Dienstag, 14. Juni 2000
Conques – Montredon 31 km
In der Nacht habe ich Wilhelm dreimal wecken müssen — er schnarchte so ohrenbetäubend, dass sogar Ohropax nichts half! Trotzdem bin ich ausgeruht und fühle mich frisch. Nach dem Frühstück bin ich gegen halb acht auf der Straße. Einen der beiden Pfälzer, die hier aufhören, treffe ich noch — er ist recht frustriert. Im Stillen danke ich Gott, dass ich bis jetzt nicht so weit bin, aufgeben zu müssen.
Es geht bergab, zum Tor hinaus zum Fluss, über die alte Brücke, und dann beginnt der berüchtigte Aufstieg, über den man sich so viele Schauermärchen erzählt hat. Gut, es geht steil und steinig, doch schneller als erwartet bin ich an der Chapelle Sainte Foy und da oben rasten gerade André und Janet. Gemeinsam weiter, es ist gar nicht sooo schlimm! Schon regnet es nicht mehr.
Ich nehme die alte, kürzere Strecke, Janet und André wählen eine andere Variante. Es geht endlos die Straße entlang — irgendwann bin ich wieder mit Falkenbergs zusammen, wir gehen ein Stück gemeinsam — dann ziehe ich davon. Eine Frau mit einem sichtlich erschöpften Esel begegnet mir und dann komme ich an die Rochuskapelle von Noailhac, wo ich Falkenbergs wieder treffe: Gemeinsam bewundern wir die herrlichen Fenster in dem unscheinbaren Bau, vor allem das, auf dem das Licht den Menschen aus dem Rachen des Leviathans emporhebt — herrlich!
Alleine gehe ich weiter. Ich überhole Wilhelm, der sich noch einmal für sein Schnarchen in der Nacht entschuldigt. Ich gehe nicht hinunter nach Decazeville, sondern bleibe oben auf dem Kamm: herrliche Blicke in die Täler. In einer Einfamilienhaussiedlung, faszinierend, zwei Gottesanbeterinnen auf einer Torsäule — bin ich schon so weit im Süden? Ich habe solche Tiere noch nie lebendig und in Freiheit gesehen.
Als ich eine lange Steigung im nächsten Ort hochkeuche, lädt mich ein netter Herr ein, in seine Küche zu kommen und etwas zu trinken — ich sehe wohl recht verschwitzt und mitgenommen aus! Ich erzähle, woher und wohin, und als Madame sich wundert, dass ich es wage, diesen ganzen Weg alleine zu gehen, sage ich: „Madame, un pèlerin n’est pas seul!“ Sie blickt mich etwas verwundert an, dann nachdenklich, schließlich sagt sie leise: „Oui, j’ai compris!“
Wilhelm kommt vorbeigegangen, ich bitte meine Gastgeber um Erlaubnis und rufe ihn herein. Nun gibt es Kirschen vom eigenen Baum und dann Kirschpfannkuchen — wie vor 45 Jahren bei Mutter! Ais wir uns verabschieden, hat Wilhelm einen Beutel mit Kirschen am Rucksack hängen.
Ach ja, vorher hatte ich mit Silvia telefoniert und ihr erzählt, dass ich vor einem Schild stand, das sagte, man sei hier genau südlich von Paris. Unglaublich, wie weit ich schon bin! Nun geht es nach Livinhac-le-Haut, über eine Brücke hinauf in den Ort. Eine französische Familie kommt heraufgeradelt: Mutter hat die schwarze Tochter im Tandemanhänger und Vater schleppt den Hänger mit dem Gepäck. Sie suchen etwas zu Essen, doch alles ist geschlossen, bis auf einen „Tabac“, wo sie eine Kleinigkeit für das Kind finden. Zum Ort hinaus in ein Wiesental, bis zu einem Bauernhof, wo ich im Gemäuer des Futtersilos raste und einen Happen esse, dann geht es einen steilen Weg hinauf in den Wald. Zwischen stacheldrahtumzäumten Wiesen und Weiden hindurch: Frankreich ist das Land des Stacheldrahts! Doch der wilde Fingerhut blüht wie bei uns der Löwenzahn.
Schließlich lande ich in Montredon. Schilder weisen zu einem Chambre d’hôtes. Am Ortsausgang finde ich es, schön, mit einem alten ummauerten Brunnen vor der Tür — doch augenscheinlich ist niemand da! Ich will schon enttäuscht weitergehen, da komme ich auf die Idee, anzurufen: Madame ist im Haus, hatte mich nur nicht klopfen gehört. Ich buche Halbpension — eine Deutsche wird noch erwartet; ihr Gepäck wurde schon vorbeigebracht. Während ich dusche und Wäsche wasche, kommt sie: die weißhaarige Tübingerin Ingrid, die ich schon von Conques her kenne. Es regnet — wäre ich heute Nacht draußen, hätte ich jetzt wohl ein kleines Problem!