Mittwoch, 29. Juni 2005
Latrille – Pomps 41 km
Als viertel nach fünf der Handy-Wecker dudelt, bin ich schon wach. Ich habe gestern schon gepackt, bin eigentlich fertig, doch erst noch einen Kaffee trinken, Tee auf brühen und in die Aluflasche füllen. Fünf vor sechs kommt Lesley mit ihrer Teetasse und wir bewundern beide den herrlichen Sonnenaufgang. Ich sage: „The first time since I left home, that my feet are not itching to walk!“ Sie amüsiert sich über diesen Ausdruck, doch ich habe auch das Gefühl, als wäre es ihr sehr recht, wenn ich noch etwas bliebe — und das nicht nur wegen der 25,00 € am Tag. Um halb sieben hat sie mich nach Latrille gebracht und wir verabschieden uns mit einer festen Umarmung und Küsschen.
Ich stiefle los und bin bald in Miramont. Die Kirche hat Atmosphäre und ich halte eine stille Morgenandacht, danke für den herrlichen Ruhetag und bitte um Kraft für den weiteren Weg: Es sind keine tausend Kilometer mehr — ich werde gleich an einem Schild vorbeikommen, das sagt, nach Santiago seien es nur mehr 956! Ich blättere ein bisschen im Pilgerbuch: Ein paar Seiten zurück hat einer den Satz aus Janis Joplins „Me and Bobby McGee“ reingeschrieben: „Freedom’s just another word for nothing left to loose!“ Und das führt dazu, dass ich die nächsten Stunden Janis Joplin singe. Hauptsächlich „Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz...“
Durchs Dorf — am Brunnen sitzen drei Wanderinnen, eine davon mit fuchsrot gefärbtem Haar, die recht befremdet meinen fröhlichen Gruß erwidern. Am Ortseingang überhole ich noch eine kleine Gruppe Franzosen, zwei Frauen und einen Mann, und die grüßen freundlich zurück. Der Himmel ist bedeckt, eine frische Brise weht, es ist fast kühl — ideales Wetter zum Wandern. Ich komme an die fast tausendjährige Église de Sensacq. Die Kirche ist in bejammernswertem Zustand: aus der Nord- und der Ostseite fallen ganze Quader! Doch das große Ganzkörpertaufbecken ist schlicht und beeindruckend und im Innenraum spüre ich eine ganz besondere Stimmung.
Weiter über Feldwege und durch den Wald — und da taucht jenseits des Tales Pimbo auf: eine Bastide, also ein Wehrdorf, und richtig trutzig thront es auf dem Hügel. Ich komme auf den baumbestandenen Platz vor der Kirche. Vor der Gîte, die gleichzeitig als Accueil de Pèlerins und als Fremdenverkehrs-Info dient, stehen ein paar Tische, um die schon fröhliches Wandervolk sitzt. Als ich vor der netten Chefin meinen Pilgerpass ausbreite, um ihn abstempeln zu lassen, erzählt sie ganz aufgeregt den anderen Pilgern, dass ich tatsächlich toute la route de lAllemagne hierher gewandert sei: allgemeines Staunen! Als ich später in der Kirche sitze — der Chor hat eine wunderbare harmonische Wirkung, doch die Schiffe sind wie angestückelt — , kommt sie leise und drückt mir einen Prospekt über die alte Abtei in die Hand. Der Klostergarten ist bezaubernd, mit buchsumwachsenen Kräuter- und Blumenbeeten, auf der Mauer sonnt sich eine Eidechse — ich kann mich fast nicht losreißen.
Ich trinke noch einen Kaffee vor dem Pilgerbüro, als die drei Wanderinnen aus Miramont auftauchen: Regensburgerinnen, die sich heute den zweiten Tag auf dem Jakobsweg versuchen. Wir fachsimpeln noch ein bisschen und dann „stiefle“ ich (in Sandalen) den Berg hinab. Die Straße macht einen weiten Bogen ins Tal — ich kürze ab und balanciere bei einer Mühle auf einem Brett über den Bach, misstrauisch beäugt von zwei Ziegen und dem Hofhund und eifrig beschnattert von einigen Enten. Es folgt Asphaltlatscherei, unschön, aber bei dem frischen Wetter geht’s flott. Mein Knie macht mir heute keine Sorgen mehr — der Ruhetag gestern war doch richtig!
Bergauf — und dann bin ich in Arzacq-Arraziguet. Am Ortseingang ein Schild: Rechts geht’s zur Schinken- und Wurstfabrik! Ich denke an meine Vorräte und bekomme, wie es angekündigt war, als Rucksackträger wirklich 30% Rabatt auf die Hartwurst und die Kuttelpasteten — beides sehr gut! Im Ort kaufe ich noch ein Brot, das mir der freundliche Bäcker auf meinem Rucksack festschnallt. Er erklärt mir den kürzesten Weg zurück auf den Chemin und ich lande an den Bänken unten am Stausee — ideal zum Picknick machen! Zum Nachtisch gibt’s unterwegs Mirabellen und Blutpflaumen direkt vom Baum. Ich habe mir überlegt, schwimmen zu gehen, doch einerseits ist es recht frisch und andererseits sieht das Wasser nicht besonders sauber aus. Bergauf, bergab, eine lange Wanderung auf einem Hügelgrat — leider keine Aussicht: Eigentlich müsste ich die Pyrenäen schon ganz deutlich vor mir haben! Am Ortseingang von Larreule mache ich Pause am alten Waschplatz — hätte ich gewusst, dass es unterhalb der Kirche einen liebevoll eingerichteten Rastplatz mit Wasserhahn gibt, wäre ich die paar Meter weitergelaufen!
Durch den Ort, über die Brücke — und jetzt ist es sehr warm geworden. Ich komme nach Uzan, wo ich eigentlich übernachten wollte — bloß wo ist die Gîte? Als ich erfolglos den Ort durchquert habe, beschließe ich, weiterzulaufen bis Pomps, wo ich die nächste weiß. Die Sonne brennt, über die Zäune einiger Einfamilienhäuser fällt mein Blick auf Swimmingpools, manche sogar mit recht hübschen Bikinis drin — worüber hat sich Piet vorgestern so amüsiert? Bei irgendeiner Gelegenheit hatte ich den „Faust“ etwas abgewandelt: „Mit fünfundfünfzig Tagen Jakobsweg im Leibe, da siehst du Helena in jedem Weibe!“ Ich gebe zu, ich hätte nichts dagegen, wenn mich eine der Schönheiten jetzt in ihren Swimmingpool einlüde — aber schließlich bin ich auf Pilgerfahrt und nicht auf Lustreise!
Endlich bin ich in Pomps. Wie der Wanderführer angibt, kann ich mich im örtlichen Kramladen in die Gîte communal anmelden — gleich nebenan hinter der Sporthalle. Ich komme rein — und wer erwartet mich da? Sabine und Geneviève, die Hebamme! Freudiges Wiedersehen! Ich kaufe noch ein — unter anderem ein Pfund Kaffee, denn die Küche ist wirklich mager ausgestattet, und dann kochen wir gemeinsam. Wir tun uns an Nudeln, Wein und Bier gütlich, speisen im Freien und amüsieren uns königlich über einen Hund, der hartnäckig seine Angebetete verfolgt, die aber sichtlich abgeneigt ist. Die beiden hetzen kreuz und quer, dann kommt die Hündin zu uns, betteln, aber blitzschnell ist der Rüde wieder da, bedrängt sie und das Spiel geht von vorne los. Sabine kann es kaum fassen, dass er nicht merkt, dass er keine Chancen hat und Geneviève meint dazu trocken: „Voilà: un homme!“
Ich lasse die beiden im einzigen Zimmer im Haupthaus schlafen — Sabine steckt anscheinend noch immer ihr Erlebnis mit dem Exhibitionisten in den Knochen, — und verziehe mich in den Baucontainer. Das hat auch den Vorteil, dass ich da Fenster und Türen aufreißen kann, ohne dass jemand über Zug klagt.