Zeitgemäßes Zwiegespräch

mit einem gewissen Dichter-Kompositeur; einstigem
Königlich-Preußischen Kammergerichts-Rath
zu Berlin

            Der du die Bürgersitten überrennst:
bist wieder da, Du schwärmendes Gespenst?

Thronst immer noch, wie Väterchen zu Rom,
in Deinem Ohrenstuhl, Du toller Gnom?

Genügte nicht – (hier steh' ich schier verwundert) –
zu Deinem Tod ein »skeptisches« Jahrhundert?

Und konnten Kritiker nicht längst erdolchen
Dich flüchtigsten von allen Feuermolchen?

Antwort:

Verehrter! – Fragen Sie nicht gar so töricht.
Ich bin unsterblich wie der Wind im Röhricht.

Ich bin das Pneuma; – bin die Phantasie.
Und diese, Bester, mordete man nie.

Auch jene Altersweisheit schwerkalibrig
– in Weimar – ließ das Beste von mir übrig.

In neuer Flamme – und die Zeit ist reif! –
zuckt unversengt mein Salamander-Schweif.

». . . Denn herunter muß es, Herr Doktor, von der Seele, was der Mensch erlebt hat; und wenn er steinalt wird, es gibt Dinge . . . Dinge gibt es, und Zufälligkeiten, kaum zu beschreiben

(Ausspruch Herrn Zinkeisens.)

Der kleine Tabakladen

Vor einigen Wochen wurde ich mitten in der Stadt von einem Platzregen überrascht. Eine Trambahnhaltestelle war nicht in der Nähe, und so entschloß ich mich, in einen Tabakladen einzutreten, einen kleinen Einkauf zu machen und zu warten, bis das Ärgste vorüber sei.

Der Laden war von einer strahlenden Sauberkeit; die Ware bot sich symmetrisch und gefällig dar; und wiewohl das Geschäft nicht zu überlaufen schien, herrschte blankgeputzte Ruhe darin und denkbar beschaulicher Mangel jeglicher Überstürzung. Zu diesem Eindruck trug der Inhaber bei, der mir bei der Auswahl der Zigarren half. Sein Organ klang hanseatisch hell; seine Bemerkungen waren von freundlicher Sachlichkeit.

Unter Mittelgröße, fast plump gebaut, hatte er durch seine ruhige Bestimmtheit etwas irgendwie Autoritatives, ja, in bescheidenem Sinn Respekteinflößendes. Seine blauen Augen blickten besinnlich; sie erhielten dadurch, daß das obere Lid ganz unter der Brauenfalte verschwand, bescheidene Schärfe . . . Gekleidet war er in einen schlohweißen, gestärkten Leinenmantel, unter dem zuweilen der hellgraue Stoff des Anzugs hervorsah. – Und ausgerechnet bei diesem patenten kleinen Ladeninhaber, diesem Besitzer einer vernickelten Registriermaschine, mußte es mir passieren, daß meine Barschaft restlos ausgegangen war, als es ans Zahlen ging. Sehr peinlich war mir das, das muß man mir glauben. Ich hatte ihn in Bewegung gesetzt, hatte ihn bemüht in seinem weißen Leinenmantel, hanseatisch propre Geschäftigkeit veranlaßt, und nun sollte das alles mit einem Fiasko enden! – Ich sagte »Donnerwetter«, oder Ähnliches, und durchsuchte meine Taschen. Er merkte das, wickelte das Paket aber ruhig ein, machte ein Daumenschleifchen an die Schnur und sprach: »Denn können der Herr ja das nächste Mal bezahlen.«

»Scheußlich unangenehm . . . Ich lasse es hier . . .«

»Nichts dergleichen«, entschied er mit seiner hellen Stimme. »Sie nehmen es ruhig mit, mein Herr. Nur, zur Formalität, Ihren geschätzten Namen; den können Sie mir ja wohl mitteilen; denn schick' ich Ihnen gelegentlich mal eine Offerte . . .« Er sagte es sehr nett; als er meinen Namen aufschrieb, wurde er jedoch nachdenklich.

»Sind Sie vielleicht, mein Herr, identisch mit dem Schriftsteller dieses Namens?«

Leicht geschmeichelt, daß solches in diesen kleinen Tabakladen gedrungen sei, bestätigte ich's. – Und nun wurde er ganz anders; er verfiel in jene Mischung von Hoch- und Niederdeutsch, die man »messingsch« nennt; er zählte mir einige meiner Aufsätze auf, die er gelesen habe; bei Gott, er kannte sie wirklich; fremde Namen glitten ihm glatt von der Zunge; seine Beschlagenheit verwirrte mich. Mit leichtgeröteten Zügen rezitierte er ein oder das andere Satzgebilde, das ihm hängengeblieben sei; Schilderungsdetails, die er, mich mit seinen Dachaugen durchbohrend musternd, als »gut gesehen« pries . . .

»Mein Name«, fügte er scheu gewichtig schließlich ein, »ist Zinkeisen; Edmund Zinkeisen. Damit eine gegenseitige Vorstellung daraus wird. Sie werden sich, Herr Doktor, vielleicht wundern, daß ich mit einem Schimmer von Sachkenntnis über Ihre Artikel zu urteilen mir die Freiheit nehme. Ich kenne nämlich die Gegenden, die Sie so treffend schildern, gewissermaßen aus eigener Anschauung, wenn Sie erlauben. Und Sie werden begreifen, mit welcher Andacht ich mich hineinvertieft habe . . . ›Wenn du doch‹, so sagte ich oft zu mir, und auch zu meiner Frau sagte ich das, ›diesen Herrn Verfasser einmal persönlich sprechen könntest . . . dann könntest du Erinnerungen tauschen an die bedeutsamste Zeit deines Lebens; dann wäre dir leichter . . .‹ Denn herunter muß es, Herr Doktor, von der Seele, was der Mensch erlebt hat, und wenn er steinalt wird, es gibt Dinge . . . Dinge sag' ich, gibt es, und Zufälligkeiten, kaum zu beschreiben. Darf ich mir gestatten, Ihnen diese Havannazigarre anzubieten? Brennt sie? So . . . so . . .« Mit finsterem Interesse sah er zu, wie ich mich bediente.

»Sie waren also auch in Indien?«

»Nicht nur in Indien«, sprach er fast flüsternd. »Viel, viel weiter . . .« Es war, als raune er über einem Schatz, der eifersüchtig behütet aufblinkte. Auf einmal, schneidig wegwerfend: »Ich habe den Rahm abgeschöpft! Ich war sechs Jahre bis zum Krieg ununterbrochen unterwegs! Ich habe mein Erlebnisschäfchen im Trockenen! – Nun, Herr Doktor, habe ich eine Bitte an Sie: würden Sie mir heute die Ehre und das Vergnügen machen, zum Abendbrot mein Gast zu sein? Eine Flasche importierter Jamaikarum? Wie? Ein kleiner Grog in diesem kalten Mai? – Dann kann ich Ihnen etwas zeigen, was Sie in Erstaunen setzen wird. Das macht die Wertschätzung, verstehen Sie!«

 

Es war am Abend. – Auch in seinen Wohnräumen herrschte jene auffallende Sauberkeit. – Es war bieder-bürgerlich und nett. – Eine mollige, blonde Frau begrüßte mich. – Nach dem Essen blieb man noch eine Weile bei einer Tasse guten Mokkas plaudernd beisammen; – dann gab der Hausherr seiner Frau ein offenbar vorher verabredetes Zeichen.

Sie brachte einen Spiritusapparat mit bereits heißem Grogwasser; Herr Zinkeisen bereitete das Getränk mit zeremonieller Sachlichkeit und so nördlich, daß das ganze Zimmer duftete und zur Koje wurde, mit dem »Pochen großer Wasser drei Handbreit hinter der Wand . . .« –

Dann ging er noch nach vorn in den Laden und brachte folgendes mit: – zwei »Cheeroots« mit giftgrünen Leibbinden und eine runde Büchse »Capstan«Zigaretten. »Dies stammt noch von . . . damals«, sagte er sinnend. »Diese Zigarren – sehen Sie – diese perfekten Walzen! – rollen die indischen Mädchen auf ihrem sonnenwarmen Schenkel. Schwer und schwarz und stark . . . Man verträgt sie nur nach der Mahlzeit . . .«

»Bemühen Sie sich nicht!« sagte ich behaglich und brannte mir das Kraut an, wovon sich augenblicks ein schwerer, schier benebelnder Duft erhob.

»Was heißt bemühen!« winkte er ab und ließ sich auf dem lederüberzogenen Sofa nieder. Die Frau blieb noch ein paar Minuten da; dann zog sie sich wie mitwisserhaft lächelnd zurück. Die Geräusche der Stadt drangen ganz schwach durch den geschlossenen Laden zu uns herein. Er sah freundlich und ein wenig versonnen aus. – Dann sagte er, indem er im Grog rührte:

»Sehen Sie den Blechkasten dort, Herr Doktor?«

Ich erblickte auf einem Holzgestell eine ungefüge, schwarzlackierte Kiste, mit einer vorn hervorstehenden Blechröhre, und verhangen von einem buntseidenen Tuch. Von einem Wandkontakt aus lief ein Leitungsdraht in den hinteren Teil. Recht vorsintflutlich mutete das Ding an.

»Eine Laterna magica

»– So ist es. – Eine biedere magische Laterne, wie sie bei unseren Vorvätern in Gebrauch war. Ein Requisit aus einer menschenwürdigeren Zeit. Ein Spielzeug, das ich auf dem Trödelmarkt fand und unverzüglich erwarb . . . Man läuft jetzt ins Kino, – gut; – es hat eben jeder die Unterhaltung, die er verdient. Ich meinerseits bin, mit Ihrer Erlaubnis, ein philosophischer Charakter und lasse mich nicht abspeisen anläßlich einer Massenfütterung. Nackte Tatsachen werden da geboten; nichts zum Träumen. – Und was ist die Würze des Lebens, mein Herr? – Die Träume.«

Ich staunte. Denn Herr Zinkeisen ließ in seinem Äußeren gar nicht vermuten, daß er ein so verpöntes Steckenpferd im Geheimen ritt. Aber dies Innenleben in einem Allerweltsschädel nebst proprem Scheitel, leicht glotzenden hellen Augen und einer behutsamen Kleinbürgerlichkeit war echt deutsch, sehr rührend und ein wenig lächerlich. –

Und er fügte noch etwas hinzu, das mich aufhorchen ließ; er sprach: »Mit diesem Kasten flüchte ich ins Land der Phantasie. – Dies Land, verstehn Sie, ist die einzige deutsche Kolonie, die wir behalten haben.« –

Hatte er nicht dreimal recht? Gibt es da eine Mandatswirtschaft? Bleiben wir da nicht die Herren? Haben wir den anderen diese Domäne (so ausgeplündert wir auch dastehen vor aller Welt) nicht erfolgreich unterschlagen, und können sie uns dorthin etwa eine »Kontrollkommission« nachschicken? Gibt es nicht dort Herzleid und Erhabenheit und tolleres Geschütz als jedes erfundene? –

Und er fuhr fort: »Wenn ich so sinniere bei meinen Bildchen, dann leist' ich Verzicht auf die ›Große Welt‹. – Tja . . . wenn ich so'n büschen geistig ausschweife, denn hab' ich sie alle in der Tasche, die Rechenkünstler und Fisematentenmacher und Wucherer vom grünen Tisch. Gut! sage ich, – folgen Sie mir, meine Herrschaften! Und sie sitzen trübe da und schneiden mit ihren Papierscheren blutende Wunden in unseren Volksbestand und schnippeln an unseren Grenzen herum . . . Folgen Sie mir! sage ich. – Aber sie können nicht, denn wir haben Raum. Wir haben die Phantasie. – Hmm. –«

Als ich das hörte, setzte ich keinen stählernen Helm aufs Haupt oder nannte es Pazifistenmoral und vertrackte Drückebergerei. Ich fand es im Gegenteil ganz vernünftig. Dieser Mann hatte sein Teil weg; er erholte sich auf seine Weise. – Ich war weder ein unbedingter Anhänger jenes alternden Geheimen Rats, der eine Literaturmauer um sich baute, als es in dem, was er Vaterland hätte nennen müssen, erbärmlich drunter und drüber ging; – noch auch schwenkte ich einen Hut bei jeder Gelegenheit, die einen Mann-zu-Roß antraben ließ, gleichviel aus welcher Richtung. So schenkte ich mir alle Bedenken hinsichtlich Herrn Zinkeisens und sagte mir: Sieh da; ein deutsches Individuum! Wie es uns im Einzelfall so stärkt und im Volksfall so schwächt! – Und woher kommt das? Weil von jeher der Mensch uns wichtiger ist als die Menschheit und weil, nach unserem voreiligen Dafürhalten, ein deutscher Kellner oder Zigarrenhändler intimere Beziehungen zur »Weltseele« unterhalten kann als der Herrscher von Zeitungen, der sein dumpfes Millionenpublikum mit Gebrauchsbildung versorgt.

Der (wirklich unvergleichliche) Grog ließ des Mannes Rede in meinen Ohren vielleicht lieblicher erklingen, als sie von Natur aus war; jedenfalls war jenes Bonmot vom »Land der Phantasie« fast zu gut für ihn, denn im Grunde zeigte er sich, wie auch seine eigene Geschichte dartun wird, als schlichte Seele. –

Ich ermunterte ihn nun, da ich neugierig war, mir seine magische Laterne vorzuführen. Hierauf entfernte er die Möbel von der weißgestrichenen Wand uns gegenüber, drehte das Deckenlicht ab und entwickelte im Dunkeln eine rege Geschäftigkeit. Glasplatten klapperten, und nun erschienen auf der Wand lebensgroße Figuren – von bunten Abziehbildchen erzeugt, die innerhalb des Kastens von einer offenbar sehr starken Birne bestrahlt wurden.

Langsam wechselten die Bilder. Es war als träten diese bunten Schemen in unsere Gemeinschaft ein; gesellten sich flüsternd uns zu . . . Herr Zinkeisen entfachte den Grog, den er nachfüllte, mit einem Streichholz, und im violetten Flackerlicht verstärkte sich der Eindruck des gespenstisch Lebendigen, schwellend Hervortretenden, plastisch Atmenden dort in der Wand . . .

Ein Herr mit rundem Backenbart floh vor einer hübschen Mulattin.

Ein David in silbernem Schuppenkleid fällte einen Goliath, der niederprasselte, irres Erstaunen im Blick. Die Pupille eines waschblauen Auges rollte innerhalb eines goldenen Dreiecks verschmitzt hin und her. –

Dann sah man einen Jongleur, der mit Apfelsinen spielte – plötzlich platzten sie in einer lohenden Katastrophe. –

Zwei Rokokodamen prügelten sich um eine Marionette; hinter ihnen dämmerte eine Eule auf, die an Schlaflosigkeit litt und den Tod in Gestalt eines Arztes heranwinkte. –

Eine nackte Jungfrau, wie ein Porzellanfigürchen, flatterte buntbeschwingt als Schmetterling durch arkadisches Blau, verfolgt von einem borstigen Ungeheuer, das einer monströsen Schmeißfliege glich. –

Daraufhin gab es ein seltsames Durcheinander von kaum entwirrbaren Dingen: ein Affe trat auf, ein Chinese, ein fratzenhafter Fels, zusammen mit einer flink kletternden kleinen Gestalt im Matrosenanzug, die Angst fühlte und gläsern zu schreien schien . . . Nun wurden die Bilder beklemmender. Ein aschblonder Backfisch in langem Hemd schritt schlafwandelnd durch eine Gallerie drolliger Puppen und versetzte ihnen träumerische Nasenstüber. Sie versank in einer Sintflut und reckte die dünnen Arme nach einem kleinen Spanier, der einen untergehenden Mast umklammerte, und Tausende von Köpfen, wie von Robben, tauchten ertrinkend auf und wurden dann weggeschwemmt . . .

*

– – – Ich weiß nicht mehr, wie lange dies interessante Panorama, dank eifriger Geschäftigkeit Herrn Zinkeisens, noch weiterrollte; jedenfalls erschrak ich heftig, als mit letztem Plattenwechsel plötzlich seine flache Stimme ertönte: »Tja, Herr Doktor, nun ist wohl das Material vorläufig aufgebraucht, nicht?« – und als er das flammende Deckenlicht wieder anknipste. –

Ich war wie benommen; ich mußte noch eine Weile die Augen schließen, bis all das Bunte, Quellende hinter meinen Lidern zur Ruhe kam. Doch diese törichten Abziehbildchen, die der treffliche Jamaika-Rum so lebendig gemacht, blieben mir gleichsam mahnend im Blut sitzen; ich wußte, ich müsse ihre Schicksale entwirren und schildern, um sie loszuwerden, die vertrackten Quälgeister.

Vielleicht war dies auch Herrn Zinkeisens Absicht, und er freute sich darauf, meinen Eindruck schwarz auf weiß als Lektüre zu bekommen.

Ob er freilich dies Buch jemals erhalten wird, ist die Frage, denn ich habe mich in der Folgezeit leider vergeblich bemüht, seinen Zigarrenladen wieder aufzufinden, und das Adreßbuch enthielt seinen Namen nicht. –

Es fällt mir furchtbar schwer, zu glauben, er sei sozusagen selbst nur eine Fiktion gewesen an einem regnerischen Mai-Nachmittag; er ist mir noch zu deutlich in Erinnerung, und ebenso ist es seine Geschichte am Schlusse dieses Buches.

Da er persönlich nicht sehr gut erzählte, so habe ich (da auch der ununterbrochene herzhafte Konsum des Grogs seinem Vortrag nicht förderlich war) ein kleines Epos oder, wenn man will, einen bescheidenen Roman aus ihm gemacht.

Und damit, hoffe ich, habe ich ihm meine seltsame Verpflichtung zufriedenstellend abgetragen.

 
Erstes Bild

Das dunkle Abenteuer des Herrn Perlafinger

In der Hofburg ist eine überkuppelte Einfahrt, die dem Verkehr offensteht. Dieser »Verkehr« schlängelt sich auf der anderen Seite des Residenzkomplexes unter dem Propyläum mit der ehernen Inhaber-Inschrift Francisci Josephi I. R. hindurch und hinaus.

Es ist eine Katastrophe, daß das respektlose Stinktier »Verkehr« soviel Spektakel in der Hofburg macht, ohne daß eins von den Erzherrschaften zwischen aufklirrenden Fensterflügeln hinab nach Ruhe wettern dürft'. – – Durchaus lebensmüd wird man, wenn man es so bedenkt; nie früher wär das erlaubt gewesen.

Dies waren die Gedanken, die Herrn Franz Josef Perlafinger bewegten. Er hauste neben der überkuppelten Einfahrt und versah Pförtner- und Kastellandienst. Beiläufig fünfundfünfzig, mußte er schau'n, wo er ein Kissen fand für seinen Lebensherbst im Dreigroschen-Elend der »Kaiserstadt«. Er saß am geschmälerten Futtertrog der zwei Adlerköpf' ohne Rumpf, die hungriger denn je pickten trotz mangelnden Verdauungsschlauchs. Aber das Münchhausensche halbe Roß hat ja auch wacker gesoffen, und so paßte denn Herr Perlafinger lediglich auf, daß dem ehrwürdigen Geflügel die Schattenkronen nicht herunterfielen. Er war ein treuer Hüter des monarchischen Begriffs . . .

Er hatte es sehr schön und ruhig gehabt als Kammerdiener und Vertrauensmann des letzten Grafen von Wiltczek. Ein sehr angenehmer Posten! Der Graf war ein hoher Funktionär: Reichsmundschenk, der bei den seltenen großoffiziellen Anlässen mit zittriger Hand etwas Sekt in den goldenen Empirehumpen spritzen ließ. Zwei ebenso wackelige Lakaien balancierten diesen auf einem Tablett und pflanzten ihn dann vor die K. und K. Majestät, die kaum daran nippte, geschweige denn daraus zechte. – Des Grafen Aufgabe war es nun, bei diesen Habsburger Schwanengesängen (die immer gedämpfter klangen, bis der Krieg der Monarchie den letzten Wind nahm) – zu spähen, ob der Kaiser nicht auf dem Trockenen sitze; daß er stets frisch nachgefüllt bekomme und seine Kehle gut geölt sei für etwaige Toaste. Für dieses Amt ergab sich aber nie ein Anlaß; wenigstens in den letzten zehn Jahren nie. Deshalb sank die Würde des Mundschenks inmitten des Gewimmels der Schranzen zur stilvollen Geste herab; ja kaum zur Andeutung einer solchen.

Mit der Monarchie – sogar noch vor deren letztem Aufflackern in der Person Karls – neigte sich auch das letzte Reis derer von Wiltczek verdorrt über den Rand des uralten Wappens.

Im Wermut- und Baldriandunst, unter muffigem Damasthimmel, devote Floskeln als welkes Adieu in die Hand eines Erzherzogs hauchend, verschied es. Mit allen Segnungen der Kirche schwer versehen, zog der feudale Greis mit den silbernen Favoris sich hinter die Barockfassade seines Familienmausoleums zurück.

Da die ausgesetzte Rente in der Inflation sofort schmolz und nicht einmal mehr eine »Trabuco« täglich garantierte, wäre für Herrn Perlafinger nichts übriggeblieben als das Altersheim. Der Himmel aber fügte es, daß ihm in Anbetracht dreißigjähriger Treue der erwähnte Fremdenführerposten zufiel; daß er genug zu essen hatte, sich drei Trabucos und eine Virginier täglich leisten konnte und sogar spazierengehen, wenn »Schluß der Vorstellung« war. – Diese Möglichkeit nützte er jedoch nur äußerst selten aus.

Wir müssen nämlich wissen, daß der Mann ein unzufriedenes Gemüt besaß und der Verbitterung den Eingang in sein Herz gestattete. Wenn er nach Beendigung der Rundführung das Eingangsportal zu den vierundzwanzig »öffentlichen Gemächern« der Hofburg schlüsselrasselnd geschlossen, wartete er zuweilen (anstatt sich in seinen Verschlag zurückzuziehen, seinen Kaffee zu brauen und zu nachtmahlen) noch unter der Kuppel.

Diese Kuppel mit den verblaßten Fresken dröhnte vom Lärm bellender Hupen und von der eiligen Drangsal hastender Füße. In dies Gewusel hinein lächelte von oben ein kalkiger Himmel, derselbe, der einst frisch und farbig geleuchtet hatte, da er noch über sanften Sänften und Galawagen prunkte. Nun aber war er verwittert nicht bloß durch die Zeit, sondern aus Trauer und Abscheu. Lange Risse wanderten quer über Puttenleiber, Nymphenbrüste und tabakfarbene Gliedmaßen feiernder Heroen. – »Es dauert nimmer lang,« dachte Herr Perlafinger, »dann kommt der ganze Verputz herunter samt der schönen Schilderei . . .« Gram umflorte sein Auge, wie er so dastand und mit dem Blick eines Bernhardiners die todgeweihten Nacktheiten bespähte. Er hatte nämlich Sinn für Kunst, besonders wenn sie ihm gewisse angenehm-plastische Vorstellungen erweckte.

 

War es noch zu früh für das Abendmahl, so harrte er aus, bis die Verkehrskuppel zufällig einmal leer war; dann sperrte er das Portal geschwind wieder auf und war nun ganz allein in der Hofburg. Er brauchte sich keinen Zwang anzutun, durfte sich soweit gehen lassen, als die tolerant gelaunte Tradition in diesen Gemächern es ihm gestattete. Hier war man sozusagen »unter sich«. Gemästet von dynastischem Prunk, hervorgesogen aus der Seide der Saalwände, geschöpft aus der Tiefe unendlich aufgeworfener weißgoldener Flügeltüren, schwoll Herrn Perlafingers innerer Protest gegen das scheußliche Draußen; gegen das heutige Wien.

Hier innen war er gefeit und geborgen unter den stilvollen Gespenstern des Gestern. Denn nicht sehr alt war dies Gestern trotz der hundertfünfzigjährigen Möbel, der dreihundertjährigen Gobelins; es huschte hervor und begleitete seine einsam knarrenden Schritte auf dem Parkett. Denn er ging jetzt nicht auf dem Läufer, über den er die Fremdenhorden hinübergetrieben. Er ging auf der dämmrigen Parkettiefe als Mitbestandteil der Dinge, die sie spiegelte und in zerfließenden Farbtupfern in ihre Märchentiefe lockte. Ebenso wie der Traum jedweden Gegenstandes darin geisterte (das Weiß zierlichster Öfen, das Türkisblau mannshoher Vasen, das vergoldete Kupfer-Rokoko, das Goldfunken heruntertropfte, das Facettengewirr der Lüster, wie blühend im braunen Sumpf) – ebenso spiegelte sich auch der Bauch Herrn Perlafingers, verkehrt zwar, doch trotzdem ebenbürtig hindurchgetragen.

Ja, dieser Vorkriegsbauch – es gab ihn noch, wenn zwar nicht so straff und proper mehr. Er hatte Falten, wie alles andere an seinem Besitzer. Er war ein halbwelker Ballon, gerade noch in Schwebe gehalten durch moralische Fingerstüber, aber ohne pfeilgeraden Trieb mehr, in die heroische Welt der wienerischen Halbgötter hinaufzuschießen. Er war in seiner Bekleckerung durch verirrten Schnupftabak und Gulaschspritzer, beschwert von stählerner Uhrkette, keine Staatsangelegenheit mehr.

Aber sah man ihn so im Parkett, spähte man steil über seine Wölbung nach unten, so sah man lediglich die Rundung und all das Unzulängliche war barmherzig verwischt.

 

Es ist nach sechs Uhr im März: durch die französischen Fenster blinkt ein grellweißer Himmel. Alles ist stumm, entrückt; voll von der Weihe eines nach letzten, höchsten Machtexzessen zusammengesunkenen Regimes.

Strenge Fürstinnen, kokette Thronfolger, Schlachtenlenker der Boudoirs, süße Puppengesichter unter beschleiften Chignons, grünsamtene Knaben mit der schmollenden Erblippe, zierliche Hifthörnchen schwingend wie Honigkringel . . . Dann wieder stilvoll aufgebaute Feldherrenhügel, Gepurzel verfilzter Reitergruppen in brauende Kessel von Kriegspanoramen: dies ist für Herrn Perlafinger der Hintergrund.

Über einem Porphyrkamin steigt ein Spiegel an; etwas getrübt ruht der in einer Umrandung gelbsilberner Voluten. Herr Perlafinger nähert sich ihm und starrt sich an. Die Ähnlichkeit mit dem erhabenen Spender seines Taufnamens ist verblüffend. Verwittert ist dieser Kopf: gelbliche Hautfarbe, kranzartiges Fältchenspiel an langlidrigen, leicht schiefgestellten Augen, ein gelbes, gesundes Zahngeheck und dann der Backenbart, ein peinlich ausrasiertes Kinn zwischen den Flügeln hegend wie ein rosa Ei!

Der Backenbart! Diese wunderbaren runden, graumelierten Polster rechts und links!

Perlafinger wendet sich ab, erschüttert von der mühsam zur Vollendung gezüchteten Ähnlichkeit! Hört er nicht Anspielungen darauf Tag für Tag? Es ist schon was dran! Tolles Gefühl, dem alten Franzel Höchstselig so grad ins Gesicht hineinzublinzeln, und auch Er muß dann blinzeln, und man kann mit Ihm machen, was man möcht'! – – Breit läßt er sich in einen Prunksessel nieder, und der Kaiser verschwindet aus dem Spiegel.

Perlafinger grinst traumverloren und raucht. Lichtblau zieht sich wie welliger Schleier der Qualm durch die Hofburg-Atmosphäre. Zuweilen knackt ein Sofa, ein Prunkbett, ein Stuhl. Erinnerungslächeln umspielt seinen Mund; durch strählende Finger gleitet der Backenbart. Er geht zuweilen zur chinesischen Vase an der Tür und stäubt seine Asche hinein. Es ist dämmrig geworden; noch einmal marschiert er sinnend durch die vierundzwanzig Türen, und überall in den Spiegeln begleitet ihn ein ehrwürdiger Greis: der rechtmäßige Inhaber einst dieser und vieler anderer Räume; leicht gebückt.

Nur etwas zu feist. Und unwahrscheinlich bürgerlich.

Und Herr Perlafinger denkt an ein Geschehnis, das reichlich lang her ist. Er denkt an Ilonka . . .

Er hatte diese Ilonka, die gräfliche Mätresse, im Auftrag seines Herrn ins Bockshorn gejagt. Er hatte ihr dargestellt, daß im Kabinett bereits erwogen werde, ob man sie entfernen solle, »deportieren«, wenn ihr der Ausdruck sympathischer sei . . . Und zwar aus Wien, irgendwohin an die Grenze. Sie solle gescheit sein und in Gottes Namen die Abfindung nehmen, die man ihr anbiete, und die Hofburg nicht weiter beunruhigen. Die Majestät habe ohnedies soviel Schererei in der eigenen hohen Familie von wegen Dispensen, die man Ihm von Gemüts wegen erpresse, von nervenfolternden Kompromissen im Interesse weitaus wichtigerer Damen, als Fräulein Perchtenleitner jemals darzustellen hoffen dürfe. So sei Er äußerst heikel auf den Punkt der Seitensprünge zu sprechen, und wo Er merke, daß man Ihn, das heißt Seine Herren Söhne, kopieren wolle, da werde Er nicht mehr lange fackeln. Er habe in der letzten Zeit ohnehin die Moral stark unterstrichen und daß Er's sauber haben wollt' um Seine heilig römische Person herum. Sie solle nur so weiter machen mit Eingaben gegen den Herrn Reichsmundschenken; dann werde das Erzhaus ihr schon die Macht zeigen. Gott sei Dank sei ihr Tratsch noch im Keim zu ersticken, wenn sie vernünftig sei; und für das Buberl werd' der Herr Reichsmundschenk schon einen Vater besorgen.

Der Vater fand sich denn auch im k. und k. Infanterieregiment (Deutsch und Hochmeister Nr. 4), ein charmanter Feldwebel. Der Krieg raffte ihn aber leider am Isonzo hinweg. Zunächst natürlich war dann davon die Rede gewesen, daß etwa Herr Perlafinger selber . . . (bitt' Sie, unmöglich! . . .) einen Laden aufmachen sollt', eine Trafik, wo er's doch so gut hatte; wo er so verantwortungslos und sorgenfrei in der Wolle saß . . . Seinen prächtigen Frack sollt' er ausziehen? Seine Eskarpins? In den Küchendunst eines kleinbürgerlichen Betriebs hinuntersteigen? – Übrigens war die Ilonka, blauäugig und drall, durchaus eine Lockspeise für ein Mannsbild. Und auch Intelligenz durchblicken ließ das Weib, sobald sie sichergestellt war.

Kurz, die Episode hatte er ins reine gebracht ohne Zeitaufwand und insofern Dankbarkeit geerntet, als der Graf ihn, solang der Krieg brenzlich war, als »unabkömmlichen Sekretär« in der Etappe benötigte oder als Küchenchef im Stabstrain, wo man den Krieg nur ganz von fern pumpern hörte . . . So gab es von beiden Seiten Vertrauensbeweise. Oder geschah dies alles nur, weil man einen Doppelgänger des Allerhöchsten Kriegsherrn nicht der Schlachtbank opfern wollte?

 

Als Herr Perlafinger an einem dieser Tage in seinem Verschlag ins Bett ging, konnte er durchaus nicht schlafen, denn die Ilonka meldete sich immer dringlicher in seinem Gedächtnis. Weiße glatte Haut hatte sie gehabt, weißbestrumpfte Waden und allerhand doppelte Rundungen, wo sie hingehörten. In reicher Fülle und doch sozusagen knapp. Recht jung und bockig, wie sie halt sind mit neunzehn; aufgehetzt auch noch von einer gewissenlosen sozialdemokratischen Verwandtschaft, die natürlich eine dauernde Anzapferei vorhatte an Seiner Erlaucht.

Herrgott! Wenn er, Perlafinger, doch zugegriffen hätte? Der Graf hätt' ihn zwar »außerg'worfen«; aber das mit dem kleinbürgerlichen Milieu hätt' er schon passend modeln können nach eigenem Geschmack. Und der Graf hätt' ihn sicher ausreichend finanziert, so daß er von einem Roßhaarpfühl übergesiedelt wär' auf ein lebendig-elastisches. Verlust an Bequemlichkeit wär' das kaum gewesen. Eigentlich fast ein Profit! Es hätt' ihn ja schließlich nichts gehindert, trotzdem ein feiner Herr zu bleiben und die Ilonka heimisch zu machen auf seinem Niveau . . .

Er seufzte. Sollte er am Ende damals nicht doch eine Riesendummheit gemacht haben in seinem byzantinischen Dusel und engen Horizont? Es blendet den Blick, wenn man immer nur Hofschranzen sieht und Uniformen. Es verstopft das Ohr gegen Naturlaute, wenn man immer auf Getuschel lauschen muß wegen der Konkurrenz der anderen Leisetreter. Den schönsten Teil seines Lebens hatte er dafür weggeschmissen, und nun war er fünfundfünfzig.

Er träumte von den Nymphen an den Freskodecken. Mitten unter ihnen saß die Ilonka in verschobener Fernrohrperspektive; sie hatte ein fernes mythologisches Getu', und auf ihrem drallen Schenkel ritt ein Putto. Der vom gefallenen Feldwebel adoptierte Putto. Der bohrte dem einsamen Träumer einen rundlichen Finger voll Schadenfreude mitten ins Herz . . .

Er schrak auf. Beklommen und unzufrieden. Zunächst war der schwellende Protest wieder da gegen Wien. Es war nicht mehr sein Wien; das war radikal weggefegt. Nichts war übrig davon als eine absurde Anhäufung von Großstadtelend ohne Hinterland, als ein Kopf ohne Rumpf. – Ilonka und ihresgleichen hatten jetzt darin das große Wort. Und trotzdem erschien sie ihm (als Teilhaberin seiner Tradition und ins gräfliche Wohlwollen so eng einst hineinbezogen) auf einmal besonders begehrenswert, wie alles Versäumte.

Wie alt sie wohl war? – Beiläufig vierzig. Und ob sie wohl einigermaßen konserviert war? – Was eine waschechte Wienerin ist, hält auf sich.

Du wirst einmal schauen müssen, dachte er auf seinem einsamen Lager, wo sie steckt, was sie so treibt; unverbindlich herantrudeln wirst du müssen . . . Dann kannst du sie herausholen und sie umgestalten, bis sie reif ist fürs bessere Leben! – Wie bitte? Wieso besseres Leben? Was bietet man ihr denn? Einen Fremdenhirt mit Bauch und Backenbart, der Sprüchlein schnurrt! Der in die Ohren der Besucher hinein folgendes predigt: »Der Kaiser Koarl ergriff das Steuerruder des Staatsschiffes noch einmal mit hoffnungsvoller Hand; doch ein tragisches Schicksal wollte, daß es kenterte . . .!« –

Nach solchen resultatlosen Erwägungen beschloß Herr Perlafinger, in den nächsten Tagen einmal auf die Suche zu gehen. Er war immerhin erst fünfundfünfzig Jahre.

 

Er machte sich bereits am folgenden Tag auf, an dem keine Besichtigung der Hofburg stattfand. Er gürtete seine Lenden, indem er sich in seine korrekteste, nach Mottenkugeln duftende Vorkriegsgala steckte, und begab sich auf die Suche nach der plötzlich wieder so lebendigen Ilonka.

Naturgemäß lenkte er seine Schritte, begleitet vom Dröhnen des aus der gräflichen Erbmasse stammenden Stockes, zunächst nach der Polizei, um festzustellen, wo eine gewisse Witwe mit fünf unaussprechlichen Konsonanten im Namen hauste. Der Name wurde nachgewälzt, doch nicht entdeckt. – »Der Herr möcht' ein wenig Geduld haben und gelegentlich wiederkommen. Bei der wechselnden Rechtschreibung der tschechischen Namen (noch dazu ohne Vokal, an den man sich klammern könnt') sei es eine niederträchtige Arbeit, den verewigten Feldwebel auszugraben. Nichts für ungut.«

Worauf ihm nichts übrigblieb, als zunächst einmal einen Spaziergang zu machen. Er hatte allerhand Trinkgelder gespart, die seine Brieftasche schwellten. – – – Apart war das junge Grün, wie es so zum Vorschein kam. Ein paar Büsche blühten bereits gelb. Der Frühlingssermon der alten Weiber, die ihre Veilchensträußlein schwenkten, lautete wie seit je: »Weil Sie's sind, Herr Baron, ein Schilling . . .«

Und überall saßen auf Parkbänken verlorene Existenzen.

Sehr ärgerten ihn die ordinären Taxidroschken; sie kläfften ihn an wie erboste Köter, und oft mußte er sich, schier mit Verlust an Haltung, auf den Gehsteig zurückretten. Scheußlich zugenommen hatte der Verkehr während seiner »Klausur«.

Andächtig beäugte er die Prachtbauten. Da hatte man wenigstens etwas Handfestes von früher, den ganzen monumentalen, unzerstörbaren Ausdruck des monarchistischen Prinzips. All die Herrschaften auf ihren muskelschwellenden Marmorrössern, all das Barock, das in tobendem Herrschdrang ins Blau brandete, war Balsam für seine Seele. Und doch webte in der mildstreichelnden Frühlingssonne ein Hauch von Melancholie darüber. Kein Wunder: dies alles war nicht mehr berechtigt. Glanzvolle Kulissen waren das; auf ihnen ließ ein verschuldeter Magistrat den alten Scheinwerfer spielen. Ein Museum voll toter Pracht, in dessen weitläufigen Räumen und Gängen eine darbende Menge wuselte; ein Ameisenhaufen, in den ein eiserner Besen gefahren war und ihn in tausend triste Asphaltrinnen hineingekehrt hatte. Der Vergleich fiel ihm ein mit einer Perlmuttermuschel, einem großen Meerschneckenhaus, das zwar noch ganz wunderbar schimmert, doch der eigentliche Bewohner ist fort, so daß im Gehäuse nichts mehr weilt als ein bißchen Duft und viel sausende Erinnerung. Hielt man das Ohr dran, so starb wie ein kleines Fragezeichen ein anmutiger Walzertakt.

Aber was an Herrn Perlafinger lag, so mußte einmal wieder die Zeit kommen, da ein gekrönter Nachkomme prächtig Einzug halten würde in die leere Muschel! Alsdann gibt's einen Tusch darin; der schmettert lauter als jener tränenreiche Dreivierteltakt! Ja, wenn einmal der Otto, der nette Bub' (dessen schwarzgelb umschleifte Bildchen in kleidsamem Matrosenanzug sein Ofensims zierten) herabsteigen würde aus der Ferne seines Exils, im Morgenrot besserer Zeiten, und eine Armee von Fensterputzerinnen in Bewegung setzen . . . Der würde auch die alte Dame Wien in ihrer vereinsamten Loge, die sie im Welttheater innehatte, galant wieder aufwerten, so daß sie's dann nicht mehr nötig hatte, ins internationale Parkett hinunter zu lorgnettieren, um so nervös das Mienenspiel der Kavaliere »Anschluß« und »Anleihe« zu studieren. Dann würde sie wieder jung auf ihre alten Tag', wenn der Otto käm' und sie herauszög' aus dem Schlamassel. – – –

Perlafinger stampfte mit dem Stock auf, und da ihm im Augenblick nichts Besseres einfiel, ging er die Kärntnergasse hinunter und landete im »Griechenbeisl«.

Hier stellte er fest, daß wenigstens das Pilsener den Sturz der Monarchie unbeschadet überdauert hatte. Auch die alten Kellner dort heimelten ihn an.

Dies stellte er solange fest, bis er einen kleinen Schwips hatte. Ein solcher Zustand veredelt, und mit jedem Glas wird die Welt verständlicher. Zunächst mußte eine unabweislich aufsteigende Rührung überwältigt werden, in der sich die Trauer über den Umsturz mit seinen persönlichen Versäumnissen verquickte. So gab Herr Perlafinger, respektvoll von konservativen Gästen und verträumten Kellnern betrachtet, zunächst ein Bild ab mit der Unterschrift: »Mir bleibt nichts erspart.«

Nachdem er der Vergangenheit einen Monolog gewidmet, wurde er menschlicher und zeitgemäßer. »Seine Stimmung«, ließ er wissen, »sei gehoben. Er wolle nicht immer bloß Fremdenführer spielen. Er wolle selbst einmal den ›Fremden‹ spielen. Er ersehne einen Ort, wo sich allabendliche Gemütlichkeit an Schrammelmusik stärke; er fühle heute etwas Unternehmungsgeist.«

Die konservativen Gäste und verträumten Kellner hierauf berieten sich untereinander. Dann sagten sie, was die »Schrammelmusik« anlange, so gäben sie ihm einen großartigen Tip. Das rechtsstehende Element in Wien habe ein Geheimlokal, wo es sich treffe. Er würde da die Elite finden von früher, die Creme der alten Gesellschaft; warm ums Herz würd's ihm werden; so ganz im eigenen Fahrwasser würd' er schwimmen . . . Eingeklammerte Grafen streiften dort ihre Klammern ab und gäben sie in der Garderobe ab. »Tabarin« heiße das Geheimlokal. Er solle mit Scheuklappen hineingehen und sich vorher niemandem anvertrauen; kenne man sich doch jetzt nicht mehr aus, wer ein Sozialdemokrat oder gar Kommunist sei und wer noch ein anständiger Mensch.

Das begreife er gut. Ganz ihrer Ansicht sei er. Hätt' man übrigens schon jemals so was Dummes gehört als »eingeklammerte« Grafen? Sein seliger Graf würde sagen: »Karl der Große hat mich geadelt; und Karl Renner will mich entadeln? . . . Soll er's probieren . . .«

Die Gäste wurden immer munterer, geradezu ausgelassen. »Also, Herr Hofrat – (sie tauften ihn Hofrat!) – dort werden Sie was erleben, dort im Tabarin. Sie werden sich zurückversetzt fühlen in die schöne alte Zeit, direkt ins Dreimäderlhaus! Eine reizende Schrammelmusik werden Sie finden! Einen Geiger, der seinen Kasten menschlich behandelt, und einen Pianisten, der streichelt die Tasten . . . Aber die Hauptsach', Herr Hofrat, warum Sie dort hingehen müssen, ist die Baker Peperl. – Unsere Baker Peperl.«

»So, so«, sagte er und zwinkerte verständnisinnig. Dabei kämmte er leicht erregt seine Bartpolster. »Fesches Madel, was? – Eine Hiesige?«

Die Gäste besprachen sich wieder untereinander. Sie machten schnaubenden Gebrauch von ihren Taschentüchern. Dann wandten sie sich wieder Herrn Perlafinger zu und sprachen: »Sie ist nicht gerade von Wien gebürtig. Mehr südlich. Stark brünett. Aber ein fesches Madel, ganz wie Sie sagen, Herr Hofrat. Eine Tänzerin. Wie der liebe Gott die g'schaffen hat, war der Heurige gut. Wir sagen Ihnen, die tanzt einen Drahrer, daß Ihnen ganz anders wird. Die engagiert Sie, passen S' auf; da kriegen S' eine Hitzen, und mit den Augen schmeißt s' wie mit Knallerbsen. Wissen S' . . . (in Ermangelung weiterer Vergleiche seufzte man) . . . also zum Anbeißen. Und unterhaltsam. Keine Ziererei; keine Ziererei . . . Ja, ja, die Baker Peperl.«

Herrn Perlafinger lief das Wasser im Mund zusammen. »Gut. – Ich gehe!« rief er schallend und schwenkte sein Glas. Alle tranken ihm zu.

»Servus, Herr von Perlafinger! Und grüßen S' die Baker Peperl von uns, vom Stammtisch im Griechenbeisl!«

– – Als er die Treppe ins Freie gewann, aus der verließartig angelegten Lokalität heraus, hörte er noch, wie sie drinnen sangen und durcheinander riefen: »Nußbraune Maid« – »goldig's Mensch« – »hat Wien im Sturm erobert« . . .

 

Der Portier in der lichterflammenden Einfahrt zum »Tabarin« tritt beiseite, um einen Herrn hineinzulassen, der mit der Geste eines alten Kenners der Garderobe zustrebt. Er sieht dem Kaiser Franz Joseph zum Verwechseln ähnlich; nur der Bauch stört im Bild. Und die leicht untersetzte Figur. Der Portier schmunzelt und seufzt ein wenig.

»Ich bin der Hofrat von Perlafinger«, sagt der Herr mit einer gewissen Strenge im Ton zur Garderobenfrau. »Falls ich gewünscht werd', so haben Sie in das Lokal hineinzurufen: ›Herr Hofrat!‹ Haben Sie verstanden?«

»Jawohl, Herr Hofrat«, sagt das schlichte Weib und glotzt aus übermüdeten Augen. »Wie Sie befehlen.« Sie starrt mit der gleichen Verblüffung auf einen Fünfschillingschein, der ihre Handfläche ziert. »Küss' d' Hand, Herr Hofrat.«

»Sagen Sie . . .« fährt der Hofrat fort und zupft an sich – »hat man mich richtig orientiert, daß hier ein Fräulein – Baker? Wie? – mit dem volkstümlichen Namen ›Peperl‹ (soll wohl augenscheinlich das Mundartliche sein für ›Josephine‹) . . . daß also ein derartiges Fräulein hier auftritt?«

Das übermüdete Garderobeweib nimmt sich zusammen. »Jawohl!« sagt sie schier militärisch. »Herr Hofrat sind richtig. Bemühen sich bitte durch jene Tür . . .« Und da des Herrn Hofrats Blicke in falsche Richtungen irren, setzt sie hinzu: »Aber nein, gnä' Herr, net in d' Toiletten; – außer Sie möcht'n d' Händ' waschen . . .? – No alsdann gradeaus bittä . . . Obacht, Stüfchen!!«

– – – Als der Herr »Hofrat« in den großen Saal trat, dessen Logen im Kreis eine sehr geräumige Tanzdiele umrahmten, war sofort ein kleiner Mensch zugegen mit einem schwarzen Bürstchen auf der Oberlippe, bläulichen Schatten auf den kalkigen Wangen und schwarzen, unruhigen Augen. Er war im Cutaway und ging mit zurückgeschobenen Schultern und einladendem Schwenken seiner vornehmen Hand – (eines ruchlosen Patschhändchens mit einem Gemmenring daran) – Herrn Perlafinger voran, ihn sozusagen vergewaltigend. Er wollte ihn an ein Einzeltischchen setzen und gedachte dies durch Überrumpelung zu erreichen. Aber der Hofrat ärgerte sich über die Selbstverständlichkeit des inferioren, »geradezu jüdisch aussehenden« Subjekts und ließ es allein voraneilen, während er in eine geräumige noch leere Loge abschwenkte. Und da ließ er sich nieder wie Kaiser Franz Josef im Theater, trommelte auf den Tisch und blickte sich huldvoll um.

Der Saalaufseher versuchte darum vergebens, das erlauchte Phantom, das er noch hinter sich wähnte, zu plazieren. – Eine Rotte feister Kellner erschien mit Servietten tändelnd an der Loge. Herr Perlafinger hatte gerade mit herabgezogenen Mundwinkeln geäußert: »Woll'n S' mir die Champagnerkarten bringen bitte . . .« – da, in diesem selbstbewußten Moment, ging ein so viehisches, grobes, gemeines Geplärr und Gedudel los, daß er beinahe vom Stuhl fiel. Ratlos glotzte er nach der Kapelle, ebenso ratlos auf die Kellner, die höchst unbefangen blieben und weiterhantierten, als sei der Spektakel die gewöhnlichste Sache von der Welt. – »Ja . . . . um Jesu Barmherzigkeit,« stotterte der Gast – »erlauben Sie . . . erlauben Sie . . . was is denn das für ein grauslicher Radau, für ein abscheulicher??«

Der Servierkellner stieß seinem Vorgesetzten, dem Zahlkellner, mit dem Ellbogen in die gepolsterte Hüfte. Dann beugte er sich nieder und brüllte Perlafinger ins Ohr: »Die Jaßkapell'n, Euer Gnaden. – Ausgezeichnete Musikanten. Machen eine Turneh, die Leute. – Soeben kommen sie von Budapest.«

»Ja, aber erlauben Sie . . . Sie reden von Musikanten . . . Ist das denn auch noch, bei meiner ewigen Seligkeit, Musik?!«

»Euer Gnaden wer'n bemerken, daß wenn Euer Gnaden das Ohr spitzen, die Weise sozusagen deutlich hervortritt und zum Vorschein kommt. – Kontrapunktlich, was man sagt.« Der Kellner war gebildet und stellte sich auf die Seite der Darbietung.

»Muß ich gelten lass'n«, sagte der Hofrat resigniert. »Geschmacksache. Wann s' den Leuten gefallt . . . Sehr ein eigenartiger Geschmack allerdings. – Schenken S' ein«, schloß er abrupt mit geröteten Zügen, aus denen die Ratlosigkeit noch nicht wich.

Der Ober tat mit eifriger Bewegung das Gewünschte. Der Hofrat trank; seine Augen tränten leicht. »Man muß umlernen,« flüsterte er, »scheußlich umstellen muß man sich . . . Hinausg'jagt hätt' man die Bande früher, solche ›Musikanten‹ . . .« Eine Erinnerung durchflog ihn wie ein Blitz. »Wann kommt die Schrammelmusik, bitte?!«

»Da hat man Euer Gnaden falsch informiert«, rief der Ober und schwenkte übermütig seine Serviette. »Mir ham keine Schrammelmusik. Mir sind ein besseres Lokal. Aber passen S' auf, Herr Hofrat, der Herr Direktor ist ein guter Tenorist; der singt wie ein Zeiserl; lauter bekannte Weis'n.«

Der Krach, den man Musik nannte, stoppte plötzlich, und im Hintergrund ward ein hoher Jodelton laut, wie ein Nachtigallenschluchzer. Es tremolierte, es warb und lockte. Ein feister Herr mit einem Knabengesicht und einer Hornbrille erschien auf der Bildfläche, öffnete einen Mund, den man mit einem Schillingstück hätte bedecken können, und sang. Die Hände in den Hosentaschen, leicht auf Lackschuhen wippend, wußte er sich kein Ende melodischer Schelmerei. Er sang das Fiakerlied; betonte, daß es nur ein Wien gebe, ließ die bekannten Bäume im Prater blühen und sehnte sich mit verhauchendem Schmelz nach Grienzing (was übrigens mit der Trambahn jederzeit für zwanzig Groschen erreichbar war). Und die Jazzkapelle war bezwungen. Sie zirpte mit; sie zupfte Akkorde. Versöhnlichkeit und schlichtes Behagen nahmen Besitz von Perlafinger. Seine Miene glättete sich; die zornrote Wolke löste sich auf; alle Amoretten der Vorkriegszeit meldeten sich.

»Sehen S', das ist Musik«, sagte er glücklich und summte mit. Und nach jeder Strophe machte er ein kleines Beifallsgetöse und nippte einen Schluck. So thronte er, mit den Schaumweinperlen im Backenbart, wie ein unsterbliches Symbol des alten echten Wien gleichsam über dem ganzen Saal. Und der Saal schien das zu empfinden, denn die anderen (übrigens meistens unwienerisch aussehenden) Herrschaften in den anderen Logen hoben die Gläser und tranken ihm zu. Auch der glückgeschwellte Caruso mit der Hornbrille verzögerte den tänzelnden Schritt und legte ihm gleichsam ein Klangopfer zu Füßen.

»Man muß den Leuten abbitten«, dachte Perlafinger. »Sie ham doch Lebensart . . . Ja, unser konservatives Element ist nicht umzubringen. Der liebe Gott schützt es in seiner Echtheit. Mit der Mode muß man halt gehen, die Fremden verlangen das. Aber es bleibt g'sund, das goldene, herrliche Wiener Herz.« – Er wedelte herablassend mit dem Handrücken, wie es die erlauchte Spiegelfigur gemacht. Der Sänger, gleichsam neugestärkt dadurch, kletterte zum Schluß des Liedes in glockenreine Kastratenhöhe.

 

Schwebendes Glücksgefühl beseelte Perlafinger. Und dies war irgendwie verknüpft mit der mythischen Persönlichkeit, von der man ihm im Griechenbeisl erzählt hatte. Mein Gott, was die Schrammelmusik anlangte, so hatten jene Herren sich eben in bester Absicht getäuscht. Man weiß ja auch nicht, was die Fremden wollen; das wechselt jeden Tag. Aber von diesem Fräulein Josephine oder »Peperl« – von diesem verheißungsvollen Geschöpf hatte er eine ganz festumrissene Vorstellung. »Brünett«, hatten jene Herren gesagt. »Südlich; temperamentvoll.« Also höchstwahrscheinlich eine Ungarin, eine Madjarin mit etwas rauher Kehle. Nicht unbedingt aufs Wurzen versessen, sondern eine, die mit sich plaudern ließ und einen soliden älteren Herrn zu schätzen wußte. No – auf ein Flascherl Sekt kam's nicht an.

Ob sie wohl auch so eine weiße Haut hatte wie die Ilonka? Das war ihm nämlich bei der Ilonka aufgefallen, obwohl er gar nicht so besonders g'nau hing'schaut (weil er doch auf einer offiziellen Sendung war). Aber das war sicher: maßlos gespannt war er auf dieses Fräulein Josephine. Mit allem Vorkriegscharme würde er seinen Wunsch äußern diesen Lakaien gegenüber in ihren fleckigen Fräcken: »Führen S' mir einmal jene Dame her. Sagen S' ihr, sie hat meinen Beifall erregt.« Und dann würde das herzige Kind anschwirren, mit zitternden Knien seinen Knix machen und aus ihrem Plaudermund würden naive Bemerkungen quellen, während er sie ein wenig krabbeln würd' unterm Kinn oder sonstwo. Und dann würde er sich herablassen, ihr unter Umständen intimer näherzutreten . . .

In diese Träumerei, die wieder von viehischem Saxophongeplärr gestört wurde, stieß die Ankunft einer reiferen Dame, deren Alter die rücksichtsvolle Abschätzung zwischen dreißig und vierzig vertrug. Zielbewußt war sie durch den Saal geschritten in einem kurzen Abendkleid mit vielen Silberpailletten, mit fleischfarbenen Seidenstrümpfen an fülligen Waden und Tanzschuhen, deren Hacken energisch knallten. Oben war sie nackt, unter Puder gesetzt, und trug an den grübchenvollen Armen viel klirrendes Schmuckzeug. Ein Doppelkinn hatte sie, einen fuchsroten Bubikopf und wässrige, leicht untermalte Augen. Aber ihre Stubsnase, ihr Lächeln und ihre runde Kinderstirn gaben ihr was ausgesprochen Sympathisches, wie auch ihr tiefes Organ.

»Grüß Gott, Herr Hofrat,« sagte sie ohne Federlesen und hielt ihm kameradschaftlich die Hand hin, »amüsieren Sie sich bei uns? Warten S', ich leist' Ihnen ein bißchen Gesellschaft . . . Es is ja auch schad' für einen hübschen Herrn, so ganz allein . . .«

»Hm. Ich erinnere mich nicht,« sagte er mit der silbenhackenden Korrektheit, mit der ein besserer Herr Zurückhaltung durchblicken läßt – »die werte Bekanntschaft . . .«

». . . gemacht zu haben. Macht nichts. – Ober, noch a Flasch'n.«

Der Ober hüpfte davon. Sie herrschte hier, das war klar. Der Hofrat wurde konfus.

»Aber Sie wern doch gestatten, daß ich mich vorstelle . . .«

»Damit hat's keine Eile. Hier tut ein jeder, was er mag. Und die Konvention: die lassen wir schwimmen, wie?«

»Wie Sie wünschen«, entschloß sich Perlafinger und hob das Glas. Die Dame bohrte die Zunge in die Backe und beobachtete ihn freundlich unter einem Schleier von Nachdenklichkeit. Dann zupfte sie an sich und prüfte den Hochglanz ihrer Fingernägel.

»Sie brauchen durchaus nicht glauben, mein werter Herr,« sprach sie auf das Tischtuch hin, »daß Sie mir mein Getränk zahlen müssen. Ich hab' das Gottlob nicht nötig. – Das sind unsere Geschäftsspesen.«

»Aber –«, fiel ihr Perlafinger ins Wort, »es wird mir ein Vergnügen sein . . .« Wiederum war er verwirrt.

»So? Wirklich? Dann ist es was anders«, kam die Antwort wie ein Pistolenschuß. – – Langsamer: »Eigentlich setz' ich mich ja net zu einem jeden; aber Sie haben gar so ein zutrauliches G'schau . . .«

Diese Antwort war nicht geeignet, seine Verwirrung zu lindern. Er äußerte mühsam: »Ihr Vertrauen, meine Dame, ehrt mich ungemein.«

»Oh! Man kümmert sich um die Gäste«, fuhr sie heiter fort. »In unserem Lokal hat sich noch keiner beklagt. – – Sagen S' einmal . . . – und sie bettete das Kinn auf den ausgestreckten Zeigefinger, an dem ein Türkis saß so groß wie ein junges Osterei – »Sie ham so was Beruhigendes, Herr – Hofrat . . . das ist doch der Titel? . . . so was lieb Unzeitgemäßes, so was Anheimelndes . . . Man möcht' schier meinen, man sitzt der guten alten Zeit Aug' in Aug' gegenüber . . . Wie ausgerechnet Sie hier hereinschnein, ist mir ein Rätsel. Es schmeichelt mir! Denn Sie sind doch wegen mir gekommen? Ich hab's zwar nicht b'sonders mit der Selbsteinschätzung . . . . obwohl (und sie lächelte verschleiert) ich mir noch jung vorkomm' . . .«

Hier meldete sich der Kavalier in Perlafinger.

»Zufälligerweis' hatte ich von einer gewissen Josephine Baker gehört . . . aber Gnädigste dürfen überzeugt sein, daß eine Attraktion wie Gnädigste vollständig genügen würde, mich herzulocken . . .«

»Da haben Sie ja eine Ausrede, Herr Hofrat. Glatt geht mir das hinunter. Vor der Baker müßt' ich allerdings die Waffen strecken. Wie man eine neunzehnjährige Heuschrecken ist, und außerdem den alten Herren so lieb an der Platt'n krabbelt, hat man natürlich einen Mordsvorsprung . . .«

»Ich kann mir denken,« sagte hier Perlafinger angeregt und vergnügt, »daß es so sehr lang unmöglich her sein kann, daß Sie selbst in jeder Beziehung das Ebenbild waren von der ›Peperl‹ . . .«

»Wie bitte?«

Perlafinger, im Verfolg seines Komplimentes, tat ein erschütterndes Übriges. »No, no,« fuhr er mit erhöhter Stimme fort, »wollen S' mich denn net versteh'n? Ich mein', so elastisch wenn man daherkommt, wie Sie, und eine so schöne weiße Haut wenn man besitzt, dann müßt' man doch noch jetzt eine gefährliche Rivalin sein für dieses Fräulein Baker?«

Die Dame machte einen Mund wie ein Karpfen. – »Was??« schnappte sie endlich, mit zischendem Unterton.

»Nu so . . .« – und Herr Perlafinger, stets noch im Schwung seiner Galanterie, modellierte mit den Fingern – »ich bin doch nicht blind . . . So eine blendend weiße Haut wie die Ihrige ist doch jeder Konkurrenz gewachsen . . .«

Die Dame raffte sich zusammen und beugte sich böse vor. »Jetzt sag' ich Ihnen was,« sprach sie scharf und sehr pointiert, »ich muß mir solche geschmacklosen Scherze aber sehr verbitten, mein Herr. Alles was recht ist, Scherz ist Scherz. Aber ich hab' auch meinen privaten Anstand, merken S' Ihnen das. Ich wer' mich in dem Lokal, wo ich Empfangsdame bin, von einem alten Hanswursten nicht beleidigen lass'n . . .«

Herr Perlafinger bekam ganz runde Augen. Etwas stimmte hier nicht, das merkte er endlich. »Beleidigen?« stammelte er . . . Doch seine Augen wurden noch runder und sein Kinn fiel herab. Er spähte über die Schulter der Dame; er saß wie erstarrt. Ein leiser Tusch des Orchesters geschah. Der Direktor sprach soeben mit wohllautender Stimme:

». . . Und mache ich die Herrschaften nunmehr aufmerksam auf das unvergeßliche Auftreten der weltberühmten Diva Miß Josephine Baker!«

. . . als auch schon folgendes geschah: Ein Geschöpf tauchte hinter dem Orchester auf und stellte sich nach bemerkenswert biegsamen, wiegenden Schritten, die ihrem Gang etwas von der Grazie einer Katze gaben, mitten in den Saal. – Und in gewürgten Lauten löste sich aus Herrn Perlafinger, allen vernehmbar, heiser vor fassungslosem Erstaunen, die klassische Bemerkung:

»Heiliger Herrgott . . . Gibt's denn das auch?! . . . Die is ja schwarz!!!«

 

Der ganze Saal, der still gesessen, verfiel in ein entzücktes Gaudium.

Eine Welle prustender Heiterkeit überschwemmte die Menschen.

Die Dame an Herrn Perlafingers Tisch, die Situation nun endlich begreifend, beugte sich nach hinten und gab weiche Schreie, glucksende Lachkaskaden von sich. Ein Puderwölkchen löste sich aus ihrem hüpfenden Busen. »Einrahmen müßt' man Sie,« schluchzte sie dabei, »unter Glas stellen, Herr Hofrat . . . Nein, das ist gar zu köstlich . . . Einzigartig ist das . . . Nein, ich erstick' ja . . . ›schwarz‹ sagt er . . . Schön dunkelbraun, wie? Mokkafarbig! . . . Schön schokoladenbraun, wie? Das ist einmal eine Sensation! Ganz was Apartes!«

Perlafinger blickte sich vollkommen hilflos um.

»No ja«, murmelte er gedämpfter . . . »Also eine Negerin is das Fräulein Baker; jetzt das is aber eine Überraschung . . . Eine Negerin . . .«

Er murmelte es zwar, aber das Ohr der Menge war auf ihn eingestellt. Man wieherte von neuem.

Die Empfangsdame verschluckte sich, prustete und verschwand.

Perlafinger, immer noch leise den Kopf wiegend, spähte umher; dann, als es stille wurde, beschloß er, sich als scherzenden Kenner zu zeigen. Er brannte sich eine »Virginier« an und benahm sich unbeteiligt. Mochte ein beliebiges Schicksal nun über ihn hinwegrasseln mit Blech und Kalbfell und Saxophongewinsel.

– – – Miß Josephine Baker hatte augenscheinlich den Tumult als eine spontane Huldigung für ihre Person aufgefaßt. Man äußerte ja seinen Beifall in jedem Land, dem sie ihr Auftreten schenkte, auf verschiedene Art. Darum entblößte sie unangefochten ihr prächtiges, schlohweißes Gebiß, lächelte ihr berühmtes langsames Lächeln, das wie eine Eröffnungsfanfare zur Szenerie ihres Körpers wirkte, und begann auf einem Fleck zu tanzen, wobei sie die Arme nach unten stemmte und die Kehle hervordrückte.

Mit einem weichen Urwaldschrei schmiß sie darauf ihre schlanken Schenkel auseinander, umwandelte die Peripherie des Lokals in Kniebeuge und ließ mit eingebuchtetem Kreuz das kleine Gesäß sinnverwirrend rollen. Zwischendurch wackelte sie auch damit. Sie verlieh diesem Körperteil eine eigne, anheimelnde Physiognomie. Wieder in der Mitte des Saales angelangt, drängten die Synkopen des Orchesters mit Trommelverstärkung ihre Gliedmaßen zu gesteigertem Tempo. Sie verschränkte die Kinderarme hinter dem Kopf und ließ die Knie wie Kautschukbälle aneinanderprallen. Schließlich wirbelte sie umher . . . Der schlanke, braune Leib wuchs hoch und höher, von den Zehen gelüftet, wie eine Amphora am Kreisel eines Töpfers.

»Jessus«, dachte Herr Perlafinger und hatte Stielaugen. »Ganz nackt sein . . . und so hupfen . . . Ja, gibt's denn das . . .«

Er war geblendet; war hypnotisiert. In der Tat hatte Miß Baker nichts auf dem Leib als ein Schlupfleibchen aus braunem Seidentrikot; dieses saß wie angegossen und trieb so vollkommene Mimikry, dank der Farbe, daß es tatsächlich gewissermaßen gar nicht vorhanden war. Die kleinen Brüste steckten ihre Näschen keck in die Luft; zweifellos bestanden sie ebenfalls aus Hartgummi; sie zitterten kaum trotz all der Arbeit. Allmählich glitten Perlafingers Gedanken aus der reinen Ablehnung in neutralere Bahnen.

»So ein ausgeschamt's Weib«, dachte er. »Aber Mut hat sie, Mut . . . ›Was wollt s' denn?‹ dachte sie ganz bestimmt so bei sich – ›habt ihr vielleicht eine Ahnung von der großen Kunst, die ich euch hinwerf'? Hab' ich das vielleicht nötig, in euerm kalten Klima, daß ich mich öffentlich auszieh' bis aufs letzte Unterleiberl und euch was vorhupf' in meinem Naturzustand? Aber ich bin eine Jüngerin der Kunst‹ . . .«

Solche Gedanken vermeinte Herr Perlafinger von ihrer kleinen Stirn abzulesen und vom sieghaften Blick ihrer rollenden Antilopenaugen. Sie formulierte ihre Gedanken vielleicht nicht exakt so hochgebildet – sie hatte wohl auch kaum eine akademische Bildung genossen! – Aber immerhin hatte sie den Trieb zum Höheren, das war einmal klar. Perlafinger wußte genau, was es auf sich hatte mit dem Trieb zum Höheren.

Als ob sie fühle, daß sich der nette Herr dort mit ihr beschäftigte, drehte Miß Josephine ihr Vogelköpfchen zu ihm herüber und ließ ihr Porzellangebiß wieder erblitzen.

»Bravo!« schrie der Hofrat und klatschte was er konnte. Zu spaßig sah dies Köpfchen aus im Rahmen der verschränkten Arme. Die hart an den Kopf gekämmte, lackschwarze Scheitelfrisur glänzte wie ein Spiegel. Unheimliche Mengen von Vaseline mußte sie draufgeschmiert haben, die Miß Josephine; so steif war der Kitt! Und so gut hielt er die Fasson! Und dabei tanzte sie jetzt, was man den Hahnenschritt nennt: die Brust war in Ruhe, doch die langen, glatten, zärtlichen Beine mit durchgedrückten Grübchenknien übten Paradeschritt.

Mit einemmal schwang sie einen großen Überwurf aus Straußenfedern von allen Farben und wickelte sich hinein. Wechselnd kamen ihre Gliedmaßen darunter hervor. Aus dem wallenden Geriesel tauchten die Arme mit rund nach oben gedrehten Fingern. Damit schnalzend, sank sie in den Hocksitz zusammen, ein bunter Haufe leichtesten Materials, und nur das impertinente Vogelköpfchen guckte oben noch heraus. Rollende, flüssige Augen, blau untermalt . . . Und die Lippen waren durch lackrote Schminke zum Amorbogen umgeschaffen! Dabei blieben es braune Sauglippen, schelmisch gespitzte . . .

Jetzt war der Tanz zu Ende. Miß Baker also hatte sich endgültig aufs Parkett gesetzt, war gleichsam im Fallschirm ihres Federgewandes niedergesunken. Beifall brauste.

Sie wand sich wieder heraus wie ein brauner Nachtfalter aus buntem Kokon, und ein paar beflissene Herren räumten die Pracht hinweg.

Auf einmal hatte sie einen Stoß von Papierfächern in der Hand, auf die ihr Name in goldenen Buchstaben gepinselt war, und verteilte dieselben an die Leute, die ihr gefielen. Ganz recht hatte die Empfangsdame gehabt: die »Peperl« bevorzugte die alten Herren. Was nun auch immer ihr halbafrikanischer Gedankengang dabei sein mochte (vom Utilitätsprinzip der U.S.A. überfärbt) – jedenfalls hielten die paar alten Herren sehr still, als sie ihnen Killekille machte.

Sie nahm es dabei durchaus nicht genau, welcher Greis den Hauch ihres braunen Leibes zu schlürfen bekam, und sie schnupperten an ihr wie an einer Havannazigarre, die ihnen zu teuer war. Teufel ja, was wurden sie lebendig! Elektrisiert, wie durch Berührung mit dem Äquator selbst! –

Hätte O'Neill die Tänzerin so erblickt: er hätte sie als Dramatische Erlösung, als trostreiche Göttin seinem armen »Emperor Jones« zugesellt, als die Dämonen des WooDoo und die Phantome des Sklavenmarktes, [die] dessen Herz unter dem zerfetzten Hermelin so maßlos ängstigten. Denn nahm Miß Baker nicht jedesmal, wenn einer unserer weißen Sklavenhalter verlangend nach ihrem goldbraunen Fleisch griff und einen Klaps von ihr erntete, subtile historische Rache für Jahrhunderte martervollen Rasseleids? Hatte der kindliche »Schwarze Mann« die blutbespritzte Ebenholzmaske, die sein Wappen gewesen, mit ihrer Hilfe nicht endgültig zertrümmert? Hatte er nicht mit diesem klappernden »Step« das Sausen der Peitschen erstickt? War es nicht seine alte Wäldertrommel, mit der seine späten verpflanzten Nachfahren den Sensationshunger einer entarteten weißen Welt bis zum Taumel sättigten? Wies nicht der Finger dieser braunen Diva einen endlosen Kalvarienweg zurück, und war sie nicht die Apotheose, die die letzten Scheiterhaufen des Judge Lynch siegreich überflammte? – – Emperor Jones war in sein wahres Erbe eingetreten!

 

Lachend, gurrend wand sich das farbige Fräulein zwischen den Tischen hindurch, – ein mildes exotisches Tier; jeder fühlte das Bedürfnis, es zu streicheln, und Herr Perlafinger machte jetzt durchaus keine Ausnahme mehr.

Vielleicht, weil er so auffällig vorhin geklatscht, nahm sie ihn besonders aufs Korn. Der Saal bemerkte es schmunzelnd. Der Hofrat sah sich hilfesuchend um, als die braune Hand in seinem prächtigen Kaiserbart kraulte. Zudem war soviel Nacktheit, in allernächster Nähe und in breitester Öffentlichkeit, beklemmend. Es gab keinen Präzedenzfall, nach dem er sich hätte richten können. Doch weil die Peperl gar so liebenswürdig lächelte mit ihrer porzellanenen Zahnpracht, und alle Welt so gut gelaunt schien, starb seine Bedenklichkeit.

Nun nahm Miß Baker (keineswegs von Hemmungen geplagt!) einfach Platz an seinem Tisch. Jessus! – Sie war ein bißchen müd' und spannte sich aus. Sie setzte sich im Reitsitz auf den Stuhl. Nicht ein bisserl transpirierte sie, und ganz eigenartig duftete sie. Man hatte ihr in Paris ein paar Fläschchen verraten, einen aufpulvernden Extrakt, den sie sorgfältig und pünktlich jeden Abend über sich verspritzte. – Sie schwang also ihre hochversicherten Bronzebeine über den Stuhl; Herr Perlafinger war ihr sympathisch. Und sie tippte ihm auf den Bauch und gurrte:

»You like my dance?«

Ihre Augen rollten purpurbraun in bläulichem Weiß; ihr Stubsnäschen mit lichtroten Nüstern schnupperte. Herrn Perlafinger war die Sprache fremd, deren sie sich bediente. Aber ein wahrhaft gebildeter Mensch wird nicht abgeschreckt.

»Hofrat von Perlafinger . . .« stellte er sich vor. (Form ist Form.) – »Also, Fräulein Josephine . . . Respekt! – Wie Sie tanzen können! – Mein Gott! – Ganz schwindlig is mir geworden . . . Jetzt werden Sie durstig sein; wie?«

»O you jolly old boy . . .« sagte sie voll verträumter Güte und ließ ihre Augen unbefangen spazierengehen.

»Ob Sie Durst haben, Fräul'n Baker?«

»Gosh!« meinte sie darauf. »So hot!«

»Da kennt sich der Teufel aus mit so einem Wildendialekt«, dachte der Hofrat. – »Red'n wir nur weiter; es wird schon gehn.« – »Hott!« sang er und schnalzte mit den Fingern. »Hü und Hott!«

Miß Josephine lächelte gütig. »Funny«, sprach sie beifällig, in ihren Taubenlauten. –

Dann zog sie die Schultern hoch. Durch dies Manöver spazierten die Brüstchen um einen Zentimeter höher; voll Andacht betrachtete Perlafinger das Phänomen. – Er war atemlos bemüht, ein bekanntes Wort zu erhaschen. Er rang nach einer Ideenverbindung . . .

Miß Josephine rieb ihre Schulterblätter am Logenpolster wie eine Katze am Ofen. – Plötzlich warf sie hin:

»Don't you speak English?«

Hurrah! Englisch! Das hatte er begriffen. – »Nein. – Leider nicht Englisch. Leider nicht, Fräulein Peperl. – Wienerisch halt. – Deutsch, sozusagen –«

»Oh. – Dutch. That's a pity.«

Nun schien es, als habe sie gefragt: »Bitte?«, und er wiederholte seine Information mit dem gleichen negativen Resultat. – So trat denn eine Pause ein; ungemütlich für beide Teile.

»Das beste wird sein,« dachte er, »ich geb' ihr halt ein Busserl; das is auch eine Unterhaltung und eine internationale Verständigung . . .« – worauf er die Peperl ganz plötzlich um die geschmeidige Hüfte packte, und das ging so schnell, daß sein Bart die ganze kunstvolle Freskomalerei ihres Antlitzes wie ein Besen durcheinanderwischte.

Sein Gesicht ward mohnblumrot, während er versuchte, einen Kuß anzubringen; – es war lediglich Vaseline, was er zu schmecken bekam, und nicht Miß Baker selbst. Sie begann zu strampeln und schrie: »Stop!!« – Aber so leicht ließ er nicht locker. Es war ziemlich schwer festzuhalten, das Fräulein; wie eine Eidechse wand sie sich. Aber er war einmal im Schuß. Jetzt hatte er das Knie erwischt, doch sie hatte Muskeln und rutschte aus jedem Griff. »Obst net stillhaltst!« schnaufte er. – »Stillhalt'n sag' ich . . . Sei doch nicht blöd . . . Ja, Herrgott, sei doch nicht so blöd . . . Lieb's G'schmacherl bist, ein lieb's . . . mach doch keine G'schicht'n . . .«

»Stop!!« schrie Miß Baker und strampelte.

– – – Hier griffen höhere Gewalten ein und trennten Herrn Perlafinger von der Diva. –

Sie ließ einen Strom von exotischen Worten los. Mehrere Herren fanden sich ein, der Direktor, der Zahlkellner, der Servierkellner, der Aufsichtsinhaber mit dem schwarzen Bärtchen und dann noch ein italienisch aussehendes Individuum, das Englisch verstand und der Impresario der Diva war . . . Und sie alle lauschten ihr, wie sie einen Kübel voll von heimischem Dialekt überschwappen ließ und sie alle mit dem Osten von New York bekannt machte.

Sie standen voll grimmer Trauer und blickten auf Herrn Perlafinger wie eine Korona von Oberlehrern. Ein Sektgast war er ja; aber so ein Schauspiel! – Der Ruf von Wien! – Wenn die Diva nun ihre Koffer packen tät'? – Gar nicht auszudenken wär' das . . . Hatte sie's etwa nötig, sich einfach hernehmen zu lass'n? –

Miß Baker zupfte an sich herum; wie ein gerupfter Spatz sah sie aus. Dem Impresario, der sie begleitete, gelang es, sie zu beruhigen . . . wenigstens halbwegs. – Man starrte ihr ratlos nach, während sie ihr niedliches Gesäß resolut von hinnen trug. Und es sah so aus, als ob sie es diesmal nicht ausschließlich aus Liebe zur Kunst so deutlich schwenke . . .

 

Nun wenden wir uns dem wahren Opfer zu, dessen Schäferstündchen von so kurzer Dauer gewesen.

Er wurde während der ganzen Verhandlung nicht einmal angesprochen, sondern der Aufseher, der sich gleich anfangs von ihm ignoriert gefühlt, warf befehlsgewohnt das Wort hin: »Der Herr möcht' zahlen.«

Hierauf näherte sich ein Kellnertrio der Loge, und der älteste, feisteste, kritzelte etwas auf ein Papierchen, malte noch verschiedene Schnörkel darunter, die Ziffern ähnlich sahen, summierte bedächtig und schmiß ihm den Zettel hin. Hierauf wartete er mit eiserner Miene den Effekt auf den Geknickten ab.

Perlafinger war zu konsterniert, um den Zettel würdigen zu können.

»Wieviel macht's denn beiläufig«, murmelte er.

»Hundert Schilling. Denn der Herr wer'n gern noch ein Trinkgeld drauflegen in Anbetracht des unliebsamen Aufsehens, was der Herr verursacht ham.«

»Hundert Schilling!« kam nach einer Pause ein Stöhnen aus dem Kaiserbart. »Für zwei Flasch'n Champagner hundert Schilling?«

»Erstens war's ein französischer Champagner, was der Herr g'habt ham, zweitens kommt die Unterhaltungsgebühr für die Empfangsdame, die hier am Tisch gesessen is. – Also bitte.«

Er wartete mit eiserner Miene. Perlafinger durchsuchte all seine Taschen. Mehr als vierzig Schilling wurden es nicht. Der Ober raffte sie an sich und wich nicht.

»Unseren Star abknutschen und net amal zahlungsfähig«, sagte er lehrerhaft. »Das hab' i gern.«

»Sie kriegen Ihren Sündenlohn schon, Sie Halsabschneider«, stotterte Perlafinger, bei dem der Zorn, das Bastardkind der Beschämung, allmählich die Oberhand gewann. »Und überhaupt – diese Ausdrück'. Für wen halten Sie mich denn eigentlich?«

»Für einen Gent, der die Folgen seines Tuns auf sich nimmt«, äußerte der Ober streng. »Wollen S' jetzt zahlen? Wann S' net zahlen, wer'n S' außerg'setzt, und dann ham S' noch Unannehmlichkeiten, Herr . . . Hofrat.«

»Nichts bekommen Sie! – Eine solche Unverschämtheit!«

»Mir sind demokratisch jetzt, Herr Hofrat. Darf ich um Ihren werten Namen bitten samt Adresse? Sonst hol' i an Wachtmann und krieg' auch noch a Belobigung.«

Seinen Namen zu nennen, wünschte Perlafinger nun ganz und gar nicht, und die Situation spitzte sich zum zweiten Male bedenklich zu. Wie eine Erlösung schien es ihm deshalb, als er plötzlich die Empfangsdame nahen sah. Sie hörte die eifernden Stimmen.

»Was is denn?« fragte sie munter.

»Ganz rabiat ist der Herr«, sagte der Ober mit Nachdruck. »Man muß Maßregeln ergreifen.«

»Ergreifen S' keine«, beschwichtigte die Dame. »Es lohnt sich net. – Was fehlt denn?«

»Die Unterhaltungsgebühr.«

»Ich verzicht' drauf. Zehn Schilling leg' ich selbst zu; das deckt den Sekt. So, jetzt drucken S' Ihnen.«

Zögernd schritt der Ober davon und Perlafinger starrte seinen rettenden Engel mit maßlosem Erstaunen an.

»Aber Gnädigste,« brachte er endlich hervor, »das is ja . . . das is ja . . . geradezu fesch ist das ja von Ihnen . . .«

»Machen S' keine Sprüch'«, sagte sie mütterlich. »Ich hab' mir gleich gedacht, Sie sind weltfremd. Wenn einer aus der guten alten Zeit hochgenommen werden soll in seiner Heimatstadt, da bin ich auf dem Plan. Gibt ja genug Amerikaner, die man rupfen kann. Aber wir wollen doch zusammenhalten, was, Herr Hofrat?«

Diese Dame mit den Silberpailletten, mit den schön gepuderten Schultern – – – sie kam zu ihm; löste ihn aus, sagte nette Sachen, benahm sich mütterlich . . . Wenn das nur in seinen Kopf hineinginge! So träumerisch ward ihm zumut . . .

»Unangenehm is es halt, wenn der Mensch allein ist«, murmelte sie klangvoll. »Auch ich, mein Herr, stehe allein. Wenn ich meinen Sohn nicht hätt' – aber er is ja noch jung. Beiläufig zwanzig.« Sie tupfte sich mit einem Spitzentuch vorsichtig ins Auge. »Wissen S', – man kommt auf Gedanken, wenn man allein ist. – Sie zum Beispiel vergeben sich was mit einer braunen Tänzerin . . . und dann machen S' Dummheiten. – Das war schon eine Leistung!«

Sie lachte plötzlich silberhell.

»Ein Naturkind will er einfach abbusseln, die von ganz Europa verwöhnt wird und dreitausend Schilling bekommt pro Abend, Überstunden net einberechnet . . .«

Die Komik überwältigte sie. Sie lachte Tränen.

Aber die Tränen, die Herrn Perlafinger in den Bart zu schleichen begannen, waren anderer Natur. »Mein Gott«, sagte er dumpf. »Sie haben recht.«

»Satteln S' um, Herr Hofrat.«

»Ach was Hofrat«, sagte er plötzlich rauh. – »Ich bin gar kein Hofrat.«

Jetzt sagte die Empfangsdame etwas sehr Erstaunliches. Sie zwinkerte, brannte sich eine Zigarette an und sprach:

»Aber der Herr Perlafinger sind S'. Und das langt mir.«

Seine Augen wurden kreisrund. »Sie kennen mich?«

»Ich hab' doch schau'n müssen, was Sie so treib'n. Und da hab' ich mir oft gedacht, daß Ihnen ein wenig Auffrischung nicht schaden möcht' . . . Wissen S', den Spruch vom ›Kaiser Koarl‹, wie schön Sie den rausbringen können? – Und das ›Staatsschiff, das kenterte‹?« – Sie bog sich vor Vergnügen. »Was hab' ich da schon g'lacht hinterm Fazinettl, aber Sie ham nie was gemerkt . . .«

Eine ungeheure Ahnung dämmerte, trotz seines Schwipses, in Herrn Perlafinger auf. »Dann sind Sie . . .« verlangte er in aufgeregten Tönen zu wissen: – »niemand anderes, als die Ilonka??«

»Ganz dieselbe noch«, bestätigte sie mütterlich. »Verwitwete Z– – –z . . .« (Hier sprach sie einen Namen aus, der keinen Vokal hatte, an den man sich klammern konnte.) »Freut Sie das? Es gab zwar amal eine Zeit, da ham Sie die Nas'n ganz abscheulich in d' Luft gesteckt . . . Ich war ung'schickt, weil ich doch damals zum erstenmal – sozusag'n – entblättert wor'n bin. Das hängt ei'm nach. – Und Sie war'n so ein stattlicher Mensch und genau wie die Majestät. – Ich war an dumm's Mädel und hab' den . . . (hier folgte wieder der unaussprechliche Name wie behindertes Schneuzen) – heiraten müss'n aus lauter Verzweiflung – Gott hab'n selig; er hat nichts entbehr'n müss'n. Und an Hallodri war's auch. –«

Wieder tupfte sie die Augen. –

»Und jetzt wer'n Sie begreifen, daß ich mich hab' müssen gekränkt fühl'n, wenn Sie mich mit der Baker vergleichen; mit dem afrikanischen Mensch. – Desweg'n bin i gleich wegg'laufen vom Tisch.« Sie trällerte und trommelte mit den Fingern.

 

Die Kapelle summte. Die Peperl saß in der Mitte des Saales, die Beine parallel von sich gestreckt, und sang mit einer gläsernen Stimme ein Lied vom Heimweh. So ein Negerheimweh kennt keine Gnade; unwiderstehlich wirkt es auf die Tränendrüsen.

Irgendwo im Süden, so sang die Peperl, in Louisiana oder in Alabama, wartet eine Mutter auf ihren Sohn; sie wartet, wartet, wartet! Man hatte das Gefühl, daß diese Mutter so lange warten müsse, bis sie schwarz werde; ein schwacher Trost in all dem Leid war es vielleicht dabei, daß sie das letztere nicht mehr nötig hatte.

Die Peperl schaute sich gar nicht im Saale um, sie war jetzt müd' und sanft und klein. Sie sang noch einen kleinen Schlummersong für ein farbiges Baby; immer leiser sang sie, und dann schlief sie mimisch ein. Wie eine geknickte Orchidee – – mitten auf dem Parkett.

Perlafinger beschäftigte sich indessen schon geraume Zeit mit einem weißen Arm, der ihm willig überlassen wurde.

Ilonka drehte sich um und warf den Befehl über die Schulter:

»Ober! – Noch a Flaschen. – – Auf mein Konto.«

 

Und so war denn die ganze Angelegenheit mit dem Versäumnis Herrn Perlafingers endgültig ins Reine gebracht. –

 
Zweites Bild

Die »Lebende Blume«

Die Athletin Barbara saß vor dem Spiegel in der Artistengarderobe und rasierte sich mit einem Schabapparat ohne viel Genuß die Achselhöhlen aus.

Als sie fertig war, trug sie viel Puder auf; sie hatte trotz ihres trainierten Körpers eine zarte Haut und neigte in diesem Punkt zur Empfindlichkeit. Sie beschäftigte sich gerade damit, ihre kurze Zottelfrisur unter eine dralle rotseidene Haube zu bringen, die mit der Farbe ihres Trikots harmonierte, als sie durch Vermittlung des Spiegels bemerkte, daß der kleine Niklas sich hereingeschlichen hatte. Er saß in der dunklen Ecke und betrachtete sie von dort mit seinen unheimlichen Augen.

Die Athletin Barbara beschloß, seine Anwesenheit nicht zu bemerken und sich blind zu stellen. Sie zupfte mit trägen Bewegungen an sich herum; trug hier noch Puder auf, dort noch etwas Schwarz unter die hellblauen Augen. Das hob die ausgewaschene Farbe dieser Augen und gab ihnen die sinnliche Nuance, die zu ihren Muskeln so pikant wirkte.

Sie saß, in ihren Stuhl gezwängt, wie eine grübelnde Löwin. Bei jeder Dehnung ihrer kolossalen Schenkel knackten die Seitenlehnen. Wenn sie nach einem Farbstift oder einem Kämmchen griff, so war es, als angele ein Löschkran nach einer Sardinenbüchse. An ihrem Mund – (einem Kindermund mit trotziger Unterlippe) – lauerte ein Lächeln; sie war mit sich zufrieden . . . Wie sie zu diesem Körper kam, war ihr selber rätselhaft, da eine ziemlich durchschnittliche Seele darin steckte, die durchschnittliche Bedürfnisse kannte; nie wäre sie von selbst auf diese Laufbahn geraten: Not, ein entschlossener Vater, die Familientradition hatten es gemeinsam zuwege gebracht, daß aus ihr und ihren drei Brüdern derart prächtige Anatomiemodelle entstanden waren.

Kurz, es war nun einmal so; und diese rollenden Muskeln, dies schier eckig federnde Gesäß, diese Schultern und dieser Thorax (auf dem die Brüste nur als bescheidene Wegweiser gedeihen durften) waren ein Kapital geworden, das sich seit einigen Jahren trefflich verzinste. Sie hatte sich in ständiger, gemeinsamer Arbeit im Format gleichsam den Brüdern angenähert, die ihrerseits mit ihr umsprangen, als sei sie ein Mann, dabei aber schwer darauf bedacht blieben, das Weib in ihr tunlichst in Zaum zu halten. Dies lag im engsten Interesse der Truppe, denn wenn Barbara es sich etwa einfallen ließe, ihren schlummernden und bisher noch überlisteten Instinkten zum Opfer zu fallen, litte alles: die Attraktion wäre verdorben. So hatte man ihr mächtig zu tun gegeben, damit sie imstande sei, die Pfeile Amors von ihren überzüchteten Gliedern abprallen zu lassen, falls es nötig sei – und zur Zeit (das wußte sie) wiegte man sich darüber in Sicherheit.

Barbara empfand diese Tyrannei sehr stark. Zu brechen war sie nur mit Hilfe eines Beschützers, der dem Körperformat der Brüder entsprach. Dieser hatte sich gefunden in Gestalt des Italieners Borromeo. Die Stierähnlichkeit dieses Menschen war eine derartige, daß er einen Bechstein-Grand samt musizierendem Pianisten auf seinem Leibe, in Brückenform gekrümmt, zu ertragen vermochte; daß er Gewichte mit den Zähnen lüftete, deren bloße Vorstellung zermalmte. Als er eingetreten war mit dem Begehren, sich der Truppe als Fünfter anzuschließen, waren die blonden Männer weniger durch seine mündlichen Argumente beeindruckt, als durch die überzeugende Tatsache, daß er während der Verhandlung in scheinbarer Zerstreutheit ein Fünfmarkstück zwischen den Handflächen krumm bog und dann mit lächelnden Gebiß wieder plättete, – so etwa, wie jemand in Gedanken mit Kaugummi Kapriolen macht.

Es bereitete Barbara tiefes Vergnügen, mit welcher Entschlossenheit diese südliche Erscheinung ihrem blonden Fleische huldigte; mit welch feuriger Ausschließlichkeit er ihr seit kurzem zur Verfügung stand, wobei er es mit merkwürdigem Geschick vermied, offen als ihr Liebhaber hervorzutreten. So war es trotz der Achtsamkeit, die ihr folgte, gelungen, einen Mißklang zu vermeiden . . . Ja, wo sollte es auch zu einer Katastrophe kommen? Im Notfall machte sie sich selbständig mit Borromeo; sie hatten ja beide das Zeug dazu.

Diese Überlegungen stellte sie gewöhnlich während der nachmittäglichen Übungen an, wo es sich öfters ergab, daß sie mit den Schultern und dem Nacken ihres Verehrers in saftig klatschenden Kontakt kam; ihr Gewicht, gekuppelt mit lässiger Hingabe, vertiefte die Innigkeit solcher Augenblicke. Sie spielten miteinander wie junge Raubtiere; zuweilen setzte es Schrammen und Beulen. Aber glichen nicht auch solche Pfändern der Liebe?

– – – Sie fuhr zusammen, denn ihre abirrenden Blicke waren im Spiegel den löcherartigen Augen des kleinen Niklas begegnet, der immer noch aus der Ecke starrte.

»Komm mal her«, sagte sie gutmütig in ihrer tiefen Stimme.

 

Es regte sich leise mit schürfendem Geräusch (wie wenn sich ein Schlangenweib nähert) und darauf fand er sich vollkommen lautlos bei ihr ein. Er trug Sandalen mit doppelt genähten weißen Filzsohlen. Er schillerte über und über, denn sein Körper war mit einem paillettenbenähten Trikot bezogen; blaumetallisch schillerte er. Es war eine sehr aparte Sache, die er sich ausgedacht, und erntete Anerkennung bei seinen Kollegen – obwohl sie, erdenschwere Tiere, für seine Branche sonst nur ein Grunzen übrig hatten und sich über das Geld ärgerten, das er für seine Nummer bekam. Er lieferte tolle Trapezarbeit von unwahrscheinlicher Waghalsigkeit. Er hatte entschieden etwas Unheimliches an sich, doch diese Note minderte er durch seine Jugend. Er war kaum älter als sechzehn.

»Na, kleiner Niklas«, fuhr sie fort . . . »Was schleichst du denn schon wieder um mich herum? Soll ich dich wieder auf den Schoß nehmen, du schlüpfriger kleiner Satan? – Hallo-hup!« Und sie hielt ihm, wie einem zahmen Vogel, den gestreckten Arm hin.

Der kleine Niklas lächelte sehr angeregt und sprang mit federndem Schwung in die Kuhle dieses mächtigen Armes, dessen Schulterteil reichlich so dick war wie sein Schenkel. Sie nahm ihn über die Sessellehne und pflanzte ihn zwischen ihre Knie wie ein Baby. Er kreischte beglückt mit einem exotischen Laut und legte sich zurück, wobei er sich wand und drehte. Seine Metallschuppen rieben sich knirschend an ihrem stoffüberzogenen Leib. Er ermattete; er bettete sich in sie hinein wie in ein wundervoll geschwelltes Plumeau – und die folgenden Minuten waren das halbe Leben. Denn sie beugte sich nieder und zog seinen Kopf an den schwarzen Strähnen heran. Daß sie dabei seinen spiegelnden Ebenholzscheitel zerstörte, focht sie nicht an. Sie drückte ihren schmollenden Mund auf den seinen, der becherförmig geöffnet stand; er erschauerte wie im Fieber.

»Schmeckt das?« fragte sie tief. »Schmeckt das?!«

Ach. welche leichte Mühe es sie kosten würde, dieses Geschöpf einfach zu erdrücken, zu zerquetschen, auszulöschen . . . Nur so zum Spaß; nicht einmal als Kraftprobe . . . Er versuchte, sich schwer zu machen, und während er so seine Behaglichkeit fand, betrachtete sie ihn grübelnd mit leicht gekrauster Nase, und ihr Gesicht bekam wie schon oft etwas Töricht-Fragendes . . . Was war dieser Knabe, der nichts wog, eigentlich für ein Mensch? Borromeo war ein Mensch. Doch dies – Ding hier hatte Temperament, verdiente viel Geld und war eigentlich nur dazu geschaffen, von einem Schoß auf den anderen überzusiedeln, wobei man noch achtgeben mußte, daß man ihm nicht wehtat. Ah, der verdammte kleine Satan; das silberne Fragezeichen . . .

 

Wie oft hatte sie ihn schon dumpf bestaunt! Er hatte so ein seltsam altes Lächeln, so ein zeitloses Lächeln, das nichts bedeutete: als scheine die Sonne auf Bahnschienen. Runde Mausohren hatte er, die durchsichtig schimmerten. Eine Haut von zartem Wachsgelb. Seine Augen glichen Löchern, die alles einsogen; – wenn er sie lange anblickte, war ihr, als schlucke er sie auf. Ja, so war sein Blick – trotz hündischer Ergebenheit im letzten Ende noch kritisch: er graste jeden Fleck ihres Körpers einzeln ab, parzellenweise sozusagen. Er hatte langwimprige Lider wie weiche Bürstchen, die ihre Haut streichelten, wenn sie seinem Kopf einen kleinen Ausflug auf ihrer Brust oder zwischen ihren Schulterblättern gestattete. Seine Brauen saßen hoch und erstaunt in der niedrigen Stirn: als sei ihm plötzlich das lähmende Bewußtsein gekommen, er sei gar nicht ausschließlich nur in seinen hiesigen Rollen heimisch, sondern in anderen Riten, in anderem Klima – in den Vorstenlanden vielleicht als Tanzknabe, in der Nachbarschaft eines heißen Meeres. Fern von den Signalpfeifen der Regisseure, die er oft so fürchtete, daß er das Konfekt fast erbrach, an dem er sich seine weißen Zähne frühzeitig verdorben hatte. Fern von schattenlosen, erbarmungslosen, grell präsentierenden Kulissen.

Er sprach nasal, mit australischem Akzent auf ungeschickten deutschen Worten. Hatte er ein jahrelanges Schiffsjungenschicksal hinter sich? Oder war es nur die Rasse, die ihm so gummigliedrige Tierhaftigkeit, so phantastische Spaziergänge im Raum ermöglichte? . . .

Hier saß die Athletin Barbara mit ihrem Erdenrest von hundertundachtzig Pfund Trainiergewicht und hatte ein Rätsel auf dem Schoß, ein unbequemes Rätsel.

 

Es waren dem kleinen Niklas noch keine zehn Minuten restlos glücklichen Geborgenheitsgefühls beschieden, als die Tür sich plötzlich öffnete und Borromeo erschien.

Er erschien leise, dennoch klirrte alles.

Er kam mit einem breiten Lächeln, den gewichsten Schnurrbart zwirbelnd und animiert von Vorfreude, denn er gedachte bei Barbara, die er allein wußte, noch vor Beginn der Vorstellung ein Schäferminütchen zu erhaschen. Als er aber sah, daß sie Niklas auf dem Schoß hatte und sich auch gar nicht beeilte, ihre Beschäftigung seinetwegen zu unterbrechen, wuchsen die Tätowierungen auf seiner sich dehnenden Brust in einem Dschungel schwarzer Strähnen, und sein blaurasierter Kiefer schob sich vor.

Es lag Kraft in diesem Kiefer; dies war hinlänglich bekannt. All diese Symptome hätten Niklas veranlassen müssen, schlangenhaft schnell das Weite zu suchen; doch er hatte offenbar ein so sparsames Denkvermögen, daß er die Drohung nicht erfaßte.

Der Italiener kettete eine große Anzahl heiserer Worte aneinander. Es war keine Perlenschnur, die er aufreihte. Barbara machte ein gelangweiltes Gesicht und setzte Niklas mit gleichgültigem Griff neben sich auf den Boden.

»Verrenk' dir nicht deinen Kiefer, Tiberio«, sagte sie dabei. – »Du weißt, dies Bübchen ist mein Spielzeug. Du wirst doch nicht eifersüchtig sein auf mein Spielzeug?«

Das Weiße in Borromeos Augen quoll hervor; seine Halsadern schwollen. Er war in einer Verfassung, in der man leicht dazu kommt, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Er pöbelte daher und behauptete, er wisse genau, was es mit dem »Spielzeug« auf sich habe. Er sei Manns genug, sich das nicht bieten zu lassen. Und um dies zu beweisen, gab er der Athletin Barbara eine Ohrfeige, die einen Ochsen betäubt hätte. Es knallte wie ein Schuß. Sie fuhr aus dem Sessel und flüchtete aufheulend in eine Ecke.

Mit kaum zu beschreibender Schnelligkeit wand sich Niklas ihr nach und sprang vor ihr in die Höhe in seinem flimmernden Schuppenkleid. Sie heulte schnaubend, und aus ihren törichten, verwaschenen Augen träufelten Tränen und schwemmten das Schwarz über die Backen bis in den zitternden Mund. Der Italiener stand noch ruhig auf der Stelle, wo er die Züchtigung vorgenommen, und betrachtete, die bronzenen Fäuste in die Hüfte gestemmt. flammenden Auges die Gruppe.

»Sie Unmensch!« schrie Niklas tapfer in seinen überschnappenden nasalen Lauten. »Was für ein Recht haben Sie, die Frau zu schlagen?«

»Hach!« sagte der Italiener langsam. »Was für ein Recht ich habe! Corpo della Madonna! Dasselbe Recht, mit dem ich dich jetzt hinauspfeffere, daß dir die Lust vergeht, dich hier bei Damen herumzutreiben . . . .«

Und er kam mit wogenden Schultern näher. Und jetzt erfuhr Niklas für seinen Heroismus von Barbara einen Dank, den er nicht erwartet hatte. Sie stieß ihn schmerzhaft in den Rücken und zischte:

»So geh' doch schon, mach' doch, daß du fortkommst, du unausstehliches, aufdringliches kleines Biest! Merkst du denn nicht, daß Signor Borromeo dich nicht wünscht? Und wünsche ich dich denn?«

Und nicht genug an diesem Undank: sie zwickte ihn. Ein Schmerz wie ein Feuerstrahl durchzuckte ihn. Er fiel zusammen und lag still. –

Signor Borromeo indessen, der seinen Humor wiedergefunden, stand Arm in Arm mit seiner Freundin vor ihm und blickte auf ihn herab. Barbara stieß Niklas mit der Fußspitze in die Weiche.

»Rasselos«, sagte Signor Borromeo sachlich. »Und degeneriert. – Ein Nigger.«

 

Von diesem Abend ab ließ Niklas sich nicht mehr in der Garderobe blicken. Er hätte wissen müssen, daß Barbaras Zorn auf ihn nur Theater war Borromeos wegen; daß ihr ganzes häßliches und himmelschreiendes Benehmen gegen ihn, den unschädlichen kleinen Verehrer, nur ihrer Angst vor einer zweiten Maulschelle entsprang.

Aber um dies zu überblicken, war er zu exotisch. In seinem Spezialfall vielleicht zu malaiisch. Eine Frau hat kein Recht, in einem Duell zweier Männer ihrethalben Partei zu ergreifen. Doch auch der Europäer in Niklas (vermutlich ein fraglicher Mijnheer) – dieser entwurzelte Weiße fühlte den Gentleman in sich mißhandelt.

Es war unvorsichtig von Barbara, eine silberne Schlange zuerst an ihrem Busen zu nähren, ihr dann ohne Grund auf den Schwanz zu treten und sich an ihrer Angst und Entrüstung zu weiden, statt sie mit der Milch ihrer Zuneigung zu laben. Niklas lief von jetzt ab (wie sie allzu gut verstanden hätte) durchaus nicht umher als scheues, verwundetes Wild. Er begann im Gegenteil, so keusch er auch vorher gewesen, Gefallen daran zu finden, sich den »Fife Smashing Beauties«, wie die Truppe sich nannte, enger anzuschließen und ihren schlichten Zoten zu lauschen. Erschien Borromeo, so verfolgte Niklas ihn prompt mit seinen löcherartigen Augen. – Zunächst wandte der Athlet sich ab oder sah über ihn hinweg.

Dann aber geschah es regelmäßig, daß er schnell, wie verstohlen, die Hand mit seltsam verschränkten Fingern in die Richtung des lauernden Knaben schob und vor sich hinspie: ah! – Das war die Angst vor dem Bösen Blick!

Niklas sah diese Geste, freute sich und führte die Zungenspitze am Mundrand spazieren. Seine Augen wurden noch greller, noch löcherartiger, und klebten an Borromeo. Dieser betrank sich. Wo er Niklas witterte, spie er aus. – Niklas freute sich und haßte wacker weiter.

Diese Konzentration, die ja auch aus einer Überfülle von Temperament kam, schadete seiner Produktion nichts. Ganz im Gegenteil: er war noch nie so in Form gewesen, hatte noch nie mit so herzbeklemmender Selbstverständlichkeit und Lebensverachtung seinen Akt absolviert.

Bevor seine Nummer kam und während der Schimmer der Bühne kalkblau in den Zuschauerraum kroch, konnte man ihn erkennen, wie er, halb stehend und die Füße auf kleine Stützpunkte des Ornaments gebettet, mit schlangenhaft gebogenem Kreuz silbern unterhalb der Proszeniumsloge hing. Er nahm dort bei ihm geneigten Mitgliedern der Direktion gewohnheitsgemäß einen anstachelnden Cocktail zu sich. Unter ihm gähnte die schwarze Tür der Kulisse, in der er dann mit weichem Sprung untertauchte wie ein huschendes Reptil.

Die Lichtgeschehnisse wickelten sich weiter ab; verschiedene Farben überschwemmten die Bühne. Als letzte hielt sich ein Rot, überblendete die amphitheatralisch gestaffelte Menge, deren Geräusch wie das einer großen, schweratmenden Bestie in den Raum trat, und füllte die fernsten Winkel wie Blutgerinsel. Dann ward es wiederum halbdunkel. Der Lärm verebbte. – – – Ein heiserer, trotziger Schrei kam aus der Kulisse; ein Heroldschrei. Dann folgte Niklas.

Er spazierte auf den Händen herein. Er war ein zappelnder Ball von Silber. Er schnellte sich durch zwei papierverklebte Reifen, die rechts und links von unbeweglich hingepflanzten, grotesken Clowns gehalten wurden. Sie hießen »Ned & Nolly« und waren auf einer Europatournee. Der eine war lang und dürr, der andere feist und phlegmatisch. Nichts konnte sie verblüffen.

Es gab ein krachendes Geräusch von berstendem Papier. Die Reifen entrollten unter dem Zetern ihrer Besitzer, die insgeheim auf Niklas aufzupassen hatten. Dieser stand nun auf einem zehn Meter hohen exponierten Aluminiumgestell; frei und federleicht. Er bog die Knie – und während ein langer Trommelwirbel das Orchester erschütterte, stieß er sich ab, überschlug sich zweimal in der Luft, und als man dachte, er müsse wie ein Sack auf den Boden aufklatschen, hing er an einem kaum sichtbaren Seil. Vom Anprall seiner treffsicheren, gepuderten Handteller bäumte es sich; in weiten Pendelschwingungen fuhr es auf und nieder . . .

Doch der Springer wiegte sich wie ein Fabelwesen, wie ein Falter über der Schlucht des Todes: – Tyrann des Raumes, den er mühelos zu meistern schien! Den Kopf reckte er nach der Sonne, der Bogenflamme unter der verdämmernden Höhe des Bühnendachs, die dort ihre leise siedenden Fixsternhymnen sang . . . Das Publikum lag im Bann. Nur mühsamer Atem bewegte die Tiefe.

Endlich – sieh! – lief er wieder die Leiter des Gestells herab wie ein leuchtendes Wiesel; löste er die schwindelnde Spannung; glitt er aus seiner entrückten Region auf das zurück, was den anderen gesicherter Boden, Erde und Welt bedeutete.

 

Man mußte Signor Borromeo einräumen, daß jenes Organ, daß bei ihm Hirn hieß, nicht in der Hypertrophie seiner Körperlichkeit eingeschrumpft war; vielmehr schien es, daß es seinen normalen Umfang beibehalten hatte und darüber hinaus von blendenden künstlerischen Einfällen gelegentlich durchzuckt wurde.

Dies letztere geschah zwar nicht allzu häufig, und keineswegs konnte er sich schmeicheln, daß etwa bei der Umwerbung und Eroberung Barbaras sein Geist eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Immerhin machte die Seltenheit solchen Vorganges ihn bedeutsam, und man nahm ihn ernster und andächtiger zur Kenntnis, als sonst die Marotte eines »Stars«.

Er machte nämlich der Truppe im Artistencafé einen Vorschlag, der an Poesie seinesgleichen suchte. Es sei ein neuer Trick. Die alten zögen nicht mehr; er habe (und das beschwöre er bei der Mutter Gottes und dem Blut sämtlicher Heiligen) schon dreimal in den letzten Tagen bemerkt, daß man in den Orchesterlogen Zeitungen lese. Sei das der Lohn ihres Schweißes? Es sei ja auch wie Kasernendrill oder Turnerfest, was sie jetzt machten; man könne schon fast einen Feldwebel damit zum Gähnen treiben. Hätten die Herren, mit denen zu arbeiten er die Ehre habe, denn ganz vergessen, daß sie Künstler seien?! – Man müsse etwas absolut Neues bringen.

Die anderen vier Smashing Beauties sahen sehr gedankenvoll drein, mit dicken Falten unter den blonden Simpelfransen, und meinten, es habe Hand und Fuß, was er vorbringe. – Barbara hing an seinen Lippen. Er bemerkte es und lächelte geschmeichelt.

Er paffte eine Wolke aus seiner Hafenzigarette über den Tisch. – Seine Idee sei, sagte er, folgende: er wolle die ganze Gruppe stemmen. Es sei eine verdammte Anstrengung, aber in einer ganz bestimmten Positur (die er ihnen erläuterte) sei es vielleicht zu machen. Der älteste der Brüder, auf Borromeos Schultern stehend, solle die Balancierstange abgeben für die zwei anderen, die rechts und links den Nacken dieses Ältesten als Stützpunkt für eine Streckschwebe benützten. Auf dessen Schultern wiederum solle Barbara einen geknickten Handstand machen mit gespreizten Beinen. Das ganze nenne er Die lebende Blume, und er verspreche sich viel davon zu Trommeltusch und bengalischer Beleuchtung. Der Trick erfordere eine Woche Training und sei ein glänzender Abgang für die Saison.

Beifallsgemurmel. –

»Aber welche Verwendung« – rührten sich jetzt die Brüder – »habe man dabei für Niklas? – Er sei effektvoll . . .«

»Ha!« sagte Borromeo. »Er getraue sich, die lumpigen achtzig Pfund noch hinzuzunehmen. – Aber –« – und hier vermied er wieder die Augen, die ihn anglupten wie glimmende Löcher – »dieser Nigger müsse sich an ihnen emporhanteln, wenn er auf Barbaras Gesäß hinauf wolle. Dann aber könne die Gruppe die Balance nicht wahren . . . Er lehne ihn also ab.«

Man dachte nach.

Plötzlich unterbrach Niklas das Schweigen mit der singsangartigen, nasal hervorgestoßenen Bemerkung:

»Mr. Borromeo sagt, mein Gewicht macht ihm nichts aus. Er ist sehr stark. Er sagt, man macht eine Lebende Blume. Well, zu einer Blume gehört ein – Smeterling, das aus die Blume saugt . . . herabswebt . . .«

Alles horchte auf. Die Idee zündete.

»Fräulein Barbara . . . sie macht ein Handstand. Well. Sie streckt das – er kämpfte um das Wort – Gesitz in die Luft. – Ich komme vons Trapez und mache mein Handstand auf Fräulein Barbaras – Gesitz.«

Ein großes Gelächter setzte ein, besonders da Niklas seinen Vorschlag mit viel modellierenden Handgesten begleitete. Unwillkürlich wanderten die Blicke nach der trikotübersponnenen Gegend an der Person der Athletin. Dieser Körperteil war an ihr in der Tat so prächtig entwickelt, daß er ein einladendes Feld für Experimente bot. Sie wand sich geziert und kreischte belustigt auf, wobei sie Niklas einen Rippenstoß versetzte.

Borromeo zerrte nervös an seinem gewichsten Bart und fluchte leise und heiser. – Er fühlte sich überstimmt und zuckte mit den Schultern . . .

 

Schon am nächsten Nachmittag begannen die Proben. Daß ein Handstand auf noch schmalerem Fundament als auf Barbaras ausgedehnter Sitzbasis nur eine Lappalie für Niklas bedeuten konnte, war im vornherein klar. Er wurde instruiert, sich beim ersten Pfiff von einem Trapez herab beim Aufrollen des Vorhangs mit großer Vorsicht auf den ihm zugedachten Platz herabzulassen . . . mit größter Behutsamkeit! – und dann, wenn Borromeo einen zweiten Pfiff tue, solle er sich wieder aufs Trapez zurückbegeben.

Zahllose Male versuchte man den Trick, ehe er gelang. Zunächst war Borromeo kaum imstande, stehenzubleiben und mußte sich von hinten stützen lassen. Die Hände hinter dem Nacken ineinander verankert wie stählerne Zinken, den Stiernacken gebeugt, so daß er mit den gebirgigen Schultern eine einzige Wellenlinie bildete, hielt er als zweiter Atlas zitternd stand. Auf ihn senkte sich ruckweise die ungeheure Last. Es ächzte aus dieser Last; Schweiß tropfte herab heiß wie Wachs.

Das erste Mal schluchzte Borromeo, fluchte schauerlich und betrank sich. – Das zehnte Mal wischte er sich lediglich den Kopf mit einem gewaltigen Kattuntaschentuch, aus dessen Mitte im Farbdruck der »Duce« grollte, grinste erschöpft und griff nach einer Zigarette.

Die Schmeicheleien, mit denen man ihn überschüttete, ließen seine Eitelkeit zur Ekstase schwellen und lösten ihm die Zunge. Er gab sein holdes Geheimnis preis, indem er von nun ab ohne Scheu von Barbara öffentlich Besitz ergriff als von der ihm vorbestimmten Braut. Was sollte man tun? Man verhieß, sie ihm nach der ersten offiziellen Darbietung seiner Wunderleistung anläßlich einer entsprechenden Verlobungsorgie in aller Form an die tätowierte Brust zu legen . . .

Was Niklas betraf, so hatte er sich einige Male zart wie ein fallendes Herbstblatt auf der Spitze der Pyramide niedergelassen. Die nächstbeteiligte Person, Barbara, hatte ihn kaum gespürt. Er hatte einen silbernen Ring aus sich gemacht, war langsam wie ein Sekundenzeiger im Umlauf einer Minute auf die Füße zurückgesunken, hatte sich aufgerichtet und das Trapez wieder erangelt, dunkel blinzelnd und traumwandlerisch gewandt . . .

 

Der große Abend ist da.

Der Trommeltusch rollt.

Der Scheinwerfer speit zischend seinen Lichtkegel auf die Bühne. Sie sind in Weiß, die »Fife Smashing Beauties«; nur die Athletin Barbara trägt ein grellrotes Brusttrikot zu kokett gebauschter Schoßhose. Ihre weißbepuderten nackten Beine enden in roten Sandalen.

Es ist eine ungeheure lebende Blume aus bebendem Fleisch, die dort entfaltet prangt. Es ist, als streiche ein flauer Wind über ihre gespreizten Blätter, die aus drei Schenkelpaaren bestehen. Fast unmerklich schwankt das Gebilde, doch es steht! – Es steht!!

Rasselnder Atem dringt aus ihm hervor, gewürgter, – das ist die knirschende Selbstvergewaltigung von fünf Körpern. Die Blume wird zitronengelb, dann tintenblau, dann purpurn. In diesem Purpur wirkt Barbara fast schwarz. Dann ergrünen sie alle in einem fahlen Seegrün – und es pfeift ganz unten. Pfeift kurz und schrill.

Ein flimmerndes Insekt pendelt herab; läßt sich langsam nieder auf dem höchsten Blatt der Blume . . .

Was tut es dort? Es tastet, regt sich. Will es vordringen in den Kelch?

Immer noch brodelt dies fahle Seegrün auf der Gruppe.

Niklas sitzt auf den Fußballen, auf den Schenkeln Barbaras.

Er sieht, umrahmt vom blaugeäderten Fleisch zweier gestreckter Kniekehlen, das Kinn der Athletin und ihre pralle Unterlippe. Sein Blick taucht an einer weißen Männerbrust herab mit pulsierenden Muskeln. Und ganz unten sieht er schwärzlich beflaumte, grobe Finger, verhakt wie Greifzangen auf einem angekitteten Scheitel, dessen widerlich weiße Rinne sich über einem kantigen Hinterkopf bis in den Nacken windet. Zwei Ohrmuscheln stehen von ihm ab wie rote Trichter.

Die Augen des kleinen Niklas verengen sich zu schwarzen Ritzen.

»Nigger« hatten sie zu ihm gesagt, als er auf dem Boden der Garderobe lag. »Degeneriert« hatten sie ihn genannt; – »zudringlich« . . .

Und er erhebt sich in den Handstand. Seine Hände greifen in das elastisch emporschwellende Fleisch; fast gewichtslos schleudert er seine schlanken hellbraunen Beine empor und biegt das Kreuz ein, daß die Pailletten des flimmernden Panzers knirschen.

Da pfeift es unten ein zweites Mal; halberstickt.

Niklas weiß, nun soll er wieder von dannen »schweben«; zum Trapez zurück; naschhaftes Insekt soll er sein; flüchtiger Falter.

Aber er tut es nicht. Er hält sich weiter im Handstand; ja, er tastet einen Zoll nach vorn, den blaugeäderten Kniekehlen Barbaras zu.

Sein glühender Blick sticht hinunter, in Borromeos Hinterkopf. Nervosität, dann Angst beginnen durch dessen Stiernacken zu zittern. Vor seinen blutunterlaufenen Augen, in qualvoller Bemühung halb emporgedreht, zerfließt das Publikum zu einer einzigen bleichen, verstörten Maske. »Nun hab' ich euch in der Hand«, denkt Niklas und Wollust durchschüttelt ihn. »Nun seid ihr mir ausgeliefert . . . ihr plumpen Tiere . . .«

Und statt sich vorsichtig wie ein Hauch wieder auf die Füße zu stellen, springt er und stößt sich ab; tritt mit Kraft in diese Doppelrundung hinein, in dies aufreizend und brutal geballte Fleisch; hängt wieder am Trapez und schwingt sich . . . schwingt sich mit schrillem Schrei . . .

Im schaukelnden Gesichtsfeld sieht er die Gruppe auseinanderpurzeln. Und inmitten der Katastrophe, dumpfen Publikumsaufschrei im Gefolge, geschieht ein Krach; ein kurz prasselnder Ton.

Es klingt, als ob man eine Kokusnuß zerspellt.

Es ist die Athletin Barbara, die sich überschlagen hat und mit ihrem ganzen Gewicht aus fast drei Metern Höhe auf Borromeos Nacken landet . . .

In einem rotbespritzten Brautbett, die mächtigen Glieder seltsam ineinander verankert, – so liegen die beiden da.

Die Trapezschaukel knarrt in immer gewaltigerem Schwung, als wolle sie das flimmernde Wesen bis zu den Sternen schleudern. Wie ein Geierschrei dringt es herab. – Noch hinter dem Vorhang, der im Tumult herabschießt, hört man diesen hellen, triumphierenden Schrei.

 
Drittes Bild

Der Apfelsinentrick

Zu Hamburg auf dem »Meßberg« steht ein riesiger Lagerschuppen: die »Kasematten«; dort werden die ausgebooteten Südfrüchte sortiert, aufnotiert und den Bestellern zugeteilt. Bei diesem Geschäft blüht der Gelegenheitsweizen der »Hoppenmarktslöwen« – jener sonnigen, weitbehosten, in Sweater und Schiffermütze gekleideten Existenzen, ohne deren Organisiertalent wohl manche Marktfrau aus ihrer wettergebeizten Haut führe. Denn die Hoppenmarktslöwen verhelfen einer jeden dieser Matronen zu ihrem Anteil und opfern – gegen geringes Entgelt – bei jeder neuen Sendung ihre Muße. Sonst könnte man sich gar nicht ausdenken, was für Schlachten geschlagen würden unter den Besitzerinnen der Fliegenden Gemüsehallen, bis in ihren Scheuern, das heißt unter ihren roten Pilzschirmen, alles in sicherer Hut verstaut liegt.

Eine dieser unbedenklichen Damen war es nun, die ihren »Assistenten« nicht nur durch großzügige Bezahlung überraschte, sondern auch durch ein unvermutetes Geschenk – vor dem er sich aber scheu zurückzog. – So fiel das Geschenk (ein temperamentvoller Knabe mit hoher Stimme) alsbald an die Spenderin zurück. Sie war nicht mehr ganz jung. und so äußerte sich ihr Mutterinstinkt mehr in mürrischer Pflichterfüllung als in übermäßigem Enthusiasmus. Zur Beaufsichtigung gab sie das Kind auch gern weiter, etwa wenn sie einen Köhm zu genehmigen oder einen anderen wichtigen Gang zu tun hatte – und so machte Sylvester schon in zartester Jugend die Runde unter den sämtlichen Pilzschirmen des Hopfenmarktes und tat Einblick in diesen Winkel der Menschheit – eine Tatsache, die ihn dem Leben gegenüber frühzeitig stählte. Später trieb er sich auch oft auf dem Bahnhof umher und entwickelte eine große Fertigkeit in kleinen Diebstählen. Die Vorsehung, die im Regenhimmel Hamburgs lauerte, schien ihn als Bagatelle hinzunehmen, bei der ein Einschreiten sich kaum verlohne – jedenfalls rutschte er der Polizei gewöhnlich durch die Finger. Selbst im Freihafen war er manchmal zugegen wie ein Mäuslein im Speicher; dort gelang es ihm jedoch selten, mehr zu erwischen als etwa ein Paket amerikanischer Zigaretten, deren Anpreisung: »You run a Mile for a ›Camel‹« wahr wurde insofern, als Sylvester mit der Beute mindestens eine Meile zu rennen hatte.

Schon des Säuglings Nüstern hatten einen ganz bestimmten Duft empfunden: an den Apfelsinen. Seine kleinen Hände hatten nach den goldenen Bällen getappt: sein Geschmack, sein ganzes Wesen war durchzogen und getränkt von dieser benebelnden Süße. Wollte die mürrische Matrone, seine Mutter, ihn ruhig bekommen, so brauchte sie ihm nicht jenes todsichere Schlummertränklein, nämlich einen Kaffeelöffel mit Wandsbeker Kümmel, einzuflößen – (brauchte sich also nicht selbst zu verkürzen); – sie hatte nur nötig, ihn in die Kasematten mitten in die rollenden Berge von Orangen zu legen. Tausende von umgestülpten Kisten spien ihren Segen in die Halle, der eilfertig aufgeschaufelt und gewägt wurde. Aus zerquetschten und zertretenen Früchten, aus gelbem und blutrotem Brei stieg der Süden auf wie ein süßes Gas.

Die Früchte, glatt und rund, glitten ihm durch die Finger, und seine Spiele mit ihnen waren noch ziellos. Eines Tages – (er mochte sieben Jahre zählen) – geriet er mit einigen anderen Straßenarabern seines Alters nach Stellingen. Dort in der Dressurhalle sah er eine Gruppe von Seehunden Nasenball spielen. Das Schauspiel der schlangenhaft sich windenden Hälse mit den spitzschnauzigen Köpfen, die große bunte Guttaperchabälle mit Nasenstübern steigen ließen – »ha–u, ha–u« dazu kläffend, – die feuchten, klatschenden Schwimmfüße – dieses Schauspiel bannte ihn so, daß er sein scharfgeschnittenes kleines Gesicht zwischen die Stäbe steckte und zur Freude des Publikums mitzubellen begann. Ein großer Seelöwe kletterte jetzt in monströser Weise über eine Pyramidenleiter und balancierte einen Chaplin aus Kapokwerg, und als er wieder auf seiner Trommel saß und schleimig-hohl hustete, schrie Sylvester vor Begeisterung so laut, daß der Dompteur Christian Lohmann ihn in den Käfig einlud und ihm erlaubte, den Seehunden halbe Schellfische zuzuschleudern . . .

Hier begann der Wendepunkt in seinem Leben. Er begann, es den Seehunden nachzumachen und zu jonglieren. Bald war er auf dem »Meßberg« eine gesuchte Persönlichkeit. Zuerst gelang ihm der Trick mit vier Apfelsinen, die er in allen möglichen Stellungen – liegend, im Hocksitz oder springend – aus der Luft holte. Die Anzahl der goldenen Bälle stieg, und mit der Zeit wurden es acht. Sein Honorar für eine solche Leistung war eine Gemüsemahlzeit oder etliche Groschen. Stets fand sich ein bewunderndes Publikum dafür. Sein Vater versuchte, da er eine Erwerbsquelle in dem Sohn witterte, sich ihm wieder zu nähern, doch die Mutter wahrte wütend ihre Vormundschaft, und sie war es auch, die den ständigen Bitten Sylvesters nachgab und ihn, als er zehn Jahre zählte, in den Zirkus Ortolani führte.

 

Mr. Tsing, ein Chinese aus Annam, vier Fuß hoch, schleuderte in Gemeinschaft seiner zahlreichen zierlichen Familie, in papageibunten Kitteln und unter hohen Vogelschreien, allabendlich Fontänen der unhandlichsten Dinge ins Bogenlicht. Sylvester war derart außer sich vor Anschlußbedürfnis an diese flachgesichtigen Wunderkinder, daß seine Mutter ihn kurz entschlossen zu der Truppe brachte, als diese hinter einem Zelttuch von Miniaturschüsseln tafelte, und es dem Vater und Leiter klarzumachen verstand, daß Sylvester in die Truppe aufgenommen zu werden wünsche. Mr. Tsing lächelte und wand sich vor höflicher Ablehnung, doch die Matrone vom Meßberg riß ihrem Söhnchen kurz entschlossen den Anzug und das Hemd vom Leibe und präsentierte ihn, wie Gott ihn geschaffen: sehnig, feingliedrig und voll verblüffender Gelenkigkeit.

Die sechs Chinesenkinder mit großen schwarzen Augen saßen einen Augenblick stumm, in Verblüffung versenkt über diesen blonden Körper, der dem ihren ähnlich und doch so fremd schien. Dann zwitscherten sie sehr erregt durcheinander in kakelnden und spektakelnden Silben. Sie sahen sich ähnlich wie Eier, und auch das Geschlecht war bei ihnen verwischt, weil sie die gleichen schwarzen Seidenhosen trugen und die gleichen bestickten Käppchen, unter denen ihre Frisuren verschwanden. So war es nicht ersichtlich, ob Sylvester es dem weiblichen oder dem männlichen Element in der Truppe verdankte, daß Mr. Tsing sich erweichen ließ.

Er bat ihn heran und betastete seinen Leib wie eine Violine. Besonders interessierten ihn Finger und Zehen. Dann ließ er ihn seinen Apfelsinentrick vorführen; sein Lächeln glitt aus dem der Ablehnung in das der Verwunderung hinüber – viele kleine Schnalzlaute gab er von sich. Sylvester durfte sich ankleiden, und vom nächsten Tage ab war er Schüler Mr. Tsings, und die schwarzbehosten, aalglatten kleinen Satane, in deren Mitte er geriet, machten sich zunächst ihren Spaß daraus, ihn mit kleinen Tücken und Intrigen zu verfolgen. Sie trainierten jeden Vormittag, und nach einigen Monaten war er ihnen auf den Fersen. Unzählige Male verletzte er sich an Tellern, die ihm an den Schädel flogen; an Messern, die er falsch erwischte. Doch seine große Gutmütigkeit und sein Ehrgeiz trugen den Sieg davon.. Sie ärgerten und verwöhnten ihn in einem Atem. Sie streichelten ihn und legten ihm Fallen; – sie stellten ihm kindlich das Bein und gurrten ihm wiederum Dinge ins Ohr – unartige, exotische Dinge, die er nie begriff . . .

Endlich kam der Abend, da Mr. Tsing ihn offiziell in der Gruppe mit auftreten ließ. Keuchend, beherrscht, äußerst fix und schmal, in schwarzem, blumendurchwirktem Kittel und die blonden Haare unter einem Käppchen versteckt, absolvierte er sein Debut. – Am Schluß der Nummer kam Mr. Tsings Glanzstück: das Boomerang-Spiel.

Er jonglierte mit zwei abgeplatteten Dolchen, zwei Holztellern und zwei geknickten Keulen. Zunächst stiegen diese Gegenstände organisch auf in engen Kreisen. Dann erweiterte sich ihre Flugbahn zur Ellipse, wie Blätter einer Blume schräg in den Raum hinein magisch sich öffnend und schließend. Die kleine nervöse Hand gab ihnen unerhört präzise Drehungen mit auf den Weg, – inneren Drang, umzuschwenken und zurückzukehren in die zauberhaft lockende Handhöhle – wie Vögel ins Nest. So stand Tsing breitbeinig da mit verzücktem Lächeln; tauchte die Hände in den Raum und vernichtete spöttisch das Naturgesetz. Immer ferner kreiste das Belebte, das von seinem Willen Geladene, um knapp am Boden – wie umgeknickt in der Bahn – zurückzutauchen: in einer zuckenden Sekunde gerettet von zwangsläufigem, atemraubendem Fiasko . . .

Sylvester wurde mit Leib und Seele ein Stück dieser seltsamen Maschinerie aus vergewaltigten Körpern – tierischen und menschlichen –: des Zirkus. Der Zirkus verschlang ihn und wurde seine Welt – troff auch das Mondsilber auf das gewaltige Zelt herab oder rüttelte daran peitschender Regensturm: – im Innern dieses zigeunernden Gehäuses, dieser aneinandergekuppelten Wagen schwärmte ein toller Rhythmus, wurde Wagnis auf Wagnis gehäuft.

Der plärrende Tubenschall des Orchesters vernichtete jedes Gefühl für ein Draußen, für eine Welt jenseits der grundlosen Segeltuchflächen. Nur hier innen war das Leben, wütendes, wildes, buntes Leben; – alles jenseits verblaßte. Aus irgendeinem wesenlosen Nebel kroch täglich der Ameisenhaufen, dreitausend Menschen aus Nirgendwo, – füllte schwarz, eine einzige brandende Welle von Klatsch- und Beifallsgetöse, die erhöhten Sitzreihen und wurde dann wieder, unter plärrenden Tubenstößen, ins Nichts hinausgesogen.

– – Kabylen stürmten auf zottigen Gäulen herein, wanden sich abenteuerlich, geschickt wie Marder, um die Bäuche der hastenden Tiere, kletterten an Sattelgurten und Mähnenknoten umher wie an Turnböcken und warfen ihre heiseren Wüstenschreie einander zu. Hierauf erbauten sie drei schwankende, steile Pyramiden, gekrönt mit trillernden, athletischen, zottelköpfigen Knaben wie mit Apotheosen junger Kraft. Die Gebilde fielen elastisch auseinander und lösten sich in rad- und saltoschlagendes Chaos auf.

Sechs Zebras liefen leicht bockend, Wildpferdzähne bleckend, mit getigerter Keulenkraft und feinem, hartem Hufschlag um die Arena.

Durch einen anderen Eingang schritt in rötlich-schwammiger Gedunsenheit das Nilpferd Graziosa, erkletterte zaghaft eine geschmückte Tonne und drehte den walzenförmigen Leib mit ungeheurer Bemühung dort umher, als sei es der Nabel eines Rades. Es öffnete ein maßloses Maul; ein hohler Rülpston stieg hervor.

Es gab acht Elefanten; sie trieben ihr ungeheures, träges Zeitlupenwesen mit läppisch hellem Trompetenschrei. Die ganze Welt war erfüllt von den schiefergrauen Kolossen, die sich zum Schluß auf der Brüstung der Arena niederließen und sich ihrer ungeheuren Gesäße zögernd zum naturwidrigen Zweck des Sitzens bedienten . . .

Nun kam der Clou, der Pferde-Akt, und der Stallmeister Daniel Petersen zeigte sich in vollem Glanz. Sylvester, der draußen auf seine Nummer lauerte, erlebte mit schauerlich-süßem Schreck seine tägliche Liebe, die ihm, dem Jungen, schwächend in die Knie fuhr: seine gleichaltrige Freundin, seinen Kummer und sein Idol . . . Die Kunstreiterin Camilla . . .

 

Sylvester war schon sieben Jahre Mitglied des Zirkus Ortolani. Die Annamiten hatten längst ein anderes Engagement gefunden und waren durch eine solid arbeitende Japanertruppe ersetzt. Sylvester nahm jedoch eine Ausnahmestellung ein, die sie ihm widerwillig einräumten. Er war ein Meister in seinem Fach; ein zweiter Rastelli. Er beherrschte den Boomerang-Trick und vieles mehr. Er wurde hoch bezahlt. Und sein Beruf hätte ihn völlig befriedigt, wenn ihn nicht eines immer wieder gestört hätte: sein Haß gegen den Stallmeister Petersen. Und dieser Haß war gewachsen die Jahre hindurch und war gereift im gleichen Zeitmaß mit der Anhänglichkeit, die ihn zu Camilla trieb.

Petersen war die Seele des Etablissements, der General all der Vergewaltigung von Mensch und Tier, eine gewaltige blonde Bestie, der seine Kommandos an der drei Meter langen, schußartig krachenden Peitschenschnur in alle Windrichtungen schleuderte und bedingungslose Unterwerfung forderte. Weitgehende Vollmachten der Direktion blähten seine diamantengeschmückte Hemdbrust. Sein Frack saß prall an den Hüften; sein Hemdkragen trieb sich wie ein Brett in die violetten, von geplatzten Äderchen überzogenen Wangen; der spiegelnde Zylinder gab seinem Kopf Distinktion und Verklärung; und auf seiner becherförmig gewölbten Lippe saß ein Schnurrbart von der Konsistenz einer Zahnbürste, gesträubt und hart. – Kurz, er war ein ansehnliches Exemplar eines Stallmeisters und ganz das, was man sich unter einem solchen gewohnheitsmäßig vorstellt. Der feinere Unterschied zwischen ihm und anderen Herrschern seiner Branche betraf jedoch das Seelische – insofern, als es nach allgemeinem Dafürhalten schlechterdings fehlte. Er war nicht tückisch, er war nicht gefällig – er handelte lediglich nach Zweckdienlichkeiten und füllte deshalb seinen Platz prachtvoll aus, assistiert von einem rothaarigen Pferdebesorger, Leibdiener und Sklaven, der auf den Namen Zorro hörte.

Was nun Camilla betraf, so hatte er dies schmächtige Waisenkind, das ihm aus einer polizeilich aufgelösten Artistengruppe zugelaufen kam, frühzeitig adoptiert mit der mürrischen Kalkulation, dieser biegsame und hübsche Körper könne Möglichkeiten enthalten, die sich verzinsen ließen. Die Adoption verlieh ihm Besitzrechte, und er ließ es sich angelegen sein, diese mit seiner Dreimeterpeitsche auszuschlachten und aus dem erschrockenen Kind alle Gewandtheit herauszukitzeln, die herauszuholen war – auf dem Wege der Hohen Schule.

Camilla war jetzt siebzehn, also so alt wie Sylvester, durchaus ein Geschöpf ihres gütigen Ziehvaters, mit einer verprügelten, sanften Seele und mit einer Hornhaut an Waden und Schenkeln. Seit sie die Hölle durchgemacht, – die er mit dem Namen »Training« belegte – hatte sich in ihr eine Stumpfheit eingenistet, die auch freundlichem Entgegenkommen trotzte. Petersen behandelte sie jetzt mit satter Ruhe und heimste ihre Gage ein. Er verwöhnte sie nur soweit, als ihre Gesundheit es erforderte – im übrigen hatte er sie ganz zu dem gemacht, was er wollte.

Wenn er sie vom Pferd hob unter prasselndem Beifall und sich mit ihr verbeugte, so blieb das mechanische Lächeln ihr auf den kindlichen Zügen stehen wie geronnen; – für Sylvester war es ein Alpdruck.

Er brauchte lange, bis er dieses Lächeln löste. Zunächst wurde ein tagelanges Schluchzen daraus und »eine Indisposition der Kunstreiterin Camilla«. Und als die Maske geschmolzen war, kehrte das Lächeln wieder – doch nicht seelenlos, als Grimasse »for show«, sondern verwundert und weich lebendig. Camilla begann zu lieben. Rückhaltslos und ein erstes, stärkstes Mal. Petersen nahm davon Kenntnis und verbat sich bei Sylvester allen Ernstes die Erzeugung derartiger Gemütswallungen, denn er habe viele Jahre ehrlicher Arbeit an Camilla hingehängt und gedenke vorläufig nicht, einen Flirt zu dulden. – Wonach er, im allgemeinen und in die Gegend hinein, zur Bekräftigung seine Peitsche krachen ließ. Sylvester war blaß geworden und hatte an diesem Abend kein Glück beim Jonglieren. Zweimal mißlang ihm der Boomerang-Trick. – So fing es an.

 

Es wurde immer schlimmer, immer eindeutiger mit dieser Liebe. Die Schicksalsähnlichkeit zog sie magnetisch zueinander, und beider Arbeit litt darunter. Der Zustand schien unhaltbar, und Sylvester ging wieder zum Stallmeister.

»Sie müssen wissen, Petersen,« sagte er, – »daß es kein Flirt ist. Ich will Camilla zur Frau.«

Petersen musterte ihn mit einem rohen Blick aus seinen vom Arenastaub entzündeten Lidern hervor. – »Sehen Sie mal, Sylvester,« sagte er fast gemütlich, – »ich habe das Frauenzimmer nun sechs Jahre lang trainiert und sozusagen ein Stück Resultat aus ihr gemacht. Das habe ich natürlich nur zu dem Zweck getan, um sie dem ersten besten jungen Messerschmeißer zum Präsent zu machen; wie?«

»Ich verdiene. Ich bin in der Lage . . .«

». . . eine Frau zu ernähren. – Lassen wir das bürgerliche Geschwätz. Darum handelt es sich nicht. Sie verdient ja auch.«

»Sie zahlt Ihnen natürlich Ihre Spesen ab, Petersen . . .«

»Sehr gütig. – Aber die nehme ich mir sowieso. Bis sie einundzwanzig ist. Aber auch dann werde ich verhindern, daß sie heiratet. Sie ist vorzüglich in Form. Wenn sie Kinder bekommt, ist es aus mit der Hohen Schule.«

»Von Kindern ist ja keine Rede, Petersen . . .«

»Was wollen Sie! – Sie sind verliebt. Wer garantiert mir . . . und überhaupt. Also – wir lassen das Thema fallen. Vier Jahre lang, mein Lieber, lassen wir das Thema fallen.« Er spielte mit dem Peitschenknauf.

»Haben Sie denn keine Spur von Herz?!«

»Ich sage Ihnen –« sagte jetzt Petersen und die Borsten an seiner Oberlippe sträubten sich – »lassen Sie das Mädchen in Ruhe!!« – worauf er sich sporenklirrend entfernte.

– – – Es passierte eine Woche später, daß die Peitsche des Stallmeisters beim Morgentraining sich in Regionen verirrte, an denen Camilla noch keine Hornhaut trug. Da er für ihr zimperliches Gewinsel, das daraufhin schallend einsetzte, kein Verständnis hatte, so gab er der vom Pferd Gerutschten noch einige erbauliche Schmisse, so daß die Schnur sich um ihre Brüste wickelte wie ein glühender Draht. Hierauf wurde sie still, doch Sylvester, der in der Nähe geweilt, äußerst lebendig. Er stürzte herzu und warf sich auf das Mädchen. »Sie Rohling,« keuchte er dabei, »– das werden Sie büßen. Ich werde Sie anzeigen. Ich werde veranlassen, daß Ihre Vormundschaft . . .«

Petersen war nicht dumm. Sein Gesicht wurde krebsrot, dann blaß. Er blieb schweigend stehen und nagte an seiner Lippe. Dieser Sylvester machte ihm allmählich zu schaffen, und so drehte er sich auf den Hacken um und ging hinaus. Ohne ein Wort. – Und bei der Jubiläumsfestlichkeit, die der Zirkus seinem Personal an diesem Abend gab, – bei einer Grog- und Sektsitzung im ersten Vereinslokal der Stadt, holte er sich seinen rothaarigen Sklaven heran und sprach mit ihm, lange und eindringlich.

Am nächsten Morgen bat er in milden Ausdrücken Sylvester um eine Unterredung. –

»Er gebe zu,« sagte er, »er habe sich hinreißen lassen. Nervosität, an der er in letzter Zeit leide, habe die Oberhand gewonnen, und so habe er beim Training das Ziel verfehlt. – Er habe das Pferd gemeint. – Es tue ihm leid.«

Sylvester traute seinen Ohren nicht, als er dies hörte – und noch unwahrscheinlicher klang das Folgende.

»Auch sei er zu der Überzeugung gekommen, daß er schließlich kein Recht habe, der Verbindung Sylvesters mit Camilla im Wege zu stehen. – Doch umsonst sei der Tod, und eine kleine Mut- und Geschicklichkeitsprobe von seiten Sylvesters sei das schon wert.«

Sylvester saß atemlos. – »Wenn es in sein Fach schlage . . .«

»Jawohl; in sein engstes Fach. Er, Sylvester, habe ihm einmal erzählt, er habe das Jonglieren an Apfelsinen gelernt. – Nun habe er, Petersen, so eine Apfelsinenkiste in der Nähe; ob er sie ihm zeigen solle –?«

– – – Sehr verwundert begleitete, als es dämmerte, Sylvester den Stallmeister. Sie gingen, in unauffälliges Zivil gekleidet, durch ein Gewirr von Altstadtgassen. Plötzlich zog Petersen einen Schlüssel hervor und öffnete nach vorsichtigem Umherspähen eine Kellertür. Es ging zwanzig Stufen hinunter, und eine Taschenlampe beleuchtete einen Berg von Gerümpel, das Petersen mit dem Fuß verstreute. – Endlich wurde die Apfelsinenkiste sichtbar. Sie sah alt und schmutzig aus. Petersen hob den Deckel: da lagen, hübsch und sorgfältig in Sackleinwand verpackt, nach der Schnur gereiht die gewünschten Früchte. Er enthüllte eine davon; sie hatte einen Griff aus Holz und bestand aus einem angerosteten Metallzylinder von einem Viertelmeter Länge. Oben war sie mit einem Schleifchen aus Kupferdraht geschmückt. – Petersen verfiel in ein lautloses Gelächter; seine Schultern zuckten.

»Na, wie gefallen Ihnen meine Apfelsinen, Sylvester? – Mein nettes kleines Lagerobst aus der Rätezeit?«

– – Sylvesters Augen glitzerten im Schein der Taschenlampe wie Sterne. »Sie sehen verdammt nach – Stielhandgranaten aus, Ihre Apfelsinen, Petersen.« Er lachte trocken.

»Sind es auch«, sprach Petersen beruhigend. »Sind es auch! – – Nun passen Sie auf: fünfzehn Sekunden, nachdem man die Dinger abgezogen hat, platzen sie. – Wenn Sie es fertigbringen, während dieser Viertelminute Ihren – Apfelsinentrick damit zu machen, und Ihnen sollte das nicht schwerfallen – ob es nun Messer sind, oder Fackeln, oder – – geladene Apfelsinen – Sie, der Meisterjongleur! – dann gehört Camilla Ihnen. Dann trete ich zurück. Nun?!«

 

Es ist fünf Uhr in der Arena.

Sylvester hat zwei der Granaten in der Rechten und eine in der Linken. Er, der Stallmeister und Zorro haben sie in diesem Augenblick abgezogen; nun begeben die beiden letzteren sich im Laufschritt hinter die Deckung einer hölzernen Logenwand in etwa achtzig Meter Entfernung. Von dort aus spähen sie durch eine Ritze.

Es sind drei Apfelsinen, die Sylvester in der Hand hat. Er soll sie handhaben, er soll sie dann in jenen Berg von Gerberlohe schleudern in der unschädlichen Richtung und sich platt auf den Boden werfen. Diese liebreiche Instruktion hat den Zweck, ihn mit vollster Sicherheit zu erledigen, denn woher sollte er wissen, daß solches Spielzeug nicht in der Luft zerplatzt, sondern sich flach am Boden verstreut? –

Kalter Schweiß bedeckt seine Stirn. Die tödlichen Geschosse steigen, von seinen klammen Händen mechanisch geschleudert, in die Höhe.

Eins folgt dem andern . . .

Acht Sekunden.

Er ist sieben Jahre alt.

Er steht auf dem »Meßberg«

Apfelsinenduft umhüllt ihn wie süßes Gas.

Man ruft ihm zu; man applaudiert . . .

Er hat die drei Stiele gemeinsam in den Händen.

Zehn Sekunden . . .

Plötzlich dreht er sich um und tut drei, vier lange Sprünge in der Richtung der Loge.

Ein helles Zetern steigt hinter der Wand hervor, knirschendes Poltern und Fluchttumult.

Man hat nicht damit gerechnet, daß er noch Zeit haben werde, diese vier langen Sprünge zu machen. Sylvester hört ein kurzes, hohles Husten, wie es die Seehunde seiner Kindheit hatten . . . ist das Petersen?! Doch dieser hustet nicht; er ruft, er bettelt; seine Stimme ist breiig zerborsten.

Und mit der letzten, der allerletzten Sekunde fliegt das Bündel mit mächtigem Schwung durch die Luft. Man hört es dumpf aufklatschen innerhalb der Loge.

– – – Sylvester, noch im Zug dieses Schwunges, fällt nach vorn in die Knie. Zerreißt ein knirschender Krach die Luft? – Sprüht dort angefacht von Höllenatem eine Kaskade auf aus Holzsplittern und zermahlenem Fleisch? – Sein Puls rauscht. Eisern fallen die Sekunden, tak, tak, tak hört er es in beiden Ohren . . . und die Stille bleibt wie ein Sumpf bestehen.

Nichts rührt sich.

Jetzt muß es geschehen – jetzt . . .

Die Stille brodelt weiter; ein brodelnder Sumpf.

 

Unendlich mühsam erhebt er sich endlich und geht auf die Loge zu. Voll Widerwillen späht er hinein.

Der erste, den er sieht, ist der rothaarige Zorro, der mit irren Augen und zähneklappernd ins Leere stiert.

Und in der anderen Ecke hockt Petersen. Zwischen seinen Knien, die spitz in die Höhe gezogen sind, liegen die drei Stielgranaten. Es sieht aus, als spiele er damit – wie ein Kind, das sich über seine Marmeln beugt – und sei darüber leblos geworden.

Er ist tot; der Schreck hat ihn getötet. –

Sylvester nimmt die Geschosse heraus. Der Rost, erkennt er jetzt, hat Löcher gefressen und Kellernässe ist ins Pulver gedrungen. Es sind Blindgänger.

Er klemmt sie unter den Arm und verläßt vorsichtig spähend den Zirkus. Unbeobachtet wickelt er sie in altes Papier und macht einen kleinen Morgenspaziergang nach der Binnenalster. Dort wirft er sie ins Wasser; und nachdem er das getan, sinkt er auf eine Bank und weint wie ein kleines Kind.

 
Viertes Bild

Die Rückkehr der Violante

Willst du sie nicht aufziehen lassen? – –

Der Freiherr Kaspar von Zachwyl oder schlechthin Kaps (wie wir ihn nannten) schob sein blondes Primanergesicht in den Lichtkreis der abgedämpften Rauchtischlampe. In dieser Beleuchtung fiel mir wieder auf, wie schwach entwickelt sein Kinn war.

»Was? – Wen? . . .«

»Nun, das Ungetüm da hinten«, und ich wies mit der Pfeife in die Ecke. – Er wurde lebendig.

»Du meinst die alte Standuhr dort? – Die ich neulich vom Speicher herunterholen ließ? –«

Er redete schrill und versorgte sich emsig mit einer Zigarette. Immer redete er in dieser etwas atemlosen Art – als sei er im Prinzip äußerst bereit zu jeder Gefälligkeit, müsse aber erklären, schnell noch vor Torschluß, daß er nicht zaubern könne . . . Träger ganz alter Namen haben noch den Tonfall, als hätten sie vom Söller aus Wälder zu verschenken. Diese Geste konnte er sich nun zwar durchaus nicht leisten; immerhin saßen wir im Wohngemach einer leibhaftigen Burg, die (man höre und staune!) das Zachwylsche Wappen ob der Toreinfahrt trug. Und so etwas hat heutzutage den Reiz der Seltenheit.

Ich hatte seine wasserblauen Augen aufglitzern sehen während meiner Frage; nun war er wieder im Schatten des Sessels versunken. Aus diesem hervor quollen ein paar Schichten von Tabakrauch. Dann stieß er hervor:

»Lieber Marbold! Verlang' das nicht. Ich mache am liebsten einen weiten Bogen um das Ding herum . . . Galizenstein ist längst auf dem laufenden. Zweimal war er schon hier und handelte. Gutes Frühbarock sei nun einmal seine Schwäche, und wenn das Ding auch zehnmal an einen Sarg gemahne, – (du siehst das silberne Tödchen im Ziffernblatt? mit der Sense, die mit einem so vertrackt tückischen Schwung als Minutenzeiger herumfahren soll?) – so sei er doch nicht abergläubisch . . . ›Gott soll schützen,‹ waren seine Worte (er schwatzt zuweilen unerträglich) – ›was haben Sie davon, Herr Baron? Es is, wie es dasteht, ane schwarze Blasphemie . . . Ob sie wohl noch anen Pendel hat? Und der Schlüssel – wo is der Schlüssel? – Na, er hat den Schlüssel nicht bekommen. Er hat sich auch nicht gefunden; das Schloß ist eingerostet. ›Sie kaufen doch die Katze nicht im Sack, Galizenstein!‹ sagte ich. – ›Ich gebe das Ding nur her, weil dies Barock sich mit meinem Biedermeier beißt.‹ – ›Machen Se keine Witze, Herr Baron‹, sagt er und senkt sein eines Lid auf Halbmast (das sah ganz abscheulich aus. Sozusagen makabre Schelmerei!) ›vielleicht kauf ich die Katz' doch im Sack; und es is kane schöne Katz' . . .‹ – Hast du schon einen solchen Unsinn gehört?«

»Preisdrückerei, Kaps. – Übrigens kommt's mir vor, als seist auch du abergläubisch.«

Ich war derweilen aufgestanden und zur Uhr hinübergeschlendert. Ich knipste die Deckenbeleuchtung an und betrachtete sie gründlich. Das Tödchen war herrliche italienische Arbeit. Es war schwarz oxydiert; fleckig, als leide es an einer ganz seltenen Seuche, – die ihm ja übrigens nichts schaden konnte. Es mußte nur geputzt werden. Der eine Arm als Stundenzeiger hielt ein Stundenglas, und zwar auf Punkt eins. Der andere mit der Sense reckte sich parallel zu ihm, so daß Sense und Glas sich in der Mitte schnitten. Die anderthalb Meter hohe Uhr hatte edelste Form, sparsamen Girlandenschmuck aus Silber, das Zifferblatt bestand aus Schildpatt, die Zahlen aus gelbem Elfenbein. Das ganze Material war Ebenholz. Ich klopfte an den Pendelkasten; es gab einen hohlen Ton.

»Klopf' mal stärker,« sagte Kaps aus seinem Sessel heraus mit eigentümlich belegter Stimme, – »und halte dann dein Ohr dran.«

»Dann hört man wahrscheinlich das Schlagwerk«, meinte ich. »Es wäre doch amüsant . . . sie aufzuziehen . . .«

Ich klopfte stärker und hielt das Ohr dichter ans Holz. Und nun hörte ich etwas Eigentümliches . . . Ein hohes Sirren wie einen ganz, ganz fernen spitzen, langgezogenen Schrei . . . Womit, zum Teufel, konnte man das vergleichen? Die tremulierende »I«, das sich wie ein trompetender Moskito an meinem Trommelfell rührte? Es schien kein mechanisch hervorgerufener Ton; es schien irgendwie mit einer grausig feinen Qualität geladen; – es vibrierte schwächer, und dann plötzlich – riß es ab.

Ich trat zurück. Etwas hatte da geklungen, das mir Pein verursachte wie ein Nadelstich am Herzen. Ich hielt nochmals das Ohr ans Gehäuse: nun schwoll mir lediglich ein Sausen entgegen; das Sausen des eigenen Blutes. Oder war es das Rauschen der Zeit, das sich in dieser Muschel verfangen hatte wie im Leib eines finsteren Cellos?

»Irgendein altes Zinkenspielwerk steckt dadrin«, meinte ich plaudernd und schlenderte zurück. »Venetianische Arbeit. Sie riecht außerdem ungemein muffig, deine Uhr. Gründlich desinfizieren, Kaps, das wäre das Wahre. Ölen, reinigen, in Betrieb setzen . . .«

»Sonst noch etwas?« fragte er salopp, noch immer mit dieser belegten Stimme. »Übrigens wirst du dich wohl schon gewundert haben, daß ich das Ding, so wie es ist, los sein will. Lache nicht . . . Aber neulich hatte ich eine Art von Erscheinung, die irgendwas mit dem Möbel zu tun hatte.«

»Mit deinem normalen Quantum Portwein?«

»Meinem ganz normalen Bettquantum. Zwei Gläsern. – Doch warte: eh' ich dir's erzähle, muß ich dir was zeigen.«

Er stand auf und winkte mir, ihm zu folgen. Wir überquerten einen Korridor in der Dunkelheit. Dann öffnete er eine Tür und drehte Licht an in einem geräumigen Gemach, in das ich (ich war erst seit gestern geladen) noch nicht getreten war. Es ergoß sich eine taghelle Flut von Licht: vierundzwanzig Mattbirnen an einem schönen Lüster flammten auf. Keine Maus hätte sich in der Beleuchtung verstecken können. Wir standen in einer Art Ahnengalerie . . . Man verzeihe mir diesen Ausdruck! »Ahnengalerie« klingt so sehr romantisch, wie? Doch nachdem ich das »Wappen« in der Toreinfahrt erwähnt habe, muß man mir auch diese letztere Feststellung nicht verdenken . . . Es hingen in Gottes Namen wirklich einige Bilder da, die nachweislich Vorfahren von Kaps vorstellten, von guten Künstlern gemalt. Er führte mich vor ein leicht nachgedunkeltes Gemälde. »Schöne Person, was?« sagte er nicht ohne Selbstgefälligkeit.

»Ahnen vermehren sich in die Vergangenheit hinein wie Kaninchen«, versetzte ich hämisch. »Wann soll sie gelebt haben?«

»Dem Bild nach –« dozierte er unangefochten, »war sie Anno sechzehnhundertzwanzig ungefähr dreißig Jahre alt. Damals gab es natürlich ganze Horden von Ahnfrauen zum Endzweck meiner eigenen kürzlichen Geburt; immerhin ist sie in ziemlich direkter Linie mit mir verknüpft, denn unsere männlichen Vorfahren, soweit sie nicht Eigenbrödler blieben, waren kinderarm; und bei den Weibern schätzten wir das Temperament höher als wirtschaftliche oder Mutter-Meriten. – Ich muß dir gestehen, sie wäre mein Fall, wenn sie aus dem Rahmen stiege . . .«

Ich staunte immer mehr. Die junge Ahne wurde verteufelt lebendig, wenn man sich in ihre schwarzen Augen verlor. Die kurzen Lippen standen etwas geöffnet, als sei sie kurzatmig; ein raffiniert duftig gemalter Spitzenkragen in Mühlsteinform lastete auf ihren zarten Schultern. Der sechsfach gepuffte Ärmel entließ unten wie eine Blume eine gespreizte blasse Hand, die in der Hüfte saß. Ein großer Rubinring glänzte am Mittelfinger. In der anderen Hand hielt sie tändelnd einen roten Fächer. Es war ein kecker weinroter Farbfleck.

»Sieh mal genau über ihre Schulter«, sagte Kaps still.

Ich spähte. Aus der purpurbraunen Dunkelheit des Hintergrundes gruppierte sich langsam aber unabweislich ein silbernes Tödchen . . . auf einem Zifferblatt.

»Die Uhr!!« Ich schrie fast.

»Allerdings«. sagte Kaps sehr stolz.

»Teufel auch . . . Das ist seltsam . . .«

»Nun, seltsam . . .« summte er; es war für ihn anscheinend eine Selbstverständlichkeit. – Wir traten nun vor das nächste Bild; das heißt er zog mich hin.

»Ein nettes Raubtier, was? Hat die Schlacht von Pavia leidlich gesund überlebt; soll aber ein heidenmäßig kurzweiliges Leben geführt haben. Ich hab' über beide Herrschaften in meinen alten Schmökern nachgelesen. Er soff sich zu Tode, dieser Kumpan hier. Vorher hat er aber noch die Dame nebenan, unsere hübsche Freundin mit dem Fächer, stranguliert. Und dann weggeschafft, wer weiß wohin. Ob er das nur zur Unterhaltung tat, oder seine Gründe hatte . . . Ich neige übrigens dazu, ihm Gründe zuzubilligen. Die alte Chronik wispert da einiges. Daß sie ein Luder gewesen sein muß, sieht man ihr ja an . . .«

Ein schwergeharnischter Kondottiere blickte uns entgegen. Er trug blonde Simpelfransen, die knapp über den buschigen Brauen wie gezirkelt abgeschnitten waren. Er trug seinen Helm wie ein Spielzeug in der Hand; die andere Pranke wühlte in den Nieten seines Brustpanzers, dicht oberhalb des schwarzen Lederetuis, das in brutaler Art sein Geschlecht markierte. Seine Lippen waren zum Strich geschlossen.

»Lieber Freund Marbold«, sagte Kaps nach einer Weile, »jetzt kennst du die Bilder. Sie sind ekelhaft gut gemalt und wahrscheinlich ihr Stück Geld wert. Besonders die Violante (so hieß sie) tut es einem an; du weißt, ich bin ein versponnener Bursche . . .« Er ging weiter. Während er das Licht ausdrehte und wir über den Korridor wieder dem Wohngemach zustrebten, hörte ich seine eintönige Stimme fortfahren: »– und da setzt sich dann manchmal etwas fest . . . Kurz und gut –« Wir saßen wieder, und diesmal leistete eine große Karaffe Portwein uns Gesellschaft. »– Ich bin ganz froh, daß du da bist. Denn ehem, ich wollte doch erzählen . . .« Er nahm einen Schluck und schloß die Augen. »Ich bin so verdammt allein zuweilen. Da sitze ich neulich hier, wo ich jetzt sitze, und blicke, ohne was zu denken, nach der Uhr . . . und auf einmal fällt mir ein, sie ist ja auch auf dem Bild. Und wie ich das denke, steht sie vor der Uhr, genau wie auf dem Bild . . . verdeckt den unteren Teil, steht da – buchstäblich . . . verdammt, ich lüge nicht! Blickt mich an.« Er war ganz blaß.

»Sehr erklärlich, Kaps«, meinte ich fröhlich. »Dein Portwein übrigens . . . Woher beziehst du den?«

»Ach, von Lavery . . . Glaubst du wirklich, der Portwein . . .?«

Ich fühlte mich immer behaglicher, ohne zunächst zu bemerken, daß ihm immer unbehaglicher wurde. Erst als er sich wieder im Sessel vorbeugte mit seinem tieferblaßten Primanergesicht, das sich vor einer Prüfung ängstigte, wurde ich etwas aufmerksamer. Sollte er am Ende nicht ganz . . . Wie?

»Na, Alter,« sagte ich bieder, »und machtest du ihr den Hof?«

»Ging nicht«, sagte er dozierend mit gerunzelter Stirn und ganz ernst. »Ich dachte zuerst, sie lächele mit offenem Mund . . . Aber dann kam ich dahinter, daß sie – keine Luft bekam! Oder vielmehr: daß die Luft ihr ausging; sozusagen aus ihr . . . herauspfiff . . .« Er sah mich mit aufgerissenen Augen an. Die Sache wurde mir allmählich zu bunt.

»Hast du nicht –« fuhr er mit zitternden Lippen fort, »den Ton gehört, als du an der Uhr lauschtest, wie? Zinkenspielwerk, meinst du? Doch du weißt selbst, das war ein feiner Schrei, ein langer, qualvoller Schrei! Siehst du! – Ich konnte ihr nicht den Hof machen . . . aus diesem Grunde!«

»Und dann?« Ich wurde selbst leicht erregt. Fand er nicht für mein eigenes Empfinden ein richtiges Wort? »Und was passierte dann? Was glaubtest du zu sehen?«

»Sie wurde langsam in die Uhr (wie soll ich sagen?) hinein gesogen . . . Sie verblaßte langsam in die schwarze Uhr hinein . . . Natürlich –« und er sank ächzend in den Stuhl zurück, nachdem er gierig ein ganzes Glas hinabgeschüttet – »natürlich sind das meine Nerven. Aber du begreifst jetzt, warum ich die Uhr los sein will.«

Eine Pause folgte. Ich hatte meinen Gleichmut wiedergefunden; er hatte gesprochen wie auf der Bühne; doch weil er sonst ein so nüchterner Knabe war, hatte diese Tatsache mich leicht verwirrt. Jetzt aber rumorte der wirklich ausgezeichnete Portwein mir in den Adern; Unternehmungslust rührte sich.

»Du sagst also selbst, daß du halluziniertest. Lieber Kaps, wir wollen es doch bei der Wurzel packen. Es wäre wirklich schade, das kostbare Familienstück an einen Trödler zu verschleudern. Weißt du was? Wir beseitigen deinen Komplex, indem wir dir dessen schale Nichtigkeit demonstrieren . . .« Ich lachte laut.

Er fuhr empor. »Was?«

»Wir öffnen den Kasten und gucken hinein . . . Drehen das Spielwerk an . . .«

Noch seh' ich sein Gesicht vor mir, voll äußersten Grauens . . .

»Nein, nein, nein!«

»Bist du ein erwachsener Mensch, oder bist du es nicht? Laß dich doch nicht auslachen!«

Er schien sich leicht zu schämen. »In Gottes Namen,« flüsterte er. »Aber du mußt es machen; du allein. Weißt du, ich bin ein Idiot; aber ich rühre das Ding nicht an . . . Ich weiß ja, es ist alles Unsinn . . .«

Schon hatte ich mein Taschenmesser, das ein reichhaltiges Besteck aufwies, hervorgezogen und war zur Uhr hinübergegangen. Ich drehte die Deckenbeleuchtung an; das Zimmer war hell. Zunächst versuchte ich es mit einer Nagelfeile, dann mit dem Knopfhaken. Mir war fröhlich und unbekümmert zumute. Ich pfiff vor mich hin, schabte, drehte und bohrte in dem alten rostigen Schloß. Und auf einmal sprang die Tür auf.

Es war, als werde sie aufgedrückt.

Ein Gegenstand rollte aus dem Ritz hervor, ein metallisch klingender kleiner Gegenstand. Es war ein Fingerring mit einem Rubin.

Tiefes Röcheln kam von Kaps.

Sein Glas fiel klirrend aufs Parkett.

Ich weiß nicht, ob ich die Folge der sich überstürzenden Geschehnisse richtig einhalte: ob er sofort ohnmächtig wurde, als er den Ring sah, oder ob das ein paar Sekunden später geschah, als er das übrige sah . . . Jedenfalls war es ein Durcheinander.

Denn nun folgte, während die Tür sich weiter auftat, ein roter Damastfächer, zerfranst und zerfressen . . . Immer hin kenntlich.

– – – Und nun machte die Urahne uns ihre Verbeugung. Sie neigte sich zeremoniell. Es war, als versuche sie, einen Schritt in den hellen Raum zu tun, jedoch war sie nicht mehr gut genug zu Fuß; sie sackte langsam zusammen in einem Haufen von alter Seide, muffiger Watte und bröckelnden Spitzen. Sie brachte es jedenfalls fertig, ihren Schädel in Bewegung zu setzen; er rollte klappernd in der Richtung des Ringes und verlor unterwegs einige Zähne.

Ich war zu verblüfft, um ihn aufzuhalten.

Aber gottlob erlebte Kaps die schauderhafte Annäherung seiner Ahne nicht mehr bei klarem Verstand.

 
Fünftes Bild

Die Krawatte

Es klingelte schon zum drittenmal, als die alte Frau endlich den Mut fand, zur Tür zu schleichen und sich zu erkundigen, wer da sei. Es wurde eine lange Unterhaltung daraus, bis sie sich von der Identität des Neffen überzeugt. Endlich sagte sie: »Ah . . . du scheinst es wirklich zu sein . . .« Sie rasselte mit einem riesigen Schlüsselbund und schloß die drei Schlösser tastend auf. Dann zog sie die Kette von der Tür (groß wie eine zentnerschwere Ankerkette) und öffnete mit scharf spähendem Raubvogelprofil. Ihr spitzer Kiefer kaute; ihre Blicke schossen argwöhnisch ins Treppenhaus. Grotesk sah sie aus in ihrem buntbestickten, wattierten Schlafrock. Der Arzt trat ein und sagte herzlich: »Na, Tantchen? Was machst du? Ich komme gerade vorbei, von einem Patienten, der auch in dieser Gegend wohnt . . . Da wollte ich mich mal nach dir umsehen . . .«

Er kam tatsächlich von einem Patienten. Dieser Patient war sein einziger, er mußte wie ein Juwel verhätschelt werden. Da der Doktor gut gekleidet war und sicher auftrat, sah man ihm die Not nicht an, die er litt. Die argwöhnische Alte durfte um keinen Preis der Welt merken, wie dringend er der Hilfe bedurfte. – Sie war schon hoch über die achtzig, schon jenseits der biblischen Erlaubnis. Es war beim Himmel endlich an der Zeit, daß . . .

Er folgte ihr ins Wohnzimmer. Dort hatte sie das Sofa zum Bett umgemodelt. – »Es schläft sich zwar nicht besser hier«, nörgelte sie und schob sich wieder unter die Daunendecke, »aber man kann wenigstens plötzlichen Besuch empfangen, wenn es durchaus sein muß.« Ihre trüben Augen belauerten ihn, wie die Pupillen eines reglosen Uhus aus seiner Nische.

Der Arzt – ein Dreißiger mit abgezehrtem Gesicht, in dem eine goldene Brille blitzte, setzte sich auf eines der Sammetfauteuils und sah sich um. Ziemlich lang hatte er diese Pracht nicht mehr gesehen. Die gedrechselten Sessellehnen, die verschnörkelten Aufsätze, die gewundenen Säulen; und da war ja noch, hurra, der »betende Knabe« aus galvanischer Bronze . . . Außerdem ertrank alles in Plüschquasten. Aller Orten blühten diese unzähligen Plüschquasten hervor, von den Vorhängen bis zum kleinsten Schemel hinunter. In diesem giftgrünen Meer von Plüschquasten hatte er schon immer zu ersticken vermeint. Durch diese verwitterte Mode geisterte der muffige Duft von Baldrian. Neben dem Sofa hatte die Greisin ein Tischchen mit drei Gläsern, einer kristallenen Wasserkaraffe und zwölf Fläschchen jeden Formates. Auch ein Türmchen von runden Pillenschachteln.

»Nanu?« sagte er lächelnd und rieb sich das Kinn – »was sehe ich denn da? Wer will dich denn so vorzeitig ins Jenseits befördern, Tantchen?«

Der Uhu knappte mit dem Schnabel. »Es könnte dir so passen, wenn das jemand wollte«, gab sie mit scharfer Schelmerei zurück.

»Worum handelt sich's denn?« fragte er gleichmäßig aufgeräumt. »Und wer hat dir denn all das Zeug verschrieben?« (Toll, daß sie nicht einmal ihn zu Rate gezogen . . .)

»Schlaflosigkeit –«, erwiderte sie und verlor auf einmal das kritisch Lauernde. »In–som–nia« . . . Sie sang die einzelnen Silben wie eine Liederstrophe. Schließlich ging das Wort in ein Jammern über. Ihre Augen blickten in ein Loch hinein: in Monate voll fruchtlosen, verzehrenden Grauens vor der Einsamkeit; in Monate voll bettelnder Sucht um den Balsam. »Doktor Ortmann tut eben, was er kann.«

Er nahm die Medizinen in Augenschein. »Das ist ja alles labbriges Zeug, Tante. Das ist gut für kleine Kinder, nützt aber bei dir nicht mehr viel. Tja . . . Natürlich geht man zu einem Kollegen und vergißt ganz, daß man einen Neffen hat, der ebenso kompetent wäre . . .«

Ihr Gesicht hatte sich in blitzschneller Umgruppierung aller Runzeln verwandelt. Sie lächelte, und es sah bei ihrem zahnarmen Mund unsagbar tückisch aus.

»Nichts hab' ich vergessen. Aber bei lebendigem Leib, mein Lieber, laß ich mir noch nicht von dir das Fell über die Ohren ziehen.«

Sein Kopf wurde heiß, aber er bezwang sich. Er saß im Schatten und seine Brille war vor seinen grauen Augen – sie konnte sie nicht sehen, diese Augen.

»Nanu? Bin ich so teuer?«

»Billig bist du bestimmt nicht.«

»Schließlich muß ich mir meinen Namen bezahlen lassen. Das hat Kollege Ortmann noch nicht nötig. Also entweder – (er sagte es sehr gemütlich) – ich schröpfe dich ganz besonders kräftig – du kannst es ja gut vertragen – oder ich behandle dich umsonst.«

Es kämpfte mächtig in ihren Zügen.

»Umsonst!« hatte er gesagt.

Ihr Lächeln verlor das Tückische; sie dachte; kalkulierte. Sie kniff den Mund zusammen und bemühte sich, seinen Ausdruck zu erhaschen. Dort saß er trostreich und Vertrauen erweckend – die Kapazität. Er verdiente offenbar gut. Er brauchte nichts von ihr.

Wieder sah das Gespenst der Schlaflosigkeit sie an, die wimpernlose Maske, und durch den Raum schwang das Asthma von Monaten. Von Jahren. Und zugleich auch der herzklopfende Schreck, der sie versucht, mit den Fingernägeln an der Tapete hinaufzuklettern.

Dies alles wollte er nun verscheuchen. Und er verlangte nichts dafür!

In ihrer Gespanntheit setzte sie sich halb auf.

»Sagst du das im Ernst?«

»Was denn, Tantchen?«

»Daß du mich umsonst behandeln willst.«

»Freilich will ich das.« Es klang, als verschlucke er sich; er hüstelte. »Das liegt doch auf der Hand.«

Sie fiel ungeheuer erleichtert auf das Kissen zurück. »Die Sachen vom Ortmann«, flüsterte sie nach einer Weile, »helfen nichts mehr.«

»Das glaube ich. Weißt du was? Ich gebe dir ein Spritzchen, hin und wieder. Das schadet nichts und hält für Tage vor.«

»Ernst,« sagte sie langsam, »so ein Spritzchen macht doch – – dumm?«

»Dich nicht.« Er schien zum Scherzen aufgelegt. »Dumm macht es vielleicht Leute, die es von Natur aus schon sind. Dir nimmt es nur die Unruhe weg und bringt dir gesunden Schlaf.«

»Gesunden Schlaf . . .« flüsterte sie. »Und sonst ist es nicht gefährlich?«

Er schnalzte mit der Zunge am Gaumen. »Wenn du glaubst, daß es dir schadet, bekommst du es eben nicht. Aber dieser Kollege mit seinem Baldrian . . . Mir wird übel von dem Gestank! Daß du das aushältst!«

»Also gut,« seufzte sie, »du mußt es ja wissen.«

Schon die bloße Suggestion genügte . . .

»Ich gehe in die Küche«, sagte er, »und mache es zurecht . . .«

 

Er verließ das Zimmer, nahm im Korridor sein Handköfferchen und begab sich in die Küche. Die Türen standen offen. Vom Wohnzimmer kam ihr erlöster Atem herübergeklungen, als schliefe sie schon.

An dem Abwaschbecken spülte er die Morphiumspritze mit destilliertem Wasser und feilte darauf einer Ampulle den Hals ab. Er sog den Inhalt in die Spritze; sie war zu einem Viertel gefüllt. Das war die übliche, die Minimaldosis.

Während er hantierte, traten Schweißtropfen auf seine Stirn. Die Schachtel mit den zurückgelassenen fünf Ampullen lag offen da. Sie waren so hübsch symmetrisch aufgebahrt, jede in ihrem Kartonkäfterchen.

Die Birne an der Decke warf ihr kalkweißes Licht darauf. Er blickte sich mit krauser Nase um; die Türen standen offen! Er drehte den Wasserhahn an, und während des Plätscherns köpfte und leerte er mit mechanischen Bewegungen auch diese übrigen Ampullen. Sie waren so einladend. Sein Gesicht war grau. Einen Moment noch zögerte er; dann drehte er das Plätschern ab und verließ die Küche.

Der nackte Arm, der wie Elfenbein glänzte, lag dort auf der Daunendecke.

»So, Tantchen,« sagte er in sonorem Baß und beugte sich über sie, »nun bringe ich dir eine gute Portion Schlaf . . .«

Sie drehte langsam das Gesicht von der Tapete weg zu ihm hinüber. Offenbar hatte sie halb geträumt, während er draußen beschäftigt war. In der Zerstreutheit des Alters glitten ihre Augen von seinem Gesicht auf seine Brust. Plötzlich sagte sie mit einem naiven, fernen Lächeln: »Na, ich sehe, du hast es immer noch nicht gelernt, Ernst, dir deine Krawatte richtig zu binden.«

Er reckte sich langsam auf. Er starrte sie an.

»Meine Krawatte . . . richtig . . . zu . . . binden?« stammelte er. »Wie kommst du jetzt gerade auf diesen . . . Einfall?«

»Ich sehe dich ganz aus der Nähe. Es fällt mir ein, daß deine Mutter immer an deiner Krawatte gemäkelt hat. Du warst eben ein Jung'. Einmal hast du dich darüber beklagt. Aber gelernt hast du es immer noch nicht. Komm' mal heran. Der Knoten muß fester sitzen, siehst du. So.«

Ihre Hände hatten sich ausgestreckt und an ihm genestelt. Mit einem merkwürdig erstickten Laut fuhr er zurück. Die Spritze entfiel seiner Hand und rollte unter den Stuhl.

»Was hast du denn?« fragte die Alte und wurde flugs wieder kritisch. »Bist du immer noch so nervös in diesem Punkt? Na, sorg' du selbst für deine Toilette, alt genug bist du ja. – – – Nun aber mach' schnell. Ich werde schon nicht viel spüren auf meinem alten Fell.«

Sie streckte ihm einladend den Arm hin.

Er saß wieder halb im Dunkeln auf dem Stuhl. Er atmete schwer, als er sich bückte und das Instrument vom Boden hob. Dann trug er es unter die Lampe und betrachtete es.

»Entschuldige,« sagte er mühsam, »ich bin doch verdammt ungeschickt. Ich muß eine andere Hohlnadel nehmen; diese ist zerbrochen.«

Er ging in die Küche zurück. –

Als er zurückkam, irrten seine Augen beim Eintritt ins Zimmer ab und fanden das Bild seiner Mutter an der Wand: ein Bild mit ganz verschwommenen Zügen.

 
Sechstes Bild

Psyche und der Tod

Es war die Zeit des großen Cholerasterbens in Hamburg.

Vor der Einäscherung sollte in einem wohlhabenden Hause eine Einsegnung vorgenommen werden. Der offene Sarg stand in der Glasveranda unter den Blattpflanzen. Es roch nach Erde. Die Kranzblüten gaben letzten, durchdringenden Duft von sich. Durch die Glastür zum Garten loderte ein Übermaß von blauer Glut; – über den Rotbuchen an der Alster quoll eine Wetterwolke herauf mit scharfen Rändern. Sie wuchs erschreckend still.

Das Dutzend versammelter Menschen atmete hörbar. Der sechsjährige Jan Gustav, aus zartem Wachs, lag sehr still; sein farbloser Mund stand halb geöffnet. Auf der Brust umklammerte er, im Eigensinn des Todes, ein großes Bündel weißer Schwertlilien.

Senator Arensen tat einen haltlosen Schritt, dann fand er seine steife Haltung wieder. Seine hochgewachsene Frau griff zu und stützte ihn; auch sie trug einen mehr strengen als leidgebeugten Ausdruck zur Schau. So hatte sie keinen Blick zu verschenken an Ulrike, die man im Hause Uli nannte – ein siebzehnjähriges, aschblondes Mädchen, dem Bruder aus dem Gesicht geschnitten, schlank und blutarm. Diese lehnte an der Glastür. Die blaugeäderten, feinen Hände preßten das Taschentuch vor den Mund und zuckten.

Sie hatte die Nacht über geweint; der Schmerz malte einen haarfeinen, roten Ring um ihre Lider.

Mit bebenden Knien stand sie in einem Dunst von Verzweiflung und Kölnischem Wasser, und der Pastor Lüders, der jetzt hereinwallte, schenkte ihr einen verstehenden Blick.

Er blieb vor dem Sarg stehen und machte das Kreuzeszeichen. Dann begann er zu sprechen. Es war mehr darin als nur Routine; es war aufrichtige Zuversicht. Seine Stimme, leicht belegt, rührte mit ihrem singsangartigen, beruhigenden Hanseatentonfall wie Balsam an die Gemüter. Er wählte auch nicht seine gebräuchlichsten Worte, sondern wählte die selteneren, denn er war ein persönlicher Freund dieses alten, guten Patrizierhauses . . .

»Dies Kind ist zu beneiden. › Integrem vitae‹ – (warum soll ich nicht den frommen Heiden Horaz zitieren!) – also in großer Unschuld hat ihn der Genius des Todes entführt. Gott wird wohl gut wissen, warum Er die Geißel dieser Seuche schwingt; warum Er eine so große Heerschar von Kindern an Seinen Mantelsaum lädt . . . Ist nicht ein reines Menschenantlitz ein Spiegel vor Ihm? Und wo findet Er unter all den Erwachsenen, die Er zu Sich nimmt, noch ungetrübte Spiegel? – So dürfen wir nicht grollen. Gönnt nicht Gott uns Unendliches? Und sollen wir darum Ihm nichts gönnen und mit Ihm rechten und hadern? Nein, – wir beugen uns.«

In der Wetterbank zuckten lautlose Blitze. Pastor Lüders drehte sich halb und schaute hinaus, mit fernem Blick.

Dann fand er weitere Worte, so als seien sie ihm Silbe für Silbe signalisiert von jenem fahlen Zucken, das in regellosen Pausen dort drüben geschäftig war wie fiebernder Puls. Nicht umsonst betrieb er klassische Studien mit dem Senator in dessen Muße. So stellte sich denn für dies Haus, für diese »Pflegestätte frommen Heidentums« (wie er es bei sich scherzend zu nennen wagte), ein richtiger Vergleich ein, der sich noch dazu mit christlicher Empfindung wunderlich vertrug.

»Die unerleuchteten Alten, meine Freunde,« sprach er und wandte sich wieder den Trauernden zu, wobei er seine versenkten Blicke auf Uli ruhen ließ, »haben ein treffliches Symbolum gefunden auch für unsere Art der Erlösung, des Heimgangs. Auf ihren Stelen finden wir den Falter. Ja, wahrlich: im Puppenzustand sind wir und bereiten uns vor für Ihn, armselig gefesselt; plötzlich reißt die Hülle, – und was kriecht hervor? Was spreizt seine leuchtenden, unsterblichen Schwingen? Der wundervolle Falter: Psyche! Unsere Seele!«

Uli stellte sich den Falter vor, wie er sich vor dem heißen Blau tummelte, und ihr war, als fühle auch sie Schwingen sprießen und flattere empor . . . Sie starrte mit ihren trockengeweinten Augen auf das Gesicht des Knaben, das mit trotzigem Ausdruck unter den Schirmblättern lag.

Jetzt zitterten die Blätter; ein erstes Lüftchen tastete sich herein. Die Wolkenwand wuchs unaufhaltsam und murrte.

Keiner begriff, warum Uli plötzlich wie in kopfloser Angst das Taschentuch zur Abwehr schwenkte und hinausstürzte . . . Später fand man sie zusammengekauert zwischen den Büschen des Gartens.

Mit teilnehmend-väterlichen Fragen forschte der Seelsorger, was denn ihr Grund gewesen sei für so plötzliches Entsetzen. Und hier geschah es zum erstenmal, daß seine stets handliche Tröstung versagte; daß er trotz größter rhetorischer Routine ratlos war . . .

– – – Denn es ergab sich dieses: während er das holde mythologische Träumchen formte, war zwischen den Lippen Jan Gustavs kein farbenstrahlender Schmetterling aufgetaucht (wie die schwärmende Uli es erwartet) – sondern eine dicke, häßliche, metallisch glänzende Fliege.

Sie hatte auf der Nasenspitze Jan Gustavs ihren Borstenleib gestrählt und war dann, schwanger von Gift und Ausgeburt trüben Dunkels, mit rasselndem Brummen auf Uli zugesurrt. – – –

 

Sie spürte eine große Stille, die nur vom Geräusch kleiner Wirbelwinde unterbrochen wurde. Schwaden von Lindenblütenduft zogen umher. Dann fühlte sie die Hand des Pastors Lüders auf der Schulter.

»Uli . . .,« sagte er, ». . . was du gesehen hast, braucht dich nicht zu erschrecken. Auch die Fliege ist ein Geschöpf Gottes. Und . . . war es dein Bruder, der dort lag? Er war es ja gar nicht mehr! Das war eine Fälschung; eine Täuschung . . .«

»Wie sagen Sie?« –

»Eine Täuschung, sage ich . . . Denn er ist ja viel lebendiger, als er früher war! Er ist hier, im Garten; überall ist er, in der warmen Luft . . . Was geht es ihn an, was dort drinnen noch mit seiner törichten kleinen Form geschieht! Er will, daß auch du das Leben liebst, in jeder Form! Daß du es liebst bis zu dem Augenblick, wo dein Dasein so grenzenlos wird wie seines! Wo du dich losreißt und im Sturm fortgewirbelt wirst als geflügeltes Samenkorn!«

Uli blickte auf die Thujahecke.

Und da sah sie etwas Seltsames: Jan Gustav trat aus der dunkelgrünen Wand. Weiß leuchtend.

Er jauchzte mit gläserner Stimme und lief, so rasch ihn seine Kinderbeine trugen, die Hecke entlang dem Flusse zu.

– – – Währenddessen schritt die silberne Regenwand heran, in der Jan Gustav unterging. Und mit dem Bersten der Himmelsschleusen öffnete sich auch die Erlösung für Uli: das befreiende Weinen.

Ihre Tränen mengten sich mit dem niederpeitschenden, warmen Regen; auch der Talar des Pastors Lüders begann zu triefen. Und doch blieb er sitzen. –

Er war ein merkwürdiger, ein ungewöhnlicher Pastor.

 
Siebentes Bild

Vom orangefarbenen Herzogtum