Donnerstag, 2. Juni 2005
Montfaucon – Moulin de Guérin 37 km
Ich habe gut geschlafen, endlich wieder mal alleine im Zimmer, bei offenem Fenster. Ab fünf Uhr döse ich eigentlich nur noch: Mein rechtes Bein schmerzt, ist geschwollen, und ich habe es mit Voltaren eingerieben. Trotzdem pocht es weiter — ich versuche es mit Kühle, indem ich es aus dem Schlafsack strecke, das hilft ein bisschen. Kurz vor sechs stehe ich auf. Ich habe noch ein Stück Baguette und mache mir mit der Feigenmarmelade, die die Französinnen auf dem Tisch haben stehen lassen — „pour votre déjeuner!“ — zwei köstliche Brote zum Morgentee. Dann noch ein Croissant, eine Banane — was geht es mir gut!
Ich packe, bringe den Schlüssel zum Tourist-Office und um kurz nach sieben hat mich der Jakobsweg wieder. Das rechte Bein schmerzt bei jedem Schritt, nur manchmal gibt es Ruhe. Ich gehe sehr langsam — mein Körper mag offenbar nicht schneller — in den ersten beiden Stunden gerade einmal sechseinhalb Kilometer. Gegen viertel vor zehn bin ich in Tence.
Ein netter Hund mit einem Kippohr wie ein Collie beschnuppert mich freundlich, ein Schild sagt: „Entrée Chapelle“ und ich finde mich in einer ruhigen, schönen Kirche wieder, in der ein stiller Beter sitzt. Ich danke Gott für den herrlichen Tag gestern und die ruhige Nacht, für die vielen freundlichen, hilfsbereiten Menschen, denen ich begegnen durfte und bitte um Kraft und Schutz für die nächsten beiden Drittel meines Weges.
Dann setze ich mich vor einem kleinen Lokal hinter einen großen Café au lait und schreibe Tagebuch. Während ich da im Schatten sitze, sehe ich Gerhard die Kirche fotografieren, in ihr verschwinden und wieder zum Vorschein kommen. Ich bleibe still sitzen, mache mich ganz klein und er bemerkt mich offensichtlich nicht. Lass ziehen...
Ich sitze nun schon fast eine Dreiviertelstunde hier und schreibe. Langsam wird es doch Zeit, weiterzugehen — aber es ist so schön, mal faul zu sein! Zwei, drei Tage noch, und dann bin ich in Le Puy — da bekommt mein Körper einen ganzen Tag Ruhe.
Ich habe mich aufgerafft, habe in der Boulangerie nebenan noch eingekauft. Dann geht es weiter: über die Brücke — von hier bietet die Stadt ein malerisches Motiv — an einer Drechselei vorbei mit wunderschönen Holzsachen — soll ich mir einen Bollerwagen kaufen für meinen Rucksack?! Herrlich friedliche Wege, Rast am Waldrand, — wenn mir nur mein rechtes Bein nicht solche Sorgen machte! Endlich finde ich einen schönen Platz zum Siestamachen und komme auf den Gedanken, mein Bein mit einem feuchten Umschlag zu kühlen — das tut gut. Der Muskel neben dem Schienbein ist dick geschwollen! Ich schlafe fast eine Stunde.
Eine herrliche Allee, eine ganze Herde Ziegen auf einer Weide, ein Hofladen, in dem ich köstlichen Ziegenkäse einkaufe. Ehe ich mich versehe, bin ich in Saint Jeures. Natürlich erst einmal in die Kirche: still, schön, beeindruckend — und als ich wieder herauskomme, sind da Silvya und Jürn! Ich freue mich riesig, sie wiederzusehen. Sie gehen noch in die Kirche, nachdem ich ihnen mein Pilgerlied aufgeschrieben habe. Am Ortsausgang dann der Blick auf die beiden Vulkankegel — ich kann nicht anders: Mich erinnern sie an die weibliche Anatomie! Bin ich vielleicht schon zu lange von zuhause weg?
Dann: Araules — und als ich von der Kirche auf den Dorfplatz komme, sind da die beiden Schweizer wieder, todtraurig: Sie haben ihre Pilgerpässe verloren! Nochmals ein herzlicher Abschied. Weiter bergauf, eine endlose Asphaltstraße hoch durch den Wald, und als ich oben bin, kommen sie wieder angestiefelt. Silvya hat Schwierigkeiten mit dem Knie, Jürn mit dem Schienbein. Ich lasse sie vorangehen und stapfe langsam weiter: Mein Bein schmerzt.
Bei La Banque die höchste Stelle: 1280 Meter. Herrliche Aussicht! Alle Wege steil hinab jetzt, ein Brunnen, an dem ich mein Bein kühlen kann und meine Wasserflasche auffülle. Ein kleiner Ort, in dem ich mich kurz verlaufe. Es wird Abend, die Sonne sinkt. Ich komme in die Schlucht bei der Moulin de Guérin. Ruhebänke, Picknicktische, kurz geschnittener Rasen: Ideal zum Lagern. Endlich einmal draußen schlafen! Ich esse noch ein bisschen Brot und Wurst, trinke ein paar Schlucke Wasser, dann schlüpfe ich in den Schlafsack und schlafe fest.