Donnerstag, 7. Juli 2005
Cirauqui – Los Arcos 37 km
Um fünf bin ich wach und fange leise an zu packen. Ich bin davon aufgewacht, dass meine „Pretiosentasche“, die neben meinem Kopf lag, samt meiner Brille durch die Lücke zwischen Bett und Wand einen Stock tiefer fiel — doch Jane unter mir wacht nicht einmal auf, als ich die Sachen wieder hole. Um sechs gibt es ein leises Frühstück und um halb sieben bin ich auf dem Weg. Es geht einen altertümlich gepflasterten Weg entlang, der plötzlich aufhört, unterbrochen von einer Brücke, deren Auflage verschwunden ist: Eine Römerstraße und -brücke im Originalzustand, 2000 Jahre alt! Über den Berg, unter dem großen Aquädukt hindurch, Lorca (Kirche zu), Villatuerta (Kirche abgesperrt), und dann mit einer ganzen Karawane nach Estella.
San Sepulchro ist von außen beeindruckend, vor allem das Portal, doch leider verschlossen. Die beiden Spanier aus dem Refugio in Cirauqui kommen — sie gehen geradeaus weiter, ich überquere die alte Pilgerbrücke zur Iglesia San Miguel. Auf dem Platz davor fremdartige Bäume mit Früchten wie Himbeeren — das können nur Maulbeerbäume sein. Eine Spanierin erntet eifrig und auch ich probiere — schmecken herrlich, aber der Saft färbt Mund und Hände, und wie! Ich habe zu tun, an einem Brunnen wieder sauber zu werden!
Ich will gerade in die Kirche, da sehe ich, wie eine nette junge Dame einer Amerikanerin auf Englisch die Skulpturen des Tympanons und beiderseits der Eingangstüre erklärt. Sie holt den gewaltigen Kirchenschlüssel und so komme ich zu einer Gratisführung durch die Kirche, bei der ich sogar alles verstehe! Die Kirche mit ihren Schätzen, mit den goldenen Altären — eine Pracht, doch auch ein Ort, in dem ich mal Führung Führung sein lasse und bete.
Ich überquere den Fluss wieder, um nach San Pedro zu gehen. Hier komme ich in eine Führung auf Spanisch — verstehe zwar wenig, doch ich komme so in den Kreuzgang, der sonst verschlossen wäre. Ulkig ist die verdrehte Doppelsäule, zum Nachdenken regt mich der halb verwitterte Grabstein des Kreuzritters an, ich staune im Inneren über die Säule neben der uralten Madonna: Drei Schlangen, geschuppt und ineinander zu einem Zopf verwoben, bilden den Säulenkörper! Wofür das wohl steht?
Doch vorher, als ich den wunderbaren Raum betrete und die Orgel spielt — da überkommt es mich wieder einmal und die Tränen fließen.
Ganz in der Nähe der Kirche ist das Touristenbüro — die nette Dame, die meinen Pilgerpass abstempelt, schenkt mir eine passende stabile Plastikhülle für das kostbare Dokument — so etwas habe sie noch nie gesehen, ein Pilgerpass, der schon durch halb Europa geführt hat! Ich bin richtig stolz auf mich. In einem kleinen Laden kaufe ich Donuts und zwei kühle Dosen Bier, wandere ein Stück weiter, bis ich unter einem Baum in einer kleinen Grünanlage eine Bank finde: Dort schmause ich und befreie meinen Rucksack vom Gewicht der Bierdosen. Leicht drüsig wandere ich weiter, komme durch das Neubaugebiet mit einem großen Supermarkt. Zwei kleine Dosen Pate kaufe ich - sonst gäb’s nur Thunfisch in tausend Variationen — eine Hartwurst und ein Brot. „Sin sal!“, warnt mich die Verkäuferin. Als ich meinen Einkaufswagen, in dem ich meinen Rucksack durch den Laden kutschiert hatte, wieder abstelle, lacht mir aus einem anderen eine Dose Sardinen entgegen — ich nehme sie als Geschenk dankend an!
Durchs Neubaugebiet endgültig aus der Stadt heraus. Der Himmel ist klar, die Sonne brennt und da winkt die Bodega Irache — da war doch was? Ja: der weltberühmte Weinbrunnen! Tatsächlich: zwei Wasserhähne an einem schönen Wandbecken, ein Schild: „Pilger, willst du gesund und bei Kräften nach Santiago kommen, stärke dich hier!“ Dazu der Hinweis, dass der Brunnen weltweit über eine Webcam sichtbar ist: www.irache.com. Das wäre doch was! Wenn Silvia jetzt an den Computer geht, dann kann sie mich sehen. Nach über zwei Monaten! Doch als ich anrufe, ist sie nicht da. Schade, so kann ich ihr nur auf Band sprechen. Ich trinke zwei von den Achtelchen Wein, die der Hahn jeweils hergibt, und fülle meine Wasserflaschen am anderen. Der Brunnen ist jetzt umlagert von Radfahrern und Wanderern — ich mache mich auf die Socken und sehe mir das Kloster an. Lohnt einen Abstecher! Vor der Abtei ein schattiger Platz — hier mache ich erst einmal Picknick und eine kleine Siesta.
Weiter: Eine Zeitlang treffe ich immer wieder Mutter und Sohn, die auf Mountainbikes den Jakobsweg entlangfahren. Es geht streckenweise auf Trampelpfaden durch den Wald — die Radfahrer haben den Weg schlimm kaputtgemacht, mit tief ausgefahrenen Fahrspuren, manchmal kaum noch passierbar — warum bleiben die nicht auf den Straßen?
Und dann Villamayor: Ich komme in die Kirche, der Raum ist dunkel und kühl, endlich wieder eine alte Kirche, die nicht von einem riesigen goldenen Barockaltar beherrscht wird, sondern in dem Maß und Raum harmonieren dürfen — und auf der vordersten Bank sitzt eine Frau und singt mit einer wunderbaren Stimme. Ich antworte ihr mit meinem Pilgerlied — das erste Mal, dass ich es öffentlich singe. Die Frau erwidert mein Lied nochmals mit ihrem wunderbaren Hymnus, während Mutter und Sohn Radfahrer andächtig auf der Eingangstreppe sitzen. Die Sängerin verlässt die Kirche, nickt mir im Vorbeigehen freundlich zu — ich habe den Impuls, ihr für ihren Gesang zu danken — warum habe ich es nicht getan?
Als ich das Dorf verlasse, bin ich so in Gedanken, dass ich einen Wegweiser übersehe, doch ein netter Dörfler schickt mich die hundert Meter zurück, die ich falsch gelaufen bin. Nun kommen über zwölf Kilometer Straßen und Feldwege, fast immer leicht bergab. Ich bin jetzt gut in Form und gehe schnell. Ein kaum sichtbarer Bach, ein niedriger Buckel — Ziegenpass genannt — und dann bin ich in Los Arcos. Am Ortseingang eine kleine Hütte mit einem Getränkeautomaten, einem Pilgerbuch und einem Stadtplan. Ich raste kurz, kaufe ein herrlich kühles Mineralwasser und marschiere weiter in den Ort: ein wunderschönes Städtchen, mit einer prächtigen Kirche und alten Gemäuern. Ich sehe Leute, augenscheinlich Pilger aus allen Nationen ohne ihre Rucksäcke. Doch heute habe ich keinen Nerv, in ein Refugio zu gehen, sondern will draußen schlafen. Ich gehe ins Touristbüro, lasse von einer charmanten Dame meinen Pilgerpass abstempeln und mir erklären, wo ich gut und preiswert essen könne: Ich habe Hunger wie ein Wolf!
Das Restaurant, das sie mir empfohlen hat, ist nicht weit entfernt, es geht eine Treppe hoch und ist urig eingerichtet. Eine hübsche Bedienung nimmt meinen Wunsch nach einem „menu peregrino“ entgegen und kommt erst einmal mit Brot, einer Karaffe Wasser und einer Literflasche Wein. Dann gibt es phantastische Maccaroni mit Muscheln und viel Knoblauch, herrliche Calamari am Spieß und zum Abschluss Melone. Nicht gerade bodenständig das Essen, aber reichlich und gut — und ich zahle dafür gerade mal 12,00 €. Die Bedienung hilft mir, die halbvolle Weinflasche im Rucksack zu verstauen, als ich gesättigt und nun doch etwas müde aufbreche.
Über die Brücke, am lockenden Refugio mit der Leine voller Wäsche im Garten vorbei, zwischen Friedhof und einer Kapelle hindurch. Es geht auf Flurbereinigungswegen flott vorwärts. Dunkle Wolken ziehen auf, Wind erhebt sich, die Sonne sinkt: Zeit, einen Unterschlupf für die Nacht zu finden. Ich liebäugele mit den riesigen Strohhaufen, die auf den Feldern aufgeschichtet sind. Da lacht mich rechts am Berghang, eingebettet in die Trockenmauer der Terrassierung, eine Steinhütte an — jenseits eines frisch abgeernteten Kornfeldes, so weit weg vom Weg, dass sie vielleicht nicht von Pilgern als Toilette benutzt wurde. Tatsächlich: Das Innere der Hütte ist sauber, wenn auch ein bisschen staubig. Ich richte mein Lager her, esse noch ein Stück Brot und Wurst, trinke die Weinflasche leer und krieche in den Schlafsack.
So gut habe ich schon lange nicht mehr geschlafen.