Samstag, 28. Mai 2005
Lac de Paladru – La-Cote-de-Saint-André 33 km
Nach einer ruhigen Nacht, in der mich nur einmal ein leuchtend orangeroter Mond geweckt hat, der mir durchs offene Fenster direkt ins Gesicht schien, stehe ich pünktlich um halb sieben gestiefelt und gespornt mit Gerhard am Frühstückstisch, der im Freien für uns gedeckt ist. Wir tun uns gütlich und dann zahlen wir unsere jeweils 29,00 € und freiwillig noch einen drauf fürs Wäschewaschen. Die süße alte Dame bedankt sich herzlich — wir aber auch — hier wäre ich gern noch geblieben — vielleicht mal mit Silvia?
Zehn vor sieben sind wir wieder auf der Straße. Den stillen See entlang, vorbei an blühenden Lilien — dann rechts ab, den Berg hoch und da kommt auch schon die Straße nach Le Pin und mit ihr die Jakobsmarkierung. Wir kommen in den Ort, gehen erst einmal in die Kirche: Wie die meisten Kirchen hier ein fast leerer Raum mit wunderbarem Licht (farbige Fenster) und einer schlichten Harmonie — wie anders als der überschwängliche Prunk in den Barockkirchen!
Weiter: blühende Heckenrosen, Kletterrosen, Iris, draußen im Feld Orchideen, Wiesen voller Blumen, bunter, duftender, lebendiger als unsere überdüngten Graserzeugungsflächen! Unter der Autobahn durch, nach einer langen, heißen Strecke übers Feld, und dann in Quetan setzen wir uns auf einen Brunnen, rasten, essen, trinken und beobachten die langwierigen Versuche zweier Bauern, einen mit Holz beladenen Wagen an einen Traktor anzukoppeln.
Die Rast hat gut getan, doch jetzt geht es wieder steil bergauf — herrlicher Blick — dann wieder über Weiden, an einem großen Hof vorbei bergab. Von Le Pin aus sind wir zweimal bestimmt hundertfünfzig Meter auf- und wieder abgestiegen und jetzt geht es noch tiefer hinab nach Le Grand Lemps. Der Chemin führt eigentlich daran vorbei, doch wir gehen die paar hundert Meter in die Stadt hinein — erst einmal in die Kirche. Schön! Ganz besonderes Licht, vor allem im Chor — schade nur dass gerade mit viel Hin und Her und Palaver für die Firmung morgen dekoriert wird!
In der Stadt erledigt Gerhard ein paar Einkäufe, ich warte draußen, bewache die Rucksäcke und da spricht mich ein junger Mann auf Deutsch an: Er hat Verwandte am Bodensee, dort ist praktisch seine zweite Heimat, und er freut sich, dass er uns helfen kann. Als ich ihn bitte, für uns in Cote-de-Saint-André anzurufen, hat er sein eigenes Handy schon am Ohr, ehe ich meines auch nur aus dem Rucksack kramen kann. Mit dem Hausvater der Orphanage, die auch Pilger beherbergt, verabredet er einen Termin um halb sechs abends. Jetzt ist es halb zwölf, wir haben also reichlich Zeit. Wir bedanken uns herzlich.
Nun aber zurück auf den Chemin! Jetzt geht’s im Tal auf meist schattigen Wegen flott voran bis La Frette. Der Aufstieg zur Kirche schlaucht — leider wird sie gerade renoviert und ist geschlossen. Wären wir einfach an der Kirche weitergelaufen, ohne auf die Markierungen zu achten, hätten wir uns sicher einen Kilometer gespart — so führt uns der Weg in weitem Bogen aus dem Ort heraus und dann zum Schloss. In der herrlich schattigen vierreihigen Eichenallee, die zum Portal führt, machen wir eine Dreiviertelstunde Siesta, streng bewacht von einem der Hofhunde.
Auch die Kirche von Saint Hilaire ist verschlossen, doch gibt es auf dem Friedhof Wasser und wir können unsere Flaschen auffüllen. Etwas später, in einem schattigen Hohlweg mit grandiosem Blick über das Tal erfüllt mich plötzlich ein fast euphorisches Gefühl: Ich lebe! Kurze Zeit später, gegen drei Uhr, muss ich auf einmal an meine Schwester Käthe denken und ich habe Angst, dass mit ihr etwas Schlimmes geschehen ist. (Später erfahre ich, dass sie an diesem Nachmittag einen leichten Herzinfarkt hatte.) In Gillonay führt der erste Weg natürlich zur Kirche — und da bin ich verzaubert! Uralter Bau, im Schiff weißgestrichene Holzbalkendecke, im Chor ein einziges Fenster hinterm Altar. Hier muss man innehalten, mit Leib, Geist und Seele Atem schöpfen. Ich finde das Pilgerbuch und schreibe als Gebet mein Pilgerlied hinein.
Weiter, durch glühende Hitze! Endlich, gegen vier Uhr, erreichen wir La-Cote-de-Saint-André, die Geburtsstadt von Hector Berlioz. Während ich vergnügt vor mich hinsumme, kommen wir am alten Schloss Ludwigs XI. vorbei, steile Treppen hinab zu den Markthallen und schließlich, am Bahnhof vorbei auf die endlose Allee. Endlich geht es links ab zum Waisenhaus, während die Allee sich am anderen Ende des Tales im Wald verliert, schnurgerade bis zum Horizont.
Wir sind über eine Stunde zu früh — doch wir finden uns in einem wunderbar ruhigen Innenhof wieder, fast schon ein Kreuzgang zu nennen, aber vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Abgeschieden von der Hitze und vom Lärm der Sportplätze außen rasten wir, schreiben, hängen unseren Gedanken nach. Ein junger Mann kommt, Elsässer aus Straßburg, der sich gerne mit uns auf Deutsch unterhält, dann kommt der Hausvater.
Ich lebe!
Mit allen Sinnen!
Der Druck meines Gewichtes auf den Füßen! Der spitze Stein unter der Sohle meiner Sandale!
Der Schweiß, der die Griffe meiner Stöcke glatt macht und von keiner Stirn tropft! Das Brennen der Sonne auf meinen Schultern!
Das melodiöse Flöten eines Pirols, das monotone Gurren der Holztauben! Das Knirschen des Rucksacks, sein Gewicht auf meinen Hüften, der Zug der Trageriemen an den Schultern!
Der Duft nach Heu und Blumen, der aromatische Wind, der mein Gesicht kühlt, leise im Gras rauschend. Das Wogen des Gerstenfelds neben mir, sattgrün mit erstem goldenem Schimmer!
Tausenderlei verschieden Grüns, die dem Auge wohl tun!
Das Keuchen beim Aufstieg, das befreite Ausschreiten in der Ebene!
Ich bin auf dem Jakobsweg!
Ich spüre, dass ich lebe!
Um sechs Uhr haben wir unsere Schlüssel und kommen nur eine winzige Idee zu spät zur Messe: Wir hatten in der Hauskapelle gesucht, die aus Sicherheitsgründen nicht benutzt werden darf. Ich verstehe nicht viel von der Predigt — es geht, wie ich glaube zu hören, um die Transsubstantiation — unerklärlich, unglaublich, doch: Bei Gott gibt es das Wort „unmöglich“ nicht! Und dann der Gedanke: Im Tod muss man die Kommunion empfangen, um mit Jesu Fleisch im Leib leiblich zu Jesus zu kommen — einleuchtend: Mit Gott zu Gott — doch irgendwie fremd. Ich scheue mich nicht, die Kommunion zu empfangen, behalte jedoch später im Gespräch mit dem Priester meine Konfession für mich, um ihn nicht in Gewissensnöte zu stürzen. Was mich beeindruckt, ist die inbrünstige Frömmigkeit, die ich in der Gemeinde spüre. Ich sehe zum ersten Mal, wie sich Menschen zum Empfang der Kommunion auf die Knie fallen lassen und sich bekreuzigen. Wir zwei Fremden sind in der kleinen Gemeinde natürlich aufgefallen. Wir werden gefragt, woher und wohin; und dann sagt eine der Frauen den Satz: „Betet in Santiago für uns, wir beten für euch!“
Nach der Messe gibt uns der Priester, ein ganz lieber weißhaariger und — bärtiger alter Herr hoch in den Siebzigern, unser Abendessen aus der Küche: Wir können es uns oben im Pilgerappartement in der Mikrowelle warm machen. Während wir essen, kommt er noch einmal, bringt uns zwei Kiwis und wünscht uns gute Nacht. Morgen sechs Uhr dreißig Frühstück!