses schweigend entgegen, wie Schulterklapse des Schicksals selbst.
Daß er Edmund hieß, hatten sie herausgefunden. Folglich war er für sie »Parademarsch« oder »Goose-step-Eddy«. Witterten sie ihn in der Nähe – (saßen sie etwa in der Halle drunten und er erschien am Kopf der Treppe), so flüsterten sie an ihren Pfeifenmundstücken vorbei: »There ›floats‹ Goose-step-Eddy...«, über welchen Wortwitz sie sich lautlos amüsierten. – Inzwischen »schwebte« Zinkeisen herab; das heißt, er kam, indem er seinem Bürstchen selbstvergessen gezwirbelten Aufschwung zu geben versuchte, steif die Stufen herabgewandelt und durchquerte die Halle mit strammem Schwengelwerk kurzer Beine in bretthart gestärkten Leinenhosen, – leuchtend weiß, im übrigen von rosiger Appetitlichkeit. In kleiner Entfernung hinter ihm drein keuchte der Boy, der den klirrenden Musterkoffer trug. Leise so von Klirren begleitet, schönste Verklärung seines Typs, zog er blendend am Horizont vorbei.
Bei den Tischen angelangt, in deren Korbsessel die Engländer sich flegelten (die in Khaki oder in Putties steckenden Beine aufeinandergeschichtet oder durch Stuhllehnen oder Tischkanten in Schwebe erhalten), so machte er eine verbindliche Kopfneigung nach ihrer Richtung, lebhaft lächelnd, und sagte scharf: »Evening, gents«, worauf sie die hölzernen Finger an die Schläfen schoben und im Chor zurücksangen: »How d'ye do, Eddy.« – Es kam vor, daß er an ihren Nachmittagsgelagen teilnahm; es kam vor, daß er so recht eigentlich einer der Ihren sein durfte; daß sie ihn traktierten und sich von ihm traktieren ließen; daß sie ihn auf die Schulter schlugen und ihn »jolly good sport« nannten. – Das waren seine Höhepunkte, wenn er sich auch zuweilen bei ihren respektlosen Späßen innerlich krümmte. Das mußte eben in Kauf genommen werden.
Er hatte dann gewöhnlich, gleichsam zur Erholung nach dieser Anstrengung, noch eine zwanglose Unterhaltung mit dem irischen Buchhalter Maloney. Diesem gegenüber fühlte er sich ziemlich ungebunden. Schwebten ihm die Engländer als höhere Daseinsform vor, so erschien ihm Maloney, als in abhängiger Stellung und als Kelte, wie prickelndes Sodawasser, womit er den scharfen Brand der britischen Originalfüllung mildernd löste. – Und Maloney, gute Seele, nahm ihn blutig ernst und sparte nicht mit gutem Ratschlag sowohl Behandlung der Herrenmenschen betreffend als auch die Erholungsmöglichkeiten in dieser äußerst bunten orientalischen Stadt.
– – – Die Zenitsonne, die unbarmherzig ihre zwölf Stunden hindurch den dampfenden Hafen bestrahlt, geht zu Rüste. Steil hat sie ihre Lichtwellen herabgetrieben und alles in einen Brodem von Staub und Gerüchen gehüllt. Ebenso steil aufstrebend hat ihr das Leben Widerpart geboten mit dem leuchtenden Trotzdem, das aus Grundwassern sein Mark saugt. Doch auf dem Europäer lastet die funkelnde Faust wie ein Fluch. In kühle Steinhäuser verkriecht er sich; ins Dämmerlicht abgeblendeter Kontore; nur unersättliche Erwerbsgier vergewaltigt die matten Finger an Schreibmaschinen, zwingt das Hirn zum Kalkulieren und die widerwilligen Lippen zum Sprechen.
Nun ist das vorüber. Es geht gegen halb sieben Uhr. Die Sonne sinkt steil in den Westen: eine ungeheure, zerfetzte Orange, die langsam herabsackt, von einer Armee von Wölkchen belagert und verschlungen. Der Südwestmonsun hat sie regimenterweise aufgereiht, hat rhythmisch zum Sturm geblasen: nun kleben sie, unter seiner Peitsche erstarrt, als rillenartig gemusterter Fächer an einer Wand von Türkis. Und dieser Fächer glüht immer intensiver orangefarben; er schillert ins Rostbraun hinüber. und das grüne Blau weicht einem gleichmäßig bengalischen Gelb, vor dem alle Dinge sich schwärzen.
Dies ist nun so: alles Volk wird munter, wenn der Sonnenfluch erlischt. Endloses Gekrabbel und Geschrei erwacht in den Höhlen der Chinesen- und Malaienstadt, unter den Arkaden der blau und rot getünchten Häuser. Die Bazarbesitzer schöpfen Mut, und ihre schmeichelnden Plauderstimmen werden laut. Glücksspiele rasseln, Singsang durchwebt den Lärm. Der Staub setzt sich; Rikschas rollen. Farbig erwacht das Laster, mit roten Zähnen lächelnd, und geht, nacktfüßig tastend, vorgeschobenen Leibes, seine Bahn . . . Und überall brutzeln fahrende Garküchen.
Auch die Europäer werden munter und atmen auf. Denn diese Abendstunden sind die wahrhaft erträglichen, in denen man wieder Mensch wird; eine kühle Brise weht. Mit dem Sonnenuntergang fällt das Thermometer sprunghaft um sechs Grad . . . Noch ist es warm; aber der plötzliche Fall bewirkt ein rapides Verdunsten des Schweißes auf lechzender Haut, so daß man noch dazu nach einer Dusche ganz in wohlige Kühle gepackt ist.
Ist es schwarze Nacht (und keine Nacht ist so schwarz wie die Tropennacht, von silbernen, lichtschwachen Sternen durchstochen), so sitzt man auf der Terrasse und lauscht einer Kapelle von malaiischen oder Halfcast-Musikanten, die europäische Musik, wie sie's verstehen, vom Blatt spielen . . . Am besten gelingen ihnen noch bekannte Schlager. Verirren sie sich aber in »klassische« Musik, so verschwimmen sie in nie gekannten Rhythmen. Es ist, als ersticke man vertraute Klänge unter schwülem Tuch. Oder als lasse man die Weisen bei erschöpfter Grammophonfeder langsam krepieren. Wagners forsche Sinnenfreude wird zum quiekenden Chaos, und aus dem Klangkörper wird ein Klangkadaver, der sich dumpf zersetzt.
Und doch wird diese östliche Kränkelei, an der die Musik leidet, zu einer neuen Wollust – wenigstens für Herrn Zinkeisen. (Denn die Engländer nehmen, unmusikalisches Gelichter, tiefernst Notiz davon, als von gutgemeintem Begleitgeräusch zu ihren phantasielosen, silbenarmen Gesprächen.) Mit Zinkeisen steht es nämlich umgekehrt: den Tag über ist er munter und abends lässig träumerisch. Die Zenitsonne hat auf ihn den Effekt wie auf die Fische, die er draußen am Kalang oft freundlich betrachtet, wenn man sie füttert. Vor Gier in Schichten sich überstrudelnd, erzeugten sie eine wahrhaftige Brandung. – So erweckte der Sonnenpfeil in ihm zappelnde Lebendigkeit und war der Entladung seiner Energien nicht dämpfend schädlich, sondern im Gegenteil günstig. Von der schauerlichen Straffheit, die ihn mittags beseelte, wußten seine Kunden, die wie tote Fliegen umherlagen, ein Liedchen zu singen. Es war nicht ausschließlich nur der frische Geschäftswind wilhelminischer Energie, der durch die stagnierende britische Atmosphäre fuhr, sondern Zinkeisens persönliche Frische . . . eine fluchenswerte Frische, die keine Kompromisse kannte . . . Und mit der Wichtigtuerei, von der er besessen war wie ein hastendes Insekt, ärgerte er alle Welt bis zum Weinen. – Dann, wenn es kühl wurde, wenn er sich hätte gehen lassen dürfen, wenn jedermann es ihm verziehen hätte, daß er sich laut austobte. – – ja, dann machte er es gerade umgekehrt als seine Umgebung; er »baute ab«. Saß schlaff und träumte. Wurde weich und schweigsam. Innig gleichsam. So wenigstens sah es aus.
In Wahrheit war es etwas anderes. Zu seinem Gefühl tagsüber restlos erfüllter Pflicht trat allabendlich ein seine ganze Person derart durchtränkendes Selbstbewußtsein, daß er mit Mühe an sich hielt, um nicht keck zu werden. Er hatte Geld in der Tasche, war ein unabhängiger Mann. Weißer war er, Europäer im weitesten Sinn, der die farbige Stadt in die Tasche steckte. Auf einmal kamen die Engländer nur noch als Auch-Europäer in Betracht. Unter diesem Gesichtspunkt blähte sich abends, was klein war, und schrumpften die Tagesgötter. Man geriet aufs gleiche Niveau und stand, sofern man weiß war, hübsch in Reih und Glied. Dann wurde das trocken gehaltene Pulver von Potsdam bündig gegen den Union-Jack gesetzt . . . Schach gegen Schach. Dann verschwanden die feineren Unterschiede; man war eine geschlossene Front und bot dem Osten Trotz. In diesen verträumten Völkerbund, der im Hirn Zinkeisens nistete, wurde aus dem Süden nur noch Mijnheer hineinbezogen . . . Dann, nach Verschweißung dieses Trios, war Schluß.
Kein Wunder, daß »Eddy« sich abends auch am natürlichsten benahm. Da gab es kein geschmeicheltes Aufzucken mehr unter einem Schulterklaps. Er lebte und ließ leben.
Am Vorabend des Tages, an dem sein Schiff nach Bangkok ging, um ihn nach einigen Stationen in Vorderindien der deutschen Heimat wieder zuzutragen, speiste er noch mit einem besonderen Genuß auf der Gartenterrasse des Adelphi. Er hatte guten Grund, mit den Ergebnissen seiner Tätigkeit zufrieden zu sein.
In seiner Nähe saß ein junger Beamter, dem man ansah, daß er zur Garnison gehörte. Seine blauen Augen wirkten in der satten Bronzefarbe seiner Züge, unter der falterumtaumelten Bogenflamme, schier lila. Er war sehr schlank und groß; ein Prachtexemplar. Jede seiner Bewegungen verriet, daß er seinen Körper unablässig trainierte. Vermutlich war er als Hafenbauingenieur bei den Pionieren tätig; dies war die Kompagnie, an die die radikalsten körperlichen Anforderungen ergingen. Er schien im Alter des Betrachters, beiläufig siebenundzwanzig Jahre alt.
Geräuschvolle Lustigkeit herrschte an jenem Tisch; offenbar wurde ein Geburtstag gefeiert. Major Prendergast (diesen Namen entnahm Zinkeisen ohne Mühe dem Gespräch) schien jedoch nur gezwungenerweise mitzumachen. Er stützte mehrmals seine Stirn in die Hand, an der, wie ein Blutstropfen, ein Siegelring mit einem großen Karneol blinkte. Angeprostet, riß er sich zusammen und mimte den Fröhlichen; es war erstaunlich, welche Quantitäten von Alkohol er zu sich nahm ohne sichtbare Wirkung.
Zinkeisen spürte eine gewisse Sympathie für diesen Mann, ohne genau bei sich zu erforschen, weshalb. Er ließ sich nur von seiner träumerischen Paschastimmung ins Grenzenlose dahinschwemmen, und so mochte ihm eine Art von Allgefühl, eine brüderliche Tendenz zum allgemein Menschlichen, unterlaufen . . . Dies Empfinden wurde leis materiell unterstrichen durch das aristokratische Äußere des jungen Majors, durch die gewissermaßen hilflose Partie seines schmalen, eckig vorgeschobenen Kiefers, gepreßten Mundes. ausladenden Hinterkopfes. – – – Ja, dieser war eindeutig genug behaftet mit Symptomen einer Herrenrasse, und zweifellos erwartete alle Welt, daß er sich entsprechend benehme. Irgendwie war es tragisch, so abgestempelt zu sein –, aber erhebend zugleich. Vor so etwas Abgerundetem mußte man den Hut ziehen.
Herr Zinkeisen ließ sich durch seine Stimmung hinreißen, sein Augenmerk auf die Gruppe etwas zu deutlich zu richten – den Kopf, wie er's selten tat, schief geneigt, so daß der scharfkantige Kragenrand tief in die Halshaut schnitt und die sanfte Strenge seiner Augen durch Güte gemildert wurde. Man ertappte ihn dabei. »Hello, Eddy!« rief man. – »Here 's to you!«
Alle am Tisch wandten die Köpfe und hoben die hohen zylindrischen Gläser; man rief noch weiter Nettes, schüttelte dann gurgelnd das Getränk hinunter; Sodabläschen platzten an rasierten Lippen; dunkle und graue Augen feuchteten sich . . . Herr Zinkeisen fuhr zusammen, sagte: »Same to you, gentlemen«, und trank seinerseits. Nicht ohne kleinen Mißton in der Seele erwischte er sich dabei, daß er die Hacken seiner ausgeschnittenen Lackschuhe klappend unter dem Tisch zusammenschießen ließ. Den Sperberblick auf die Gesellschaft gerichtet. tat er gewaltige Züge; dann stemmte er mit rechtwinklig geknicktem, wagrecht zur Seite gestoßenem Ellenbogen das Glas eine Sekunde in die Luft, vor seine Nase, bevor er es knallend niedersetzte.
Man genoß diese unbewußte Geste außerordentlich. – »Good pull, eh!« rief man hinüber, voll gedämpfter Anerkennung. – Mr. Prendergast nahm ebenfalls Notiz, jedoch auf eine so unbeteiligte Weise, daß man sofort erriet, seine Gedanken seien durchaus nicht auf den strammen kleinen Deutschen gerichtet, sondern auf wesentlich Bedeutsameres. Wenigstens war Herr Zinkeisen für ihn aus Glas. Vielleicht aber war der Major nur sehr betrunken, bei völliger Beherrschung seiner Bewegungen. – Auf einmal, gänzlich unvermittelt, rüstete er zum Gehen.
»Come on«, rief man hinter ihm drein, und noch einiges des Inhaltes, er solle seinen Gram versaufen und sich nicht närrisch aufführen; so ein Kerl wie er hätte tausend andere Möglichkeiten, und was solcher herzhaften Zurufe noch mehr waren . . . aus denen Herr Zinkeisen vielleicht nicht mit Unrecht schloß, der junge Mann leide an Liebesgram. Da er keine Lust hatte, sich ein neues Glas zu bestellen, unterschrieb er den Quittungszettel für die genossene Mahlzeit und beschloß, sich noch zu verlustieren.