Mittwoch, 16. Juni 2006
Montredon – La Cassagnole 29 km
Ich bin früh auf den Beinen, frühstücke noch mit Ingrid, gehe aber vor ihr los. Es ist schön, in der Morgenfrische zu gehen — und es ist schön, alleine zu gehen! Ich schicke eine SMS an meine Tochter Eva, die heute Examen hat, wünsche ihr Glück, und sie antwortet sofort. Sainte-Madeleine in Girande — uralte, wunderschöne Fresken, kein Altar, keine Bänke, doch ein herrlicher Raum!
Durch Viehweiden, an einem alten Sportflugplatz vorbei — die Wege sind feucht, aber nicht schlammig, und ich erkenne immer wieder die gleichen frischen Spuren eines Wanderers vor mir. Gerhard?! Ich komme an eine Straße, der markierte Weg folgt ihr in weitem Bogen, doch da ist ein verwitterter Holzwegweiser, der in einen heckenumsäumten Fußweg weist: Saint-Felix. Da gehe ich lieber als auf der Straße! Der Pfad ist wild, fast zugewachsen, doch er führt mich schnurstracks über den Sportplatz zur Kirche. Die Reliefs über dem Eingang sind wirklich „putzig“.
Auf dem Rastplatz gegenüber sitzt eine Französin vor ihrem Déjeuner. Ich wünsche „Bon appetit“ und wir kommen ins Gespräch. Sie erzählt mir, dass sie vorhat, ab Figeac nicht den GR 65, den offiziellen Jakobsweg, zu gehen, sondern den GR 651 bis Cahors: der sei kürzer und die Strecke schöner. Sie zeigt mir das auf der Karte und sie hat augenscheinlich Recht — vor allem geht es wohl nicht so schrecklich auf und ab. Als sie aufgebrochen ist, mache ich Brotzeit, fülle in der öffentlichen Toilette meine Wasserflaschen auf und schäkere ein bisschen mit einem netten kleinen Hund, der sehnsüchtig, aber erfolglos, meine Wurst und meinen Ziegenkäse anhimmelt. Bald habe ich die Französin wieder überholt, wir grüßen uns noch mal freundlich. Es gibt laut Führer eine Abkürzung, die Figeac umgeht und den Ab- und anschließenden Wiederaufstieg ins Tal des Célé vermeidet. Doch ich suche ein Sportgeschäft, ich möchte mir einen Bivibag, einen wasserdichten Überschlafsack kaufen, um auch bei etwas nässerem Wetter draußen schlafen zu können.
Die Landschaft hat sich verändert: Steinmauern säumen den Weg, halbverfallene „cazelles“, trocken gemauerte, trulliähnliche Steinhütten, Jurakalk. Der Weg führt hinab ins Tal und in den Ort. Ich laufe auf ein Bikerpärchen auf, die einen Orientierungshalt machen und in bestem Münchnerisch streiten, wo es denn jetzt weiterginge. Sie sind ganz erschrocken, als ich ihnen auf gut bayerisch „Grüß Gott“ wünsche und können kaum glauben, dass ich den ganzen Weg hierher zu Fuß gekommen bin.
Auf der Terrasse eines Restaurants am Fluss trinke ich zwei große Perrier und einen Café au lait, mache mich auf der Toilette frisch und schreibe Tagebuch. Nun über die Brücke in die Stadt. Ich suche und finde Saint-Sauveur: Eine herrliche Kirche, besonders die Reliefs und Gemälde in der Seitenkapelle haben es mir angetan.
Ich streife durch die wunderschöne Altstadt, schaue, suche ein Sportgeschäft, lande auf dem Platz mit der Kopie des Steins von Rosette — ach ja, François Champollion, der die Hieroglyphen entzifferte, hat hier gelebt! Ein paar Postkarten und eine Wanderkarte von hier bis Moissac kaufe ich — vielleicht gehe ich doch den anderen Weg, den die Französin vorgeschlagen hat?
Plötzlich werde ich von hinten angerufen: Ich bin blind an Falkenbergs vorbeigelaufen, die auf der weinumlaubten Terrasse eines Restaurants sitzen und mich jetzt auf einen Kaffee einladen. André kommt: „In einer Stunde geht unser Zug, dann bleiben wir noch einen Tag in Paris und dann ist unser Urlaub zu Ende!“ Er schreibt mir seine Adresse auf- wir wollen in Kontakt bleiben. Ich werde die beiden auf dem weiteren Weg vermissen, vor allem Janets herzliches, unverkennbares Lachen! Falkenbergs wollen heute noch bis La Cassagnole, da soll eine sehr schöne Gîte sein. Ich selbst möchte noch etwas weiter, vielleicht draußen schlafen — ich muss vorwärts kommen! Doch erst einmal einen Bivibag kaufen. Ich frage einen Einheimischen nach einem einschlägigen Laden und er schickt mich praktisch den Fluss entlang, an Sportanlagen, Park und Tennisplatz vorbei zu einem Sportgeschäft, dessen Auslage auch Trekking-Ausrüstung zeigt. Und hier bekomme ich, was ich suche — warum hab ich das nicht schon beim Abmarsch gekauft? Doch mit dem Wandern wird man klüger — was würde ich jetzt alles nicht mehr mitnehmen und wieviel habe ich unterwegs beschafft!
Raus aus der Stadt, wieder hinauf auf den Berg, endloser Asphalt. Ich komme an der Steinsäule vorbei, die einmal die Grenze einer Abtei und ihres Asylbereichs markierte. Weiter über heißen Teer, endlos. Meine Füße schmerzen, ich bin eigentlich ziemlich fertig, aber ich will heute noch weit gehen! Doch da ist am Hang eine Gîte, ein schöner Garten, einladende Laube — da biegen meine Füße ganz ohne mein Zutun links ab und ich checke hier in La Cassagnole ein.
Es dauert nicht lange und die Französin von Saint-Felix kommt, Christine heißt sie, dann sind auch die Falkenbergs da — der Chemin verliert niemanden! Wilhelm musste aufgeben — trotzdem Hut ab: Er ist fast fünfzehn Jahre älter als ich. Man kann hier für sich kochen — ich fabriziere mein Standardessen und kaufe einen Liter Wein, den ich mit anderen teile.
Im Schlafsaal zwei Finninnen, die sehr verdutzt sind, als ich sie mit „hyvää päivää“ begrüße — aber das ist, bis auf das schöne Lied von „Uko Noah“, so ziemlich das einzige Finnisch, dass ich mir von einem Lapplandurlaub vor vierzig Jahren behalten habe. Eine der beiden ist dabei, ihren Fuß zu behandeln, der böse aussieht: Eine Blase vorn am Zeh ist unter den Nagel gewachsen und der hat sich abgelöst — eine unschöne offene Wunde ist das! Ich desinfiziere mit meinem Sprühmittel, lege Sprühverband drüber, verpflastere den Zeh mit steriler Kompresse und gebe der Frau Arnikaglobuli — Mary Falkenberg füllt freundlicherweise meinen Vorrat aus ihrer großen Flasche auf. Gegen halb zehn verziehe ich mich ins Bett und schlafe gut.