49

 

 

 

Die MC-130 Combat Talon der Air Force flog in 10000 Fuß Höhe über Washington hinweg. Die Combat Talon, die zum 1st Special Operations Wing gehörte, war ein wichtiges Hilfsmittel, wenn es um das Einsetzen und die Wiederaufnahme von Kommandotrupps ging. Lt. Commander Harris stand am Heck der Maschine und blickte durch die offene Rampe auf die Stadt hinunter. Der Wind pfiff durch den offenen Laderaum, und das Dröhnen der vier Triebwerke machte es schwer, sich zu unterhalten. Zu Harris’ Rechten senkte sich die orange leuchtende Sonnenscheibe soeben unter den Horizont. Zu seiner Linken zogen dunkle Gewitterwolken herauf. Ersteres kam durchaus gelegen – die Dunkelheit bot stets Schutz vor dem Entdecktwerden –, Letzteres war jedoch äußerst unangenehm; Wind und Regen vertrugen sich einfach nicht mit dem Fallschirmspringen.

Harris hatte erst vor wenigen Minuten von General Campbell von der Änderung des ursprünglichen Plans erfahren. Die neuen Voraussetzungen stellten für die SEALs einen Albtraum dar; sie konnten ihre Absprungzeit nun nicht mehr selbst bestimmen, sondern mussten warten, bis Aziz sich in den Keller begab, und ihr Flugzeug dann so schnell wie möglich in Position bringen. Harris hatte beschlossen, dass sie aus einer Höhe von 10000 Fuß abspringen und bei etwa 1000 Fuß den Fallschirm öffnen und sich zum Dach des Weißen Hauses hinuntertragen lassen würden.

Commander Harris ging ins Innere des Laderaums, um seinen Männern mitzuteilen, dass es bald regnen würde. Er hatte für diese Mission Mick Reavers, Tony Clark und Jordan Rostein ausgewählt, die hervorragende Schützen und Sprengstoffexperten waren. Alle vier trugen schwarze Nomex-Overalls, Balaklava-Mützen und Handschuhe. Bewaffnet waren sie mit 9-mm-SIG-Sauer-Pistolen und schallgedämpften MP-10-Maschinenpistolen. In ihren Gefechtswesten, die sie über den kugelsicheren Westen aus Kevlar trugen, hatten sie mehrere Ersatzmagazine verstaut. Außerdem waren die vier mit MX300-Motorola-Funkgeräten ausgerüstet.

Harris trat auf seine Männer zu und rief, um sich bei dem heulenden Wind verständlich zu machen, mit lauter Stimme: »Das Gewitter zieht von Osten herauf! Es sieht gar nicht gut aus.«

Clark sah seinen Kommandanten kopfschüttelnd an. Er wusste, dass Harris verrückt genug war, um auch mitten im ärgsten Gewitter einen Absprung zu wagen. »Nicht im Regen, Harry!«, rief er Harris zu.

Harris nickte und murmelte für sich: »Wir werden sehen.«

Die dunklen Wolken kamen unterdessen immer näher. Plötzlich zuckte ein greller Blitz über den Himmel. Wenig später folgte ein Donnerschlag, der trotz des Dröhnens der Triebwerke deutlich zu hören war. In der Ferne konnte man erkennen, dass es bereits in Strömen goss. Bald würde der Regen auch die Hauptstadt erreichen. Sie hatten allerhöchstens dreißig Minuten, bevor Regen und Wind einen Absprung zu einem Selbstmordkommando machten.

 

 

Rapp und Adams standen vor der Tür und gingen noch einmal rasch ihren Plan durch. Wenn sich die Lage zuspitzte, konnte das HRT jederzeit eingreifen und in zwanzig Sekunden im Weißen Haus operieren. Außerdem würde die Delta Force in zwei Minuten zur Stelle sein, um den Präsidenten in Sicherheit zu bringen. Jetzt war der Moment gekommen, um ein gewisses Risiko einzugehen.

»Bist du soweit?«, wandte sich Rapp an Milt.

Adams nahm seine Baseballmütze ab und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von seinem kahlen Kopf. »Ich bin bereit«, sagte er schließlich kopfnickend.

Rapp überprüfte noch einmal rasch seine Ausrüstung und sagte über Funk: »Iron Man an Zentrale. Wir starten. Over.« Rapp nickte Adams zu und tippte den Code ein.

Er hatte keine Ahnung, was ihn auf der anderen Seite erwartete. Möglicherweise hatte Aziz einen Wächter davor postiert. Rapp ging jedoch davon aus, dass es sich Aziz nicht leisten konnte, einen Mann für die Bewachung der Tür zu opfern. Was ihm mehr Kopfzerbrechen bereitete, war die Möglichkeit, dass man die Tür mit einer Sprengfalle gesichert hatte. Er legte die Hand auf die Türklinke und wartete einen Augenblick. Dann drehte er den Kopf zur Seite, drückte die Klinke herunter und zog die Tür wenige Zentimeter auf.

Rapp blieb hinter der schweren Stahltür, um sich gegen eine eventuelle Detonation zu schützen, und horchte aufmerksam auf das typische Geräusch eines gespannten Drahts, der die Zündung auslösen würde. Er zählte bis drei, und dann weiter bis fünf, um ganz sicherzugehen. Während er in der linken Hand seine MP-10 hielt, streckte er die rechte nach hinten aus, worauf Adams ihm das Kabel mit der Linse reichte. Rapp schob die winzige Linse um die Ecke und ließ sie nach links, dann nach rechts und schließlich nach oben blicken. Die Bilder konnten in Langley empfangen werden.

Es war General Campbell, der sich über Funk meldete. »Es sieht gut aus, Iron Man«, teilte er Rapp mit.

Rapp spähte um die Tür herum, um sich selbst ein Bild zu machen. Zu seiner Linken sah er eine Treppe, die steil hinaufführte. Er hatte erwartet, dass es hier dunkel sein würde, stattdessen war die verborgene Treppe, die zum Oval Office führte, von zwei Glühbirnen beleuchtet. Direkt vor ihm drang etwas Licht unter einer Tür hindurch, die zur Horsepower-Zentrale des Secret-Service-Sonderkommandos führte. Von hier aus wurden mit Hilfe von Alarmsystemen und Kameras all jene Bereiche überwacht, in denen sich der Präsident aufhielt. Man konnte das gesamte Gelände sowie das Innere des Weißen Hauses vom neuen Joint Operations Command aus im Auge behalten. Rapp wusste, dass schon kurz nach dem Anschlag die inneren Kameras abgeschaltet worden waren. Aziz wollte sich verständlicherweise nicht vom Secret Service beobachten lassen. Rapps Aufgabe war es nun, festzustellen, wie viel von dem System noch aktiv war und ob die Tangos es überwachten.

Rapp trat hinter der Tür hervor und schlich vorsichtig auf den Eingang zu Horsepower zu. Adams blieb dicht hinter ihm und schob die winzige Linse unter der Tür zur Horsepower-Zentrale hindurch. Rapp verfolgte auf dem Monitor, was die Optik ihnen lieferte, als ihm plötzlich etwas auffiel. Hinter einem Schreibtisch sah er die Schultern und den Kopf eines Mannes.

»Ein Tango«, meldete sich General Campbell über Funk. »Er sitzt an der Überwachungskonsole. Könnt ihr uns einen Blick darauf machen lassen, was er überwacht?«

Adams zoomte näher heran, damit sie den Mann auf der anderen Seite der Tür besser sehen konnten. Direkt vor dem Terroristen standen ein Dutzend kleine Schwarzweißmonitore auf einem Metallgestell. Zwei der Monitore ganz unten waren vom Kopf des Mannes verdeckt, die zehn übrigen Bildschirme schienen Bilder von der Umgebung des Weißen Hauses zu liefern.

Rapp drehte sich um und flüsterte in sein Mikrofon: »Wir bringen eine Kamera an und gehen weiter.« Er holte eines der Überwachungsgeräte hervor und befestigte es direkt unter der Tür. »Habt ihr einen Empfang?«, wandte er sich an die Zentrale in Langley.

»Ja«, kam die prompte Antwort.

Rapp tippte Adams auf die Schulter und zeigte auf die Treppe. Adams zog das optische Kabel zurück und rollte es zusammen. Rapp hielt zuerst nach eventuellen Stolperdrähten Ausschau und stieg dann die Treppe hinauf. Als sie oben ankamen, deutete Adams auf einen Abschnitt der Wand, der sich per Knopfdruck öffnen ließ. »Sie geht nach innen auf.« Rapp nickte. Er hätte lieber still und leise ein Loch in die Wand gebohrt und eine Kamera hineingesteckt, um einen Blick auf die andere Seite werfen zu können, doch dafür war nun einmal keine Zeit. Er drückte den Knopf und hielt seine MP feuerbereit. Die Wand öffnete sich ein Stück weit, und Rapp schob sie weiter auf. Als er über den Flur zum Arbeitszimmer des Präsidenten hinüberblickte, stieg ihm ein übler Geruch in die Nase.

Rapp atmete durch den Mund und drehte sich zu Adams um. »Ich glaube, da drin sind ein paar Leichen. Kommst du damit klar?«

Adams nickte und forderte Rapp mit einem Handzeichen auf, weiterzugehen.

Rapp zeigte Adams an, dass er kurz warten solle, und schlich dann die Wand entlang. Durch die Fenster drang das Licht der untergehenden Sonne herein. Im Esszimmer war sowohl die Deckenlampe als auch eine Tischlampe eingeschaltet, und auf dem Tisch standen mehrere halb volle Kaffeetassen und Gläser. Es war, als wäre hier drinnen die Zeit stehen geblieben.

Rapp wusste, dass die Leute in Langley alles sehen konnten, was er sah. »Iron Man«, meldete sich Campbell über Funk, »da ist eine Tür zu Ihrer Linken, die zum Rosengarten hinausführt.« Rapp wandte sich der Tür zu, und der General fuhr fort: »Ja, genau die. Sehen Sie mal nach, ob da irgendwelche Sprengfallen sind.«

»Roger«, entgegnete Rapp und ging am Tisch vorbei zur Wand. Bei der Tür stand eine große Topfpflanze, und daneben der gleiche graue Metallkasten, wie Rapp ihn schon im Schlafzimmer des Präsidenten vorgefunden hatte. Aus dem Kasten führte ein dünner Draht zur Tür. Rapp folgte dem Draht und blieb abrupt stehen.

»Scheiße«, stieß er hervor.

»Was gibt’s?«, fragte Campbell.

»Sehen Sie den Draht nicht?«

»Nein.«

»Er zieht sich die ganze Wand entlang.«

»Das könnte ein Problem werden«, sagte Campbell. Sie hatten sehr wohl damit gerechnet, dass die Türen mit Sprengfallen versehen waren, was man dadurch umgehen wollte, dass man Löcher in die Wände sprengte, um sich auf diese Weise Zutritt zu verschaffen. Wenn jedoch die Drähte entlang der Wände verliefen, würde dieser Plan nicht funktionieren.

»Ich gehe jetzt weiter«, meldete Rapp. »Hoffen wir, dass unsere SEALs ganze Arbeit leisten, sonst bekommen wir nämlich einen Haufen Ärger.« Rapp ging rasch ans andere Ende des Raumes, trat in die Speisekammer und ging zu der Tür weiter, die auf den Hauptflur des Westflügels hinausführte. Als er auf den Flur trat, fielen ihm sogleich die eingetrockneten Blutspuren auf dem Teppich auf. Es sah aus, als hätte man hier Leichen über den Flur und in das Zimmer gegenüber geschleift.

Rapp wollte sich lieber nicht vorstellen, was sich hinter der verschlossenen Tür verbarg; er nahm an, dass dort die Ursache für den üblen Geruch zu finden war. Er blickte sich nach allen Seiten um und bemerkte eine weitere Bombe zu seiner Linken. Rapp bückte sich, um seine Head-Cam auf den grauen Metallkasten zu richten. Es war noch schlimmer, als er angenommen hatte. Die Terroristen hatten offenbar auch hier drinnen so gut wie alles mit Sprengfallen gesichert. Rapp kehrte zu Adams zurück.

»Habt ihr die zweite Bombe gesehen?«, fragte Rapp in der Zentrale an.

»Ja. Sind die Flecken auf dem Teppich das, wonach es aussieht?«

»Es dürfte eingetrocknetes Blut sein«, bestätigte Rapp, der inzwischen bei Milt Adams angelangt war. Er ging ein Stück weiter und warf einen Blick in das Oval Office. Dort sah er die Ursache für den üblen Geruch; zwischen den beiden Couches lag die aufgedunsene Leiche eines Mannes am Boden, sein Kopf in einer riesigen Blutlache. Rapp trat in das Zimmer ein, um einen Blick auf das Gesicht des Toten zu werfen – doch er bereute es augenblicklich; das Gesicht war genauso aufgedunsen wie der Hals, der förmlich aus dem Hemdkragen hervorquoll. Die Hände des Mannes waren ebenfalls angeschwollen.

Rapp überprüfte die Wand hinter dem Schreibtisch des Präsidenten. Bei der Tür, die in den Säulengang führte, entdeckte er eine weitere Sprengfalle, deren Draht ebenfalls die ganze Wand entlanglief.

»Dasselbe wie im Zimmer zuvor«, meldete er an die Zentrale. »Ich werde mich jetzt zusammen mit Milt weiter umsehen.«

Adams stand in der Tür und sah sich die aufgedunsene Leiche an. Als Rapp wieder bei ihm war, fragte er: »Kennst du ihn?«

Adams schüttelte den Kopf.

Die MP im Anschlag, ging Rapp vorsichtig in das Esszimmer weiter. »Es gibt da eine Tür direkt gegenüber auf der anderen Seite des Flurs. Wo führt sie hin?«

»In den Roosevelt Room.«

»Was ist da drin?«

»Nur ein großer Konferenztisch.«

Rapp nickte. »Okay. Ich möchte, dass du zum Roosevelt Room hinübergehst und unter der Tür einen Blick hinein wirfst. Und bleib links von der Tür stehen; nicht direkt vor der Tür.«

Er hatte immer wieder betont, wie wichtig es war, sich nicht direkt vor eine Tür zu stellen, um nicht von einer feindlichen Kugel getroffen zu werden. Rapp trat in die kleine Speisekammer beim Esszimmer. Durch die Tür zum Flur warf er einen Blick hinaus und sah sich nach beiden Seiten um. Dann hob er die rechte Hand und signalisierte Adams, dass die Luft rein war.

Milt eilte auf den Flur hinaus und blieb links von der Tür zum Roosevelt Room stehen. Er schob das Ende des Kabels unter der Tür hindurch und starrte auf den Monitor. Zuerst wusste er nicht recht, was er da eigentlich sah.

Am Boden waren mehrere eigenartige Formen zu erkennen, und der große Konferenztisch war umgeworfen und an die Wand gerückt worden. Plötzlich bewegte sich etwas, und Adams wusste mit einem Mal, dass das am Boden Menschen sein mussten. Was sich bewegt hatte, war ein Bein, das von einer blauen Hose mit rotem Längsstreifen an der Seite bedeckt war. Adams war sofort klar, dass es sich um die Hose eines US Marines handelte.

In Langley verfolgte man das Ganze mit großer Aufmerksamkeit. Es war General Campbell, der sich schließlich mit Adams in Verbindung setzte. »Milt, geben Sie mir einen schönen Überblick über das Zimmer, ganz langsam, und gehen Sie dann von der Tür weg.« Adams ließ die Optik langsam von links nach rechts und wieder zurück wandern. Als er fertig war, sagte Campbell: »Das genügt, und jetzt nichts wie weg hier.« Adams zog das Kabel heraus und eilte über den Flur zu Rapp zurück.

»Zentrale«, flüsterte Rapp in sein Mikrofon, »was habt ihr gesehen? Over.«

»Da sitzt ein Tango auf dem Sessel gegenüber der Tür. Er hat anscheinend eine AK-74 im Schoß liegen.« Rapp hörte noch andere Stimmen im Hintergrund. Wenige Augenblicke später fügte Campbell hinzu: »Man hat mir gerade gesagt, dass es noch zwei andere Türen zu diesem Zimmer gibt; eine davon ist blockiert. Auf dem Boden haben wir mindestens ein halbes Dutzend Geiseln, es könnten auch mehr sein. Wie es aussieht, sind sie gefesselt und tragen Kapuzen.«      

Adams, der direkt hinter Rapp stand und alles mithörte, sagte: »Einer der Männer ist mit Sicherheit ein Marine.«

»Das können wir bestätigen. Wir sehen uns das Band noch einmal an, aber es sieht ganz danach aus, als hätten wir unsere fehlenden Geiseln gefunden.«

Rapp blickte zur Tür des Roosevelt Room hinüber und wandte sich dann Adams zu. »Milt, nimm dir eine unserer Kameras und befestige sie im richtigen Winkel unten an der Tür. Ich bleibe hier und passe auf, dass dich niemand stört.«

Adams nickte, ging auf leisen Sohlen zur Tür hinüber und installierte die Kamera.