Montag, 6. Juni 2005
Le Puy — Saint-Privat-d’Allier 24 km
Es geht mir erheblich besser. Ich packe, nehme gegen die Kreuzschmerzen vom Liegen ein Voltaren und gehe gegen sieben Uhr frühstücken. Der Himmel ist bewölkt, es wird heute wohl nicht zu heiß werden, gut, um auf meinen noch etwas wackligen Beinen eine langsame, nicht allzu lange Tour zu gehen.
Ich schenke eine der beiden Jakobsmuscheln, die ich am Rucksack hängen habe, einer französischen Pilgerin und werde mit einem Küsschen bedankt — stolz zeigt sie ihrer Mitwanderin ihr neues Pilgerattribut. Ein freundlicher Engländer schenkt mir Mineralpulver in Portionsbeuteln: Er braucht sie nicht mehr, da er heute mit der Bahn nach Hause fährt. Er und ein Franzose finden, dass ich zu viel Wasser mitschleppe — ich habe auch das Trinksystem gefüllt. Der Franzose hebt meinen Rucksack und ruft: „Trop lourd!!“ Doch ich habe dies Gewicht schon so lange getragen, dass ich glaube, damit zurecht zu kommen.
Als ich aus der Türe des „Grand Seminar“ trete, fängt es an, zu regnen. Also absatteln, Poncho raus, Regenüberzug übers Gepäck — und als ich vor der Kathedrale stehe, ist der Regen wieder vorbei. Zwei Pilgerinnen, rundlich, kurzbeinig, hoch bepackt, kennen anscheinend den Weg aus der Stadt — ich folge einfach. Es geht endlos bergauf — ein herrlicher Blick zurück über die Stadt — vor und hinter mir eine ganze Karawane. Eine große Jakobsstatue, ein Kilometerschild nach Santiago — und ein knapper Kilometer weiter das nächste — nur sind es da angeblich über zweihundert Kilometer weiter! Ich traue keinem Kilometerstein mehr! Der Konvoi zieht sich auseinander, doch in La Roche sammelt sich alles wieder: Es geht dort außen an der Stadtmauer entlang, links geht es steil hinab ins Tal, und dann ist da ein kleiner Stand, an dem ein junges Mädchen gegen freiwilligen Obolus Trinkbares anbietet. Willkommener Anlass, eine kurze Pause zu machen. Die Kirche in Saint-Christophe ist beeindruckend — und der Hund, der das große Kreuz auf dem Marktplatz bewacht, amüsiert mich.
Nächster Halt: Die Rochuskapelle bei Montbonnet — wieder ein Raum, der einfach Atmosphäre in sich hat — uralt, schön. Ich lerne den heiligen Rochus kennen, den Schutzheiligen der Pilger, Fußkranken und Pestopfer. Während ich auf der Bank vor der Kapelle Brotzeit mache, kommen zwei Schwaben angewandert, die sich sofort über irgendetwas aufregen — ich weiß nicht mehr worüber, wohl eine Kleinigkeit. Wir gehen ein Stück miteinander — sehr fromm beide, eher überfromm — der eine ist ein glühender Verehrer der Resl von Konnersreuth, die angeblich seinen Arm geheilt hat. Irgendwie geht mir diese Frömmelei gegen den Strich: Pietismus auf katholisch! Wie legte doch schon meine Urgroßmutter in einem ihrer Bücher einem kleinen Mädchen in den Mund? „Dicketun mit Frömmigkeit finde ich abscheulich!“
Ich lege einen Zahn zu und lasse die beiden hinter mir. Ich überhole einen älteren Franzosen, der recht gut Englisch spricht — da kann man sich eine Zeitlang über alles Mögliche unterhalten — dann ziehe ich wieder davon.
Mein rechtes Bein macht Mucken — Schmerzen im Schienbeinmuskel, bei jedem Schritt, mal mehr, mal weniger, aber immer da. Ich beschließe, heute nur eine kurze Etappe zu gehen — ich muss und möchte mich noch ein bisschen schonen. Es geht steil einen steinigen Weg hinab — großartige Landschaft — dann hoch in ein Dorf: Das Vulkangebiet hier in der Auvergne beeindruckt mich mehr als manche Hochgebirgslandschaft — und wir bewegen uns hier ja auch zwischen 850 und 1200 Metern Meereshöhe!
Es hat aufgehört zu regnen, zeitweise bricht die Sonne durch die Wolken. Dazu weht ein frischer Wind. Steil abwärts, über eine Brücke, wieder hinauf — und da ist Saint-Privat-d Allier: Burg und Kirche liegen eindrucksvoll auf einer Bergnase. Ich komme an einer verlockenden Chambre d’hôtes vorbei, die auch der Führer empfiehlt — doch die macht erst in einer Stunde auf. Gut: Derweil gehe ich eben was trinken! Vor einem Haus sitzt eine alte Dame auf der Bank, neben sich ein Pappschild: „Chambres — Zimmer“ Sie sieht mich fragend an: „Vous cherchez une chambre??“ Da bin ich schnell 12,00 € los und habe mein Bett für die Nacht, mit schönem Bad und Küche. Nur leise möge ich bitte sein, unter dem Schlafzimmer läge ihr kranker Mann. Ich mache mich frisch, blättere ein bisschen in den Jagdzeitschriften, die im Regal liegen, dann gehe ich einkaufen. Als ich zurückkomme, hat Madame gerade einen anderen Wanderer aufgerissen, der heute mit mir das Zimmer teilen wird. Peter kommt aus Wessobrunn, ist zu Fuß auf dem Rückweg von Santiago und seit Februar unterwegs!! Wir verstehen uns recht gut, sprechen über die Entwicklungen in Deutschland. Peter fragt mich ganz direkt: „Was meinst du, wie soll das weitergehen?“ Ich bin pessimistisch. Peter sieht eben so schwarz wie ich.
Wir gehen ins Dorf, ich mache Peter auf das Tatzenkreuz aufmerksam, das halbverwittert in einer Mauernische neben der Kirche steht: Die Templer hatten das im Wappen. Während Peter noch draußen bleibt, gehe ich in die Kirche. Ein wunderschöner Raum, karg, doch ich spüre den Atem Gottes. Während ich mich still für den Tag bedanke und um Kraft für den Weg vor mir bitte, werde ich plötzlich ganz ruhig und zuversichtlich. Dann wandere ich ein bisschen im Kirchenschiff umher und spüre, dass es hier etwas Besonderes hat. Als ich aus der Kirche komme, zieht Peter ein Pendel aus der Hosentasche und geht hinein. Ich sehe mich ein bisschen um, und als er herauskommt, sage ich zu ihm: „Die stärksten Kraftfelder hast du im Chor gefunden, genau am Altar!“ „Woher weißt du das?“ „Das habe ich gespürt!“
Gegenüber unserem Quartier liegt eine Pinte mit Tischen vor der Tür: Dorthin setze ich mich auf ein Bier — und höre aus dem Inneren unverfälschtes Fränkisch. Da hält mich natürlich nichts mehr draußen! Ein nettes Völkchen aus Fürth sitzt da drin, Etappenwanderer, die schon in Santiago waren. Ich frage sie nach ihren Beweggründen, weshalb sie sich immer wieder auf den Weg machen — und da höre ich, was ich schon öfters gehört habe: „Du gehst los als Wanderer und wirst auf dem Chemin zum Pilger — und das lässt dich nicht mehr los!“ Das bestätigt mir auch das Ehepaar aus Hessen, das noch dableibt, nachdem die Fürther wieder zurück ins Quartier sind. Ich esse eine Kleinigkeit, trinke einen Kaffee und eine zweite Pression. Es ist viertel nach sieben, Peter hat mir gerade eben den Schlüssel vorbeigebracht — ich bin müde.