Herr Brecht hat Grund, sich zu wundern

»Das genügt«, hatte der eingebildete Bursche gesagt.

Der saß nun im Rauchzimmer, das er gepachtet, in einem Stuhl, den er gepachtet, und blies seinen Rauch gegen die Stuckdecke.

Ein Herrenbenehmen, kann man wohl sagen, eine verdammt selbständige Art . . .

Herrn Zinkeisens Gemütserleichterung hatte nicht den gewünschten Erfolg. Seine Brust unter dem tadellos gestärkten Hemdeinsatz atmete beklommen. Eine Faust preßte sein Herz langsam zusammen wie bittersüße Qual. Diese Pulsbeschleunigung dauerte an; er spürte sie in den Fingerspitzen. Die Unlustgefühle ob des ergebnislosen Interviews wuchsen sprunghaft. Er hielt sich noch ein Stündchen im Saal auf, stellte die »Fassade« und »wirkte«. – Dann aber, fühlte er, könne er den inneren Zusammenbruch nicht länger vertuschen und empfahl sich vom Schauplatz in unantastbarer Haltung.

Er ging zum Büro und fand den jovialen Herrn Brecht damit beschäftigt, Geldkursberechnungen aufzustellen. Breit, wie ein gesättigtes Amphibium, beide Ellenbogen aufgestützt und den Bauch mit der seidenen Weste gegen die Kante des Tisches gepreßt, lag dieser Herr über den Papieren, und in seinen slawischen, leicht tränenden Schlitzaugen war ein glückverlorenes Lächeln entstanden.

Ohne aufzusehen, winkte er mit dem Bleistift. – »Kleinen Moment«, murmelte er. – »Ich bin gleich fertig.«

Der Aufseher ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen, so schwer, abschließend und gelockert, daß der Buchhalter flüchtig aufblickte.

»Müde, was?« grunzte er. – »Kleinen Moment bitte.«

Schnaufend saß Herr Zinkeisen da und blickte stier auf jene fette rötliche Hand, die eine zierliche Kritzelschrift am Rand des Papiers entstehen ließ. Ein großer Brillant warf im Schein der Tischlampe scharfe Lichthiebe in das Dunkel.

Wie hypnotisiert folgten seine Augen den spärlichen Bewegungen, und ohne daß er's verhindern konnte, hatte sich aus dem Tröpflein Galle lawinenartig eine anschwellende Wut entwickelt, die ihm den ganzen Menschen zu sprengen drohte.

Diese Wut richtete sich nur teilweise auf Herrn Brecht. Dieser war ja eigentlich nur ein Statist, wenn auch ein in den Vordergrund geschobener. Erfüllte die ganze Umgebung den Aufseher schon mit Abwehr und Schmutzempfindung, so gab es ein Loch, in das alle diese Leiden hineingesogen wurden. Das war das runde, satte und gleichgültige »No« des Mannes im Klubsessel draußen im Rauchzimmer; jenes Mannes, der auf dem kranken Leib Europas mit der Reitgerte hockte und Rauchringe dazu blies.

Man ist ja nicht von seinem Schlag, das gibt man ja zu . . . dachte Herr Zinkeisen dumpf. – Aber ein bißchen sehr plötzlich wird man auf die eingeseifte Rutschbahn gesetzt und landet weiß Gott wo. Verdient habe ich das nicht. Das ist mehr als Eitelkeit; mehr als Selbstgefälligkeit; das ist verdammte Provokation. Als ob er nicht gleich mir über den Scherbenberg hätte hinüberklettern müssen! Er hat es leichter gehabt mit endlosen Konserven und Güterzügen voll guten Tabaks hinter sich. Ich habe ihn den ganzen Krieg über ehrlich beschossen, und er hat mir sein ehrliches Dynamit zurückgeworfen; allerhand explodiert ist zwischen uns. Nun aber ist das Match ganz und gar vorbei. Was berechtigt diesen Burschen, mir ungebeten die Würmer aus der Nase zu ziehen?

»Kleinen Moment, bitte«, grunzte Herr Brecht und zog Schlußstriche unter seine Zahlenkolonnen.

›Ich bin ein Mensch,‹ ging Herrn Zinkeisens trübe Überlegung weiter, ›der was auf sich hält. Keiner, und mag er herkommen wo er will, hat die Berechtigung, mir krumm an den Wagen zu fahren. Tue ich nicht meine Pflicht? Man ist doch solid, man hat doch zu dem ganzen Unfug nichts beigetragen! Im Gegenteil, geglättet hat man, wo man konnte, Sprachen gelernt, mitgemacht . . . Gibt wohl wenige wie mich, und nun auf einmal kommt einer von denen da‹ – Herr Zinkeisen machte eine Daumendrehung nach dem Westen – ›und will mir erzählen, wer er ist . . . Reibt mir unter die Nase, was ich in seinen Augen bin, als sei es eine Schnupfprise, und verabschiedet mich wie einen kleinen Laufjungen . . . Das hätte mir damals passieren sollen! Das hätte mir nur passieren sollen!‹

Er war aus seiner Lethargie erwacht; er sprach die letzten Worte laut in das kleine Büro hinein. Herr Brecht, der sie als Anrede mißverstand, zuckte zusammen und verrechnete sich um einige Dezimalstellen.

»Wie, bitte?« fragte er halb abwesend.

Herr Zinkeisen war genau so erschrocken. – »Nichts«, stotterte er. »Man plaudert ein wenig mit sich selbst, während andere verdienen . . .«

»Ja!« schrie der Buchhalter jetzt fröhlich und klappte sein Hauptbuch zu. »Dann ist man ja auch in ehrlicher Gesellschaft. Die einzige Ansprache, bei der man auf seine Kosten kommt! – Aber, Zinkeisen, Sie machen mir einen versonnenen Eindruck. Was ist denn mit Ihnen los, alter Knabe, seit vorgestern? Erzählt man mir nicht, daß Sie anfangen mit dem Alkohol zu äugeln? Klopfen Sie dem Liftjungen einmal kräftig auf den Arsch, er verdient es, das Rotzmaul . . . Und nun, wie steht's sonst? Wollen Sie auch ein kleines Geschäftchen machen? Ich kann mir ja denken, wie schwer es ein ehrlicher Mensch haben muß . . .«

Eine merkwürdige Wandlung ging in Herrn Zinkeisen vor. Unter anderen Umständen wären ihm die weindunstenden Worte, die zwischen den Goldplomben dieses satten Mundes hervorquollen, als Herausforderung erschienen. Heute jedoch nahm er alles auf die leichte Achsel. Er fand sich erschreckend leicht in den Ton hinein.

»Ganz treffend, was Sie da äußern«, sagte er mit seiner schneidenden Hamburger Stimme. »Sie haben es erfaßt. Das ist mir gestern schon klar geworden. Ich habe mir allerlei überlegt in der jüngsten Zeit. Schwerwiegendes, meine werte Person betreffend. Sie haben recht, daß Sie Devisen hamstern. Ich bin ein Esel, daß ich's nicht selbst getan habe.«

»Das ist doch wohl zuviel gesagt«, beruhigte Herr Brecht. Er reichte eine große Zigarre hinüber, und in seinen schiefen Augen glomm Erwartung.

»Nein, nein, keine Beschönigung. Es wird einem nichts geschenkt. Aber es wird Sie weiter nicht erstaunen, wenn ich den Kram nunmehr über die Schulter werfe.«

»Wie bitte? – Über die Schulter werfe . . .?«

»Ich baue ab, damit Sie mich richtig verstehen. Ich kündige. Nicht heute und nicht Ihnen; aber es muß sein, daß ich's Ihnen sage; morgen komme ich hier herein und kündige, und damit Gott befohlen.«

Herr Brecht war so verblüfft, daß ihm die Zigarre langsam aus den Lippen glitt und mit dem glühenden Ende voran auf dem Tisch landete, Asche verspritzend. Er säuberte seine Umgebung mit Gepuste und Gewische. Dabei dachte er angestrengt nach. Ein toller Fall war dies, eine psychologische Angelegenheit. Wenn ein Seelöwe plötzlich, Flossen voran, durch die aufkrachende Tür ins Büro gefallen wäre, er wäre kaum verblüffter gewesen. Aber er war ein Mann der praktischen Vernunft und brauchte nicht lange, um sich zu fassen.

»Das kommt mir überraschend«, sagte er endlich. »Sie wissen, man wird Sie sehr entbehren, und wie gedenken Sie . . .«

»Ich gedenke vorläufig einfach abzubauen, durchzubrennen, wegzureisen . . . Über die Grenze . . .«

»Aha! Also doch Amerika!«

»Nein. – Vermutlich Indien. Zunächst einmal als Obersteward. Muß mich eindecken, und dann bliebe ich unten. Verhungern wird man nicht.«

»Hm – hm«, meinte Herr Brecht nach einer Pause. »Die Idee ist gut. Haben Sie Beziehungen? Glauben Sie . . .?«

»Es wird schon gehen«, sagte Herr Zinkeisen streng. »Man weiß doch, wer man ist und an wen man sich wendet.«

»Schön, daß Sie das alles schon wissen. Ich wollte, mir ginge es ähnlich. Na, und Ihre Frau Gemahlin?«

»Das ist noch ein anderer Punkt«, sagte Herr Zinkeisen und schluckte mehrmals hinunter. »Ich bin geneigt, meine Frau einige Zeit sich selbst zu überlassen. Hier ist eine Gelegenheit für Sie, zu einer einwandfreien Buchhalterin zu kommen. Das wird Sie entlasten, Herr Brecht. Meine Frau beherrscht die Routine, sie stenographiert, sie tippt wie ein Sturmwind, sie erledigt Ihre Korrespondenz und Sie haben dann mehr Zeit für sich selbst?«

Herr Brecht glotzte ihn an. Dies war die zweite Überraschung, und was für eine!

»Und Ihre Frau würde hier . . .«

»Ganz richtig«, sagte Herr Zinkeisen. – »Hier im Büro würde sie sein. Sie wären ihr Vorgesetzter. Die Festsetzung des Gehaltes wäre« – und er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte – »Ihnen überlassen.«

»Sie wissen,« sprach der Machthaber, »ich war immer Ihr Freund, Zinkeisen.«

»Ich weiß ein Vertrauen zu schätzen. Wir reden nicht weiter darüber«, äußerte der andere im selben schwebenden Schulmeisterton. »Wir reden kein Wörtchen darüber. Sie werden sie gut behandeln, und ich verdufte auf einige Zeit. – Ich brauche Seeluft und Leute von Welt.«

»Originell . . .«, bemerkte nun, völlig erholt, Herr Brecht und schlug sich auf den von gestreifter Hose prall umsponnenen Schenkel. »Ich bin ganz erstaunt, Zinkeisen, daß Sie so praktisch denken! Natürlich machen Sie das! Was sollten Sie auch sonst machen! Das Naheliegendste!« Er drückte auf eine Klingel, die unter der Tischplatte eingelassen war. Dem hereintretenden Kellner gab er den Auftrag, eine Flasche Sekt mit zwei Gläsern zu bringen.. Munter geschwellt, erhob er sich von dem drehbaren Sessel und schritt an der Wand hinter dem Tisch hin und her. In leichtem Plauderton warf er des weiteren hin: »Dachte ja immer schon, Sie müßten einmal Vernunft annehmen. Gerade Ihnen, so dachte ich, müßte der ganze Betrieb einmal aus dem Hals herauswachsen. Grundvernünftige Kalkulation das Ihrerseits Zinkeisen. Sehen Sie, und dann kommen Sie einmal zurück, wenn wir stabilisiert sind, und dann sind Sie vielleicht derjenige, der uns alle in die Tasche steckt . . .«

Herrn Zinkeisen entging diese gute Laune nicht. – Aber es war ihm fabelhaft gleichgültig.

»Sie haben mir«, sagte er, »gestern so dringend nahegelegt, Devisen zu kaufen. Gestern hatte ich das Gefühl, es sei noch nicht nötig, da ja am selben Tag herausfliegt, was der Tag bringt. Doch heute sieht das Thema anders aus, und wir werden uns verständigen. Ich habe natürlich Spesen, bis ich eine neue Position finde, und dann ist es angemessen, mich wertsicher einzudecken.«

Der Kellner erschien mit der Flasche Sekt. Herr Brecht schenkte die Gläser voll. Dann erhob er das seine anstoßenderweise und sagte schallend: »Na, prost. – Wieviel brauchen Sie denn?«

»Sie kennen mich. – Ich glaube, daß man mir Kredit einräumen kann.«

»Selbstverständlich. – Sie sind die Seele der Korrektheit . . . Die einzige noch nicht geborstne Säule, die von verschwundner Pracht zeugt . . .«

»Sagen wir – fünfzig Dollar.«

Herr Brecht verschluckte sich ein wenig, hustete und schloß die Augen. Er sah aus wie ein meditierender tibetanischer Mönch.

»Eine unerhörte Summe«, flüsterte er.

»Bin ich Ihnen nicht gut für fünfzig Dollar?« fragte Herr Zinkeisen eindringlich mit aufgerissenen blauen Augen.

»Eine tolle Summe.«

»Können Sie denn die Schublade überhaupt noch aufkriegen, so voll gepfropft haben Sie sie bereits . . .?«

»Danke!« sagte Herr Brecht jetzt geschäftsmäßig und blickte nach der Schublade wie nach einem verdächtigen Gegenstand – »danke, mit einiger Mühe, ja.« Zögernd faßte er nach den Schlüsseln in der Hosentasche, und während er wie selbstvergessen noch damit klimperte, blickte er plötzlich auf.

»Wann übrigens – wird Ihre Frau den Posten antreten?«

»Übermorgen.«

»Ganz recht. – – Natürlich steht Ihnen das Geld zur Verfügung. – Wollen Sie bitte eine kleine Quittung unterschreiben und mir auch die Namen von Leuten angeben, – – sollten Sie unerreichbar oder unabkömmlich sein . . .«

»Gewiß.« – Herr Zinkeisen schrieb eine vorbildliche Quittung, die der Buchhalter leger in seine Tasche versenkte. Hierauf zählte er ein Bündel von fettigen grünen Scheinen ab und überreichte sie ihm.

»Mein heutiges Gehalt von zweieinhalb Dollar gleich zehn Millionen wird gleich abgezogen. – So sind es nur noch siebenundvierzig Dollar und fünfzig Cent«, sagte Herr Zinkeisen langsam und korrekt. »Im Notfall setzen Sie sich vielleicht mit meiner Frau auseinander, wie meine übrigen Werte zu verflüssigen wären . . .«

»Nanu, Werte?«

»Sagen wir einige erstklassige Möbel, ein Wohnrecht, manches andere . . .«

»So, erstklassige Möbel?«

»Schöne Bilder«, fügte Herr Zinkeisen schnell ein. »Reizend gehäkelte Decken . . . Die Möbel sind gut gefedert . . . Das Bett, zum Beispiel, Herr Brecht! – ist beste Messingware . . .«

»Hmm. – Das ist ja schön. Aber Sie sind mir gut für drei Jahre mindestens.«

»Bestimmtestens«, versetzte Herr Zinkeisen. »Auf alle Fälle werden Sie entschädigt.« Er stand auf, trank sein Glas mit einem Schluck leer, gab Herrn Brecht einen biederen Händedruck, verbeugte sich kurz in der Tür und ging ab.

Der Buchhalter saß bewegungslos da und blickte mit zusammengezogenen Lidern auf den breiten Rücken, der sich entfernte. Die Zigarre, von seiner Zunge gewälzt, rollte langsam von einem Mundwinkel zum andern.