Gesicht der Zeit
Bevor er sich an diesem Abend auf den Heimweg machte, tat er etwas, was ganz gegen seine Gewohnheit war. Er ging in die Bar des Hotels und erstand sich von dem erstaunten Barkeep, der gerade seine Schränkchen schloß und seine Mixbecher ausschwenkte, eine Flasche vollwertigen schottischen Whiskys, für den er ohne Wimpernzucken nach oberflächlichster Zählung, einen Packen Papiergeld auf die Kredenz warf. Er versenkte die Flasche in seinem Ulster und machte dem Büro noch den gewohnten Besuch. Mechanisch nahm er Tagesgehalt und Bilanzheft in Empfang und ging dann zu Fuß hinaus.
Eine lange Kette staute sich auf dem regenbenetzten Asphalt, der die letzte abgedämpfte Helle des Hotels verschwommen zurückwarf. Ein feiner Rieselregen hing seine Perlenschnüre vor die Bogenlampen. Der Platz, umsäumt von Spekulationsbauten, die wie Pilze aus dem Boden geschossen schienen, schimmerte noch in dumpfem Licht, als habe sich der ganze Lebenstrieb der Großstadt an dieser Stelle eingenistet. Im übrigen lagen die Straßenschluchten kellerhaft spärlich beleuchtet. Die Stadt gemahnte an den eingegrabenen Leib eines Fakirs, auf dessen Scheitel an einer winzigen Stelle die Vitalität als matter Puls fortbesteht. In würdige alte Fassaden hatte sich die Krankheit der Zeit eingefressen als billig blaßblauer und rosa Stuckbewurf, schon im Entstehen schimmelnd, über gestrigen Kinos und Tanzdielen. Aus muffigen Lokalen drang noch der zirpende Geigenlaut träger Genußsucht.
Der Regen störte Herrn Zinkeisen heute nicht, ebensowenig die Entfernung, die er zu Fuß zurückzulegen gedachte. Ihm war, als werde er mächtiger an einen Entschluß hingedrängt . . . Dieser Entschluß, fast geburtsfertig ausgetragen, regte sich bereits im gewölbten Bauch der Flasche, die er im Mantel trug. Der ganze Rest seines Temperamentes, über das er noch verfügte. würde gleichzeitig herausgelockt werden und vielmehr noch unendlich viel mehr . . . Der Zaubertrank wird heute nacht halberloschene und niedergepflügte Jahre wieder lebendig machen; keimhaft regt sich darin schon das Kaleidoskop von früher, so wie man chinesische Blnmenschnittchen ins Wasser wirft, die sich unerwartet bunt entfalten.
Sein Leben war ja so kahl wie dieser Asphalt, den das kalkweiße Licht ärmlicher Bogenflammen bestreute, in so weiten Abständen, daß dazwischen immer wieder ein Tasten durch beklemmendes Dunkel daraus wurde. – Wie lange er so ging, wußte er nicht. Er schritt in einer schwebenden Sicherheit dahin, sich aus dem Gefängnis loslösen zu können, nach Bedarf, nach Laune, vielleicht mit einem brutalen Ruck . . . War dies nicht alles Gefängnis und Kerkerzelle? Das Hotel nicht nur, sondern auch diese Häuserzeilen? Diese kahle und schmutzige Pracht, der das Blut entzogen war?
Schlecht gekleidete Kokotten streiften ihn und blickten ihm mit ihren Gesichtern wie mit verwischten Flecken nach. Kokainheisere Stimmen lockten ihn an jeder Straßenecke. Auch junge Burschen boten sich ihm an. Er bemerkte sie erst, als aufglimmende Zigaretten an einer grauen Hauswand ihre jungen zerfallenen Züge glühwurmhaft beleuchteten; – gleich waren sie wieder mit dem Elend verschmolzen und mit dem Rieselregen der Mitternacht . . . Dies war nun Deutschland.