Samstag, 4. Juni 2005
Le Puy Ruhetag
Früh aufgestanden: Ich gehe heute in die Pilgermesse, weil ich morgen vor Tau und Tag loswandern möchte. Als ich in die Kathedrale komme, sitzen Silvya und Jürn in der Bank — da liegen wir uns in den Armen! Sie sind überglücklich! Sie haben ihre Pilgerpässe wieder! Man hatte sie gefunden und beim Bürgermeister abgegeben, der hatte alle Quartiere abtelefoniert und sie ihnen dann gebracht.
Ich darf mich zwischen sie setzen; die Bänke füllen sich mit Pilgern, die ihre Stöcke und Rucksäcke neben den Bankreihen abgelegt haben. Ein weißhaariger Priester sitzt neben dem Hauptaltar und blickt mit ruhigen Augen in die Menge, während graugekleidete Nonnen durch den Mittelgang schweben, eine Pilgerin zu etwas einladen: Sie wird nachher einen Bibeltext vorlesen!
Und dann ist Gerhard da — ich hatte gehofft, er sei schon weiter! Silvya fühlt, dass mir das gar nicht passt, und hält beruhigend meinen Arm, als er sich zu uns setzt. Die Messe beginnt, wird würdig zelebriert mit zusätzlichen Fürbitten für die Jakobspilger. Die Feierlichkeit der katholischen Messe nimmt mich gefangen — schade, dass unsere evangelischen Gottesdienste meist so karg sind! Wieder gehe ich mit, die Kommunion zu empfangen — mir ist einfach danach. Nach der Messe versammelt sich alles unter der Statue des heiligen Jakobus und der Priester fragt jeden, woher er kommt und wie weit er geht. Gerhard stöpselt nur: „Allemagne... Santiago...“ und ich ernte einige überraschte Blicke, als ich sage, dass ich zu Fuß aus Bayern komme und bis Santiago laufe. Ich frage eine junge Nonne mit einem lieben Gesicht, wieso sie sich Namen und Ziel aufschreibt, und sie sagt: „Wir rechnen uns aus, wie lange jeder braucht, und so lange wir glauben, dass er unterwegs ist, schließen wir ihn in unser Morgen- und Abendgebet ein!“ Ich bin tief gerührt — diese Art von unmittelbarer Frömmigkeit, des Betens für andere — wie ist sie mir doch fremd geworden! Der Priester überreicht jedem von uns eine kleine Medaille mit Notre Dame de Le Puy: Die soll uns auf unserem weiteren Weg beschützen und uns an den Grand Pardon erinnern, den wir errungen haben. Ich werde sie tragen und in Ehren halten!
Dann Abschied von Silvya und Jürn: Sie fahren gleich mit dem Zug zurück nach Hause. Seltsam wie lieb mir die beiden in den wenigen Stunden geworden sind, die wir zusammen waren!
Gerhard wartet auf mich und wir verabreden uns, gemeinsam zur Post zu gehen: Auch er will Sachen zurückschicken und mit seinen nicht vorhandenen Sprachkenntnissen... Zu zweit in die Stadt hinunter — auf der Post muss ich mit meinem rudimentären Französisch den Dolmetscher spielen, während ein wunderschöner riesiger Hund sich von hinten an meine Beine drängt, bis ich ihn hinter den Ohren kraule. Doch endlich haben Gerhard und ich unsere überflüssigen Lasten los. Ich verabschiede mich von ihm — ich muss noch einkaufen. Auch er will morgen weiterziehen. Ich hoffe, ich kann alleine bleiben!
Den lieben langen Tag streife ich durch die Stadt. Le Puy ist schön, lebendig und die Altstadt wildromantisch. Doch die Aufstiege zur Kapelle und der großen Bronzemadonna verkneife ich mir. Da streife ich lieber durch den Kathedralenbereich, entdecke immer neue Details, und plaudere übers Handy mit Silvia. Am Abend suche ich mir ein nettes Lokal und genehmige mir, in einer stillen Seitenstraße im Freien sitzend, eine große Pizza, eine halbe Flasche Wein und viel Wasser. Später noch ein Eis am Dönerstand: Der Wirt hat lange in München gearbeitet, spricht gut deutsch und wir halten ein kleines Schwätzchen. Auf morgen freue ich mich schon: Der Rasttag hat gut getan, ich fühle mich tatendurstig und erwartungsvoll! Gegen elf Uhr liege ich im Bett.