EPILOG

 

 

 

Der alte Mann schlurfte die Straße hinunter, die auch jetzt, kurz vor Mitternacht, noch ziemlich belebt war. Während er sich tief gebückt durch die Menge schlängelte, beobachtete er aufmerksam die Gesichter, die an ihm vorüberzogen. Er trug schmutzige, halb zerfetzte Tennisschuhe, und seine Jeans waren um einige Zentimeter zu kurz. In manchen Städten wäre der schmuddelige alte Mann vielleicht aufgefallen, nicht aber in São Paulo. Unter den mehr als zwanzig Millionen Einwohnern, von denen fünf Millionen in tiefster Armut lebten, war er in der riesigen brasilianischen Stadt nur einer von vielen, die ihr Leben auf der Straße fristeten.

Er ging an einem anderen Obdachlosen vorüber, der sich vor dem Eingang eines Kaufhauses sein bescheidenes Nachtlager bereitet hatte. Er befand sich in Born Retiro, einem Stadtteil, in dem fast eine Million palästinensische, libanesische, iranische und arabische Einwanderer lebten. Dass er ausgerechnet in dieser Stadt gelandet war, hatte sich aufgrund einer einzigen kleinen Information ergeben.

In seinem halb bewusstlosen Delirium hatte Fara Harut ihnen unfreiwillig den entscheidenden Hinweis gegeben. Binnen weniger Minuten hatte die National Security Agency eine ausgedehnte Suchoperation mit allen elektronischen Hilfsmitteln gestartet. Ein KH-12-Keyhole-Satellit war über São Paulo in eine geostationäre Umlaufbahn gebracht worden, um Telefongespräche aus einem ganz bestimmten Stadtteil aufzuzeichnen. Mit Hilfe der Supercomputer der NSA in Fort Mead, Maryland, wurden drei Wochen lang viele tausende Gespräche analysiert, bis man schließlich fündig wurde.

Der alte Mann schlurfte mit seiner schmierigen Stofftasche die Straße entlang und verfolgte dabei aufmerksam, was um ihn herum vorging. Er achtete vor allem auf Gesichter, die er schon einmal gesehen hatte, und auch darauf, ob sich unter den Kleidern irgendwelche Waffen abzeichneten. Auf diese Weise hatte er vor zwei Nächten die Straße hier entdeckt. Es begann damit, dass er einen Mann vor einer Tür stehen und eine Zigarette rauchen sah. Als der Mann einmal das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, wurde eine Pistole unter dem Sakko sichtbar.

Rafik Aziz war ganz in der Nähe, das spürte Rapp genau. Als er an dem Mann vor der Tür vorbeiging, senkte er seinen Kopf noch etwas tiefer und musterte ihn eingehend. Nach einigen Schritten blieb Rapp stehen und beugte sich hinunter, um eine Flaschenkapsel aufzuheben, die er hatte fallen lassen, als er das letzte Mal hier vorbeigekommen war. Während er sich wieder aufrichtete, warf er einen kurzen Blick durch eines der Fenster des Hauses und sah zwei Männer, die auf einer Couch vor dem Fernseher saßen. Zwanzig Minuten zuvor hatte Rapp beobachtet, wie eine Limousine vorfuhr, aus der eine Prostituierte ausstieg, die ins Haus ging.

Rapp schlurfte weiter die Straße hinunter und bog in eine enge Gasse ein. Er hob den Deckel einer Mülltonne und tat so, als durchwühle er sie. Rapp hatte darauf bestanden, die Sache allein durchzuziehen. Es sollte keine Kontakte mit den brasilianischen Behörden geben und keine einsatzbereiten Kommandotrupps. Nichts, was Aziz in irgendeiner Weise verdächtig vorkommen könnte.

Commander Harris und zwölf seiner SEALs waren in zwei Wagen etwa zwei Kilometer entfernt postiert. Rapp hatte seine Vorgesetzten und den Präsidenten überreden können, ihm eine Woche Zeit zu geben. Mit seinem geschulten Auge hatte er lediglich drei Tage gebraucht, um etwas zu entdecken, das all den teuren elektronischen Suchgeräten der CIA entgangen wäre: das kurze Aufblitzen einer Waffe an der Hüfte eines Mannes.

Mit jedem Mülleimer, an dem er vorüberkam, wurde die Gasse dunkler und dunkler, und immer mehr Ratten tummelten sich um ihn herum. Rapp steckte eine Flasche in seine Stofftasche und blickte zum ersten Stock des Hauses hinauf. Durch die Jalousien sickerte schwacher gelber Lichtschein hervor, der von einer flackernden Kerze stammte. Ganz kurz bewegte sich eine Gestalt am Fenster. Rapp leckte sich über die trockenen Lippen und spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, als er sich der Hintertür näherte.

Der Leibwächter war vielleicht fünf Meter von ihm entfernt, und Rapp spürte, dass der Mann ihn beobachtete. Verstohlen blickte Rapp auf die Hände des Mannes; die eine ruhte an seiner Hüfte, in der anderen hielt er eine Zigarette. Rapp näherte sich ihm vorsichtig. Als er nur noch zwei, drei Meter von ihm entfernt war, sah er, wie der Wächter seine Pistole aus dem Holster zog. Dann sprach er Rapp auf Arabisch an und forderte ihn auf, zu verschwinden. Rapp blickte auf und tat so, als verstünde er den Mann nicht. Seine Hand hatte er immer noch in der zerlumpten Tasche, wo er seine schallgedämpfte 9-mm-Pistole festhielt.

Rapp sah, dass die Pistole des Wächters nicht direkt auf ihn gerichtet war. Ein Fehler, dachte Rapp und drückte den Abzug seiner Beretta. Die Kugel traf den Wächter direkt zwischen die buschigen schwarzen Augenbrauen.

Rapp sprang auf den niedersinkenden Mann zu und hielt ihn fest, um ihn langsam zu Boden gleiten zu lassen. Er holte ein kleines Funkgerät aus seiner Tasche und meldete: »Ich gehe jetzt ins Haus.« Er ließ die Tasche neben dem Toten liegen und trat langsam in die Küche ein. Von der anderen Seite des Flurs drang lautes Gelächter zu ihm her, außerdem waren Stimmen aus dem Fernseher zu hören. Rapp schloss die Tür hinter sich und durchquerte die Küche. Direkt vor ihm auf der anderen Seite des Flurs befand sich die Haustür. Zu seiner Linken führte eine Treppe in den ersten Stock hinauf, während rechts von ihm zwei Männer mit dem Rücken zu ihm saßen und fernsahen.

Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Rapp trat in das Zimmer und hob seine Pistole. Der Mann zu seiner Linken spürte etwas und wirbelte herum. Rapp erkannte ihn sofort. Es war Salim Rusan, der Mann, der vor einem Monat vom Dach des Washington Hotel aus ein Dutzend Secret-Service-Leute erschossen hatte. Rapp jagte dem Mann neben ihm eine Kugel in den Hinterkopf und traf dann den völlig überraschten Rusan direkt zwischen die Augen. Rasch lief er zu dem zweiten Mann hinüber und nahm ihm die Fernbedienung aus der Hand. Er stellte den Ton etwas lauter und eilte dann zur Treppe hinaus. »Drei Tangos down«, flüsterte er in sein Funkgerät, rannte die Treppe hinauf und blieb kurz vor dem oberen Treppenabsatz stehen, um zu lauschen. Aus dem Zimmer direkt vor ihm drang das leidenschaftliche Stöhnen einer jungen Frau. Rapp atmete tief durch. Endlich am Ziel. Er griff mit der rechten Hand nach dem Türknauf und drückte die Tür auf.

Mit der Pistole in der Hand wirbelte Rapp von links nach rechts. Zu seiner Rechten bewegte sich etwas. Da waren zwei Körper, die ineinander verschlungen auf dem Bett lagen. Eine Hand hob sich und tastete suchend nach irgendetwas. Rapp zielte auf den Arm und feuerte. Die Kugel zertrümmerte Aziz’ Ellbogen.

Rapp zielte erneut, doch die Frau war ihm im Weg. Aziz warf sich zur Seite und benutzte die Frau als lebenden Schutzschild. Rapp sah, dass Aziz’ Hüfte ungeschützt war und feuerte, ohne zu zögern. Im nächsten Augenblick griff Aziz mit dem anderen Arm unter das Kissen, und Rapp traf mit dem nächsten Schuss auch den zweiten Ellbogen des Mannes. Das Blut strömte aus den drei Wunden, und Aziz stöhnte auf vor Schmerz.

Rapp zog die Frau vom Bett herunter, riss sich die Perücke vom Kopf und spuckte die falschen Zähne aus. Er blickte auf Aziz hinunter, der aus drei Wunden blutend auf dem Bett lag und seine Arme nicht mehr gebrauchen konnte. Rapp richtete den Lauf seiner Pistole auf Aziz’ Stirn. »Erinnerst du dich an mich?«, fragte er.

Aziz blickte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf, schien Rapp jedoch nicht zu erkennen.

Rapp drehte den Kopf zur Seite. »Die Narbe hier habe ich von dir. Das war in Paris, weißt du noch?«

Aziz’ Gesicht erstarrte, als er angestrengt nachdachte. Schließlich erschien der Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen.

Rapp trat einen Schritt zurück. Mit großer Genugtuung drückte er erneut ab und schloss damit endgültig ein dunkles Kapitel seines Lebens.

»Vier Tangos down. Ich verschwinde von hier«, murmelte er in sein Funkgerät. Er trieb die Prostituierte über den Flur und in das Erdgeschoss des Hauses hinunter. Bei der Hintertür forderte er sie auf, zu verschwinden, und sah ihr nach, wie sie in die Dunkelheit hinaustaumelte. Rapp holte eine C-4-Sprengladung aus seiner Tasche und stellte den Zeitzünder auf zwanzig Sekunden ein. Er warf die Sprengladung in die Küche und schloss die Tür.

Ohne übertriebene Hast ging er bis ans Ende der Gasse, wo ein schwarzer Mercedes mit quietschenden Reifen anhielt. Die Türen flogen auf, und Rapp setzte sich neben Commander Harris in den Wagen.

Während der Fahrer auf das Gaspedal stieg, zerriss eine laute Explosion die Luft, und die dunkle Gasse verwandelte sich in ein Flammenmeer.