Freitag, 10. Juni 2005
Finieyrols – Saint-Chély-d’Aubrac 29 km
Ich habe schlecht geschlafen — von zwei bis drei Uhr war ich wach: Laute Schläfer! Doch um viertel vor sechs bin ich auf — es ist ohnehin schon alles auf den Beinen. Ich mache mir einen heißen Tee in die Flasche und unterhalte mich dabei mit dem Kanadier, der für seine Janet Frühstück macht: „A watched kettle never boils!“ Doch die Pfannkuchen, die er bäckt, riechen so verlockend, dass ich lieber flüchte. Frühstück im Haupthaus, ich habe schon gepackt und starte von hier aus. Doch als ich gerade mal hundert Meter gegangen bin fühle ich: Meine „Notre Dame de Le Puy“ ist weg — nur noch die Muschel hängt mir an der aufgegangenen Schnur am Hals! Zurück, eigentlich mit wenig Hoffnung: Wie in der ganzen Herberge das gerade mal centgroße Metallplättchen wieder finden? Eine Ahnung führt mich in die Küche und da blinkt es mir auch schon aus dem Teppich vor der Spüle entgegen: Sie wollte doch mit!
Inzwischen ist alles abmarschiert. Ich studiere noch den Gedenkstein für Louis Dalle: Priester und Menschenfreund, der Buchenwald überlebt und lange bei den Indios in den Anden gelebt hat. Durch den Ort, ein paar leichte Steigungen, im Gehen das freitagmorgendliche Gespräch mit Silvia — das macht Mut! Bald habe ich einige Franzosen überholt, dann die Pfälzer und im nächsten Ort, den ich flott erreiche, treffe ich die Kanadier, die sich gegenseitig vor dem Hufbeschlagstand fotografieren. Auch mich nehmen sie mit meiner Kamera auf. Gemeinsam ziehen wir weiter. André ist Geologe und erklärt mir, dass der ganze Gebirgszug vulkanisch angehoben wurde, das Magma den Granitdeckel aber nicht durchbrochen hat — nur der Kegel dort drüben ist ein alter Vulkan.
Mir fällt auf, dass mein Gürtel, der vor fünf Wochen gerade mal zuging, jetzt eine Handbreit über die Schließe hinausgeht und auch dafür hat André eine Erklärung: Wandern verbrennt viel mehr Fett als Sprinten oder Joggen, dafür braucht man schnell verfügbare Kalorien, während die stetige Dauerleistung eher auf die Fettdepots zurückgreift.
Ich laufe den beiden zu schnell, vor allem Janet, und so lassen sie mich ziehen. Die Landschaft ist und bleibt großartig! Nasbinals: Die Kirche — herrlich! Erst beten, dann schauen.
Jetzt scheint es zum Col d’Aubrac hochzugehen — das Passstraßenschild zeigt eine Höhe von 1368 Metern — doch der Weg biegt von der Straße ab, erst durch Wald und dann wieder über weite Weideflächen, vorbei an glücklichen Rinderfamilien. Weit schweift der Blick über die wellige Hochfläche. Ein Hochtal will überquert werden — gegenüber lockt ein großes Hotel — Luxus wäre wohl schön — doch ich kühle nur meine Füße und das schmerzende Schienbein an einem Brunnen und steige leicht hoch nach Aubrac. Da komme ich an dem Aussichtsrestaurant nicht vorbei, wo ich den Akku meines Handys auflade und schwelge: Toast mit köstlichem Aubrac-Rindfleisch, ein einheimischer Kräutertee und hinterher ein Kaffee. Dann noch in die Kirche — letzter Überrest eines einst bedeutenden Klosters mit einer wichtigen Herberge: mächtiges Tonnengewölbe und herrliche Figuren. Ich könnte hier übernachten, doch ich will weiter. Janet und André haben mich eingeholt und wir nehmen noch einmal herzlich Abschied voneinander.
Ein Stück die Straße entlang — Wahnsinnsausblick: Jetzt geht es wieder abwärts, 500 Höhenmeter. Vorbei an einer verfallenen Burg, eingefallenen Häusern. Steinig und sandig wird der Weg, dann bin ich wieder im Bereich der Buchen und Kirschen — schade nur, dass die Königskerzen noch nicht blühen, die zu hunderten mannshoch den Weg säumen und auf den Wiesen stehen. Abschnittsweise führt der Weg auf einem Damm — rechts und links Trockenmauern und ein Stockwerk tiefer die Weiden und Felder. Ich komme an einem leeren, schönen Bauernhaus vorbei — in der Garageneinfahrt sitzen einige Französinnen und laden mich zu Schokolade und Keksen ein. Ich nehme dankend an, trinke noch meinen letzten Tee dazu und marschiere weiter.
Neben dem Weg am Ortseingang von Saint-Chely-d’Aubrac eine Gîte, vor der eine alte Dame im Garten arbeitet — ich kraxle die Böschung hinab und zehn Minuten später habe ich ein Vierbettzimmer für mich. Mit eigenem Bad! Eine herrliche Gîte! Ich stehe unter der Dusche, da höre ich ein unverkennbares Lachen: Janet! Eben eingelaufen! Ich wasche meine Wäsche, gehe auf den sonnendurchglühten Balkon, um sie aufzuhängen, als mir zwei mittelalterliche Damen entgegenkommen, nur mit Handtüchern bekleidet.
Ich sitze in Shorts am Tisch auf dem Balkon, schreibe Tagebuch und da kommt Janet und erzählt ganz aufgeregt: „Ich habe heute eine Schlange gesehen!“ Der Herbergswirt hat ein schönes Buch über Pflanzen und Tiere in Frankreich und wir identifizieren das gefährliche Ungetüm als harmlose Natter. André kommt hinzu, und ich versuche, gemeinsam mit ihm über mein Handy die Gîte der Christlichen Gemeinschaft in Estaing zu erreichen, in der ich morgen übernachten will. Leider sitzen wir hier im Funkloch — müssen wir es eben morgen früh von der Telefonzelle aus versuchen.
Während wir uns noch ein bisschen unterhalten, habe ich einen Zimmergenossen bekommen: Rolf kommt aus Bochum, hat vor einiger Zeit seine Firma an seinen Sohn übergeben und ist auch von Zuhause aus losgelaufen — ein lustiger Mensch, wir verstehen uns recht gut und werden bis Conques zusammen gehen. Abendessen: Die Kanadier haben zwar für sich selbst gekocht, doch die Hausmutter lässt es sich nicht nehmen, André mit lokalen Spezialitäten zu verwöhnen. Es gibt Wein und gemeinsam mit den Damen, die hier als Feriengäste logieren, wird es noch ein ganz lustiger Abend.