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Nach Aziz’ unerwartetem Anruf war im Besprechungszimmer der Joint Chiefs im Pentagon das Chaos ausgebrochen. Linker Hand von Mitch Rapp diskutierten seine Vorgesetzten mit den Stabschefs, während sich zu seiner Rechten Vizepräsident Baxter mit seinem Kabinett beriet. Nachdem Rapp sich ziemlich genau vorstellen konnte, wie die Leute links von ihm mit der Lage umgehen würden, konzentrierte er sich darauf, den Politikern rechts von ihm zuzuhören. Nach einigen Minuten kam Rapp zu dem Schluss, dass die Leute um Baxter offensichtlich keine Ahnung hatten, welche Maßnahmen in dieser Situation erforderlich waren.

Worte wie »Vorsicht« und »Zurückhaltung« kamen in jedem Satz vor, sodass Rapp zunehmend das Gefühl bekam, dass diesen Leuten überhaupt nicht klar war, mit wem sie es zu tun hatten. Mehr als einmal musste Rapp den Impuls unterdrücken, diesen Ahnungslosen die Augen zu öffnen. Aber nein, Irene Kennedy hatte Recht; es war am besten, wenn er nicht auffiel.

Die Diskussionen gingen noch einige Minuten weiter, ehe Vizepräsident Baxter schließlich mit den Fingern schnippte, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu gewinnen. Die Gespräche verebbten, und Baxter verkündete: »Justizministerin Tutwiler hat einen Plan, und ich möchte, dass Sie ihr zuhören.«

Alle Blicke wandten sich der Justizministerin zu, die ihre Brille abnahm und zu sprechen begann: »Finanzminister Rose hat uns bestätigt, dass dieses Geld tatsächlich existiert und von unserer Regierung eingefroren wurde, als der Schah gestürzt war. Man muss klar festhalten, dass dieses Geld nicht uns gehört. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Zeichen unseres guten Willens und unserer Bereitschaft, über die Freilassung der Geiseln zu verhandeln, einen Teil des Geldes morgen um neun Uhr herausgeben sollten. Im Gegenzug verlangen wir von Mr. Aziz, dass er ebenfalls seinen guten Willen zeigt und einen Teil der Geiseln freilässt.«

Die Leute an ihrem Ende des Tisches blickten ausnahmslos zum anderen Ende hinüber, um zu sehen, wie der Vorschlag von den Stabschefs, der CIA und dem FBI aufgenommen wurde. Admiral Nelson, der Chief of Naval Operations, meldete sich als Erster zu Wort.

Nelson, ein kahlköpfiger Mann mit schmalem Gesicht, sagte: »Ich würde davon abraten, ihm irgendetwas zu geben! Wenn wir auf seine Forderungen eingehen, verlieren wir jede Glaubwürdigkeit! Wir haben uns bisher nie auf Verhandlungen mit Terroristen eingelassen. Nie! Die ganze Welt blickt auf uns… Wir sollten gerade jetzt nicht von unserem Kurs abweichen.«

Vizepräsident Baxter musterte seine militärischen Berater. Er hatte gewusst, dass sie diese Meinung vertreten würden, doch er brauchte sie jetzt auf seiner Seite. Er musste einen gewissen Konsens herstellen, damit er – wenn alles schief gehen sollte – nicht ganz allein dastand. Baxter beschloss, an das Mitgefühl der Anwesenden mit den Geiseln zu appellieren. »Ich möchte Sie alle daran erinnern, dass da drinnen amerikanische Bürger als Geiseln festgehalten werden. Ja, der Präsident ist in Sicherheit, aber wir müssen trotzdem tun, was wir können, um unsere Leute lebend herauszubekommen. Da finde ich es durchaus angebracht, ein wenig Geld locker zu machen, wenn wir damit Menschenleben retten können – Geld, das übrigens nicht einmal uns gehört.« Der Vizepräsident blickte jedem Einzelnen der Militärs in die Augen. Er würde später auch noch mit jedem von ihnen allein sprechen, um ihre Unterstützung zu bekommen.

»Wir werden also folgendermaßen vorgehen«, fuhr der Vizepräsident fort und zeigte auf Direktor Roach vom FBI. »Ich möchte, dass Sie und Ihre Leute sich rund um das Weiße Haus postieren. Wenn Sie Leute vom Secret Service als Berater hinzuziehen wollen, können Sie das gerne tun.«

Direktor Roach beugte sich vor. »Ich nehme an, Sie wollen, dass wir Pläne zur Rettung der Geiseln ausarbeiten?«

»Selbstverständlich, aber es wird nichts unternommen, bis ich es sage. Bevor wir eine Operation starten, will ich zuerst so viele Geiseln wie möglich freibekommen.«

Baxter wandte sich der Justizministerin zu. »Marge«, sagte er, »teilen Sie uns bitte mit, wie die Dinge morgen weitergehen.«

Margaret Tutwiler beugte sich vor, damit sie bis zum anderen Ende des Tisches sehen konnte. »Morgen um neun Uhr werden wir Mr. Aziz anrufen und ihm mitteilen, dass wir bereit sind, einen Teil des Geldes auf das angegebene Konto zu überweisen. Das sollte nicht schwer durchzuführen sein. Finanzminister Rose hat mir mitgeteilt, dass das Geld auf einem Dutzend verschiedener Banken liegt – also werden wir einfach einen entsprechenden Betrag von einer der Banken in den Iran überweisen. Es wird sich um rund eine Milliarde Dollar handeln. Wir werden ihm sagen, dass wir uns bemühen, auch noch den Rest des Geldes aufzutreiben, dass es aber hilfreich wäre, wenn er als Zeichen des guten Willens sofort einige der Geiseln freilassen würde.« Margaret Tutwiler hielt einen Augenblick inne; sie wurde in ihrer Konzentration von einem Mann abgelenkt, der energisch den Kopf schüttelte.

Als die Justizministerin mit ihren Ausführungen fortfuhr, hielt sie den Blick auf den Mann gerichtet. »Ich habe mich recht eingehend mit dem Thema Verhandlungen im Falle von Geiselnahme beschäftigt und dabei herausgefunden, dass man viel bessere Chancen hat, die Geiseln freizubekommen, wenn man die Geiselnehmer dazu bringt, auf irgendeine Forderung einzugehen, und mag sie noch so geringfügig erscheinen.« Sie hielt inne, als der Mann erneut den Kopf schüttelte und dann die Hände vors Gesicht schlug. Die Justizministerin war nicht die Einzige, der das auffiel.

Rapp hielt es einfach nicht mehr aus. Margaret Tutwilers Ausführungen verursachten ihm geradezu körperliche Schmerzen. Während er die Hände vors Gesicht schlug, sagte er sich: Das kann doch nicht wahr sein. Bitte, sagt mir, dass es nicht wahr ist. Ich habe so lange darauf hingearbeitet und ich bin so nahe dran. Diese Frau hat überhaupt keine Ahnung, wovon sie redet.

Mindestens die Hälfte der Anwesenden blickten gespannt zwischen Margaret Tutwiler und dem dunkelhaarigen Mann hin und her, der nahe daran zu sein schien, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Die Justizministerin räusperte sich schließlich und fragte: »Verzeihung, aber fehlt Ihnen etwas?«

Rapp hatte sie zuerst gar nicht gehört und spürte plötzlich, dass Irene Kennedy ihn am Arm berührte. Er ließ die Hände sinken und sah, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Als die Justizministerin ihre Frage wiederholte, schaute Rapp sie an und sagte: »Es tut mir Leid, ich habe Sie nicht verstanden.«

In äußerst ungeduldigem Ton fragte die Justizministerin: »Möchten Sie vielleicht etwas dazu sagen, oder brauchen Sie vielleicht ein Aspirin gegen Ihre … Kopfschmerzen?«

Rapp wandte sich kurz seinen Vorgesetzten zu, die ihm keinerlei Signale gaben, und blickte dann wieder die Justizministerin an. Als er ihren herablassenden Gesichtsausdruck registrierte, sagte ihm irgendetwas, dass jetzt nicht der Moment war, um klein beizugeben. Die Chance war so groß. Zum ersten Mal in all den Jahren wusste er genau, wo Rafik Aziz war und wo er in den nächsten Stunden und Tagen sein würde. Sie hatten die Möglichkeit, zum entscheidenden Schlag gegen ihn auszuholen. Diese Gelegenheit durfte man nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Rapp richtete sich auf und sagte: »Ja, ich hätte tatsächlich etwas dazu zu sagen … genau genommen sogar sehr viel.« Er hielt kurz inne, ehe er fortfuhr: »Als Erstes möchte ich Ihnen klarmachen: Wenn Sie ihm nur einen Teil des Geldes geben und ihn ersuchen, dass er einige Geiseln freilassen soll, dann wird er ausrasten. Er wird eine oder mehrere Geiseln ans Fenster stellen, direkt ins Blickfeld der Kameras, und sie töten. Er wird sie vor laufenden Kameras erschießen.«

Margaret Tutwiler sah ihn vorwurfsvoll an. »Ach ja, das ist also Ihre Ansicht, Mr … .«

»Mr. Kruse.«

»Und was haben Sie für Erfahrungen in Sachen Verhandlung mit Terroristen, Mr. Kruse?«

Rapp fand die Frage so lächerlich, dass er den Kopf schüttelte und lachend antwortete: »Keine.«

Margaret Tutwiler, die es nicht gewohnt war, dass man sie so behandelte, wandte sich Baxter zu und fragte mit lauter Stimme: »Was macht dieser Mann hier?«

Ihre arrogante Frage ließ Rapp von seinem Sitz hochschnellen, worauf Irene Kennedy ihn am Unterarm festhielt. Rapp löste die Hand seiner Vorgesetzten von seinem Arm und sagte: »Ich habe einfach zu viel in das Ganze investiert.«

Rapp trat nach vorne ans Rednerpult. Sein Anzug, das weiße Hemd und die Krawatte ließen ihn in dieser Umgebung durchaus akzeptabel erscheinen, doch für jeden, der ihn etwas genauer ansah, war deutlich zu erkennen, dass sein Arbeitsplatz nicht der Schreibtisch war. Als Rapp das Rednerpult erreichte, wiederholte er Margaret Tutwilers Frage für alle Anwesenden. »Was macht dieser Mann hier?« Rapp blickte zur Decke hinauf, so als dächte er über diese Frage nach. »Wissen Sie, ich habe mir diese Frage in den vergangenen zehn Jahren auch immer wieder gestellt, und ich fürchte, ich kann sie Ihnen nicht beantworten.« Er wandte sich der Justizministerin zu. »Aber ich kann Ihnen Ihre andere Frage beantworten …

Was das Verhandeln mit Terroristen betrifft. Ich verhandle nämlich nicht mit Terroristen, Mrs. Tutwiler. Ich töte sie nur.« Rapp ergriff das Rednerpult mit beiden Händen und fügte hinzu: »Ich jage sie, bis ich sie erwische.«

Margaret Tutwiler nahm eine etwas aufrechtere Haltung an, wie um zu zeigen, dass sie von dem ungewöhnlichen Bekenntnis unbeeindruckt war. Dann fragte sie ihn, was ihr als Erstes in den Sinn kam. »Für wen arbeiten Sie, Mr. Kruse?«

»Das wissen nur einige wenige, Ma’am«, erwiderte Rapp mit einem ironischen Lächeln. »Alle anderen brauchen es auch nicht zu wissen. Das gilt auch für Sie.«

»Na gut, Mr. Kruse, wenn wir finden, dass es Zeit ist, diese Terroristen zu töten«, sagte Margaret Tutwiler spöttisch, »dann werden wir Sie auf jeden Fall anrufen. Bis dahin wäre es aber nett, wenn Sie sich wieder setzen würden, damit wir hier weitermachen können.«

Ihre Selbstgefälligkeit ärgerte Rapp so sehr, dass er nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren. »Mrs. Tutwiler«, fragte er, »waren Sie schon mal in Beirut?« Rapp wartete einige Augenblicke auf eine Antwort und fuhr dann fort: »Ich hab’s auch nicht angenommen. Wissen Sie, von dort kommt nämlich Rafik Aziz. Und wie steht’s mit dem Iran? Waren Sie schon mal in diesem Land?« Rapp wartete einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Das habe ich mir gedacht. Ich war zum Beispiel letzte Nacht im Iran. Und nachdem wir dort keine Botschaft haben, können Sie sich vorstellen, dass das kein offizieller Besuch war. Sprechen Sie zufällig Farsi oder irgendeine arabische Sprache?« Rapp schüttelte den Kopf. »Hab ich auch nicht angenommen. Und was wissen Sie über den Islam, und den Djihad? Wissen Sie über die Sitten und Gebräuche von Rafik Aziz und seinen Leuten Bescheid?«

»Worauf wollen Sie hinaus, Mr. Kruse?«, fragte Mrs. Tutwiler gereizt.

»Ich will damit sagen«, antwortete Rapp zornig, »dass Sie nicht die geringste Ahnung haben, mit wem Sie es da zu tun haben! Während Sie in diversen Talkshows aufgetreten sind und das FBI und den Secret Service kritisiert haben, die in einer Woche mehr zur Verbrechensbekämpfung beitragen als Sie in Ihrer ganzen Laufbahn zustande bringen werden, habe ich mich in irgendwelchen dunklen Gassen im Mittleren Osten herumgetrieben, um Rafik Aziz zu finden.« Rapp sah, wie Margaret Tutwiler die Arme vor der Brust verschränkte und die Augen verdrehte.

Diese kleine Geste war für ihn der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. »Verdammt, Lady, das hier ist kein Spiel!«, rief er erregt. »Hier geht’s nicht darum, wer die meisten Doktortitel hat oder die tollste Karriere macht. Da sind Menschen ums Leben gekommen, und wie es aussieht, werden noch mehr sterben!« Rapp drehte das Gesicht zur Seite und zeigte ihr die Narbe auf seiner Wange. »Sehen Sie diese Narbe? Ich werde Ihnen ein kleines Geheimnis verraten. Ich habe mich nicht beim Rasieren geschnitten. Diese Narbe verdanke ich niemand anderem als Rafik Aziz. Darum sollten Sie vielleicht gut zuhören, wenn ich Ihnen meine Ansichten über einen Mann mitteile, den Sie nie gesehen haben und über den Sie absolut nichts wissen. Der Typ, von dem wir hier reden, ist kein Bankräuber und auch kein irrer Sektenführer wie dieser David Koresh. Er ist ein religiöser Fundamentalist – und außerdem noch ein gefährlicher und intelligenter Killer. Ihr kleiner Plan für morgen würde ja vielleicht funktionieren, wenn wir es mit irgendeinem frustrierten Typen zu tun hätten, den sie in seinem Job gefeuert haben und der eine Bank oder ein Postamt in seiner Gewalt hat – aber hier haben wir es mit einem anderen Kaliber zu tun. Aziz ist kein gewöhnlicher Krimineller. Wenn Sie ihm nur einen Teil von dem geben, was er gefordert hat, dann wird er ziemlich wütend werden und Ihnen eine Lektion erteilen, die sich gewaschen hat.« Rapp beugte sich über das Rednerpult und suchte nach irgendeinem Anzeichen, dass seine Worte bei den Politikern, die ihm gegenübersaßen, auf fruchtbaren Boden fielen.

Der Ausdruck auf ihren Gesichtern sagte alles. Sie sahen ihn an, als rede er in irgendeiner exotischen Fremdsprache zu ihnen. Rapp konnte es einfach nicht glauben. Rafik Aziz war seine Angelegenheit. Er hatte ein Drittel seines Lebens damit zugebracht, diesen Mann zu jagen. Und es ging jetzt darum, ihn davon abzuhalten, noch mehr Menschen zu töten. Es gab niemanden hier in diesem Raum – und vielleicht auf der ganzen Welt –, der besser als Rapp gewusst hätte, wie Rafik Aziz dachte. Und wie reagierten diese Leute hier in einem Moment, wo sie am allermeisten auf ihn hören sollten? Sie behandelten ihn, als wäre er irgendein Spinner, den man nicht ernst zu nehmen brauchte.

Rapp musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu schreien. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Wenn sich diese Mrs. Tutwiler für so schlau hielt und ihre Theorie unbedingt in die Tat umsetzen wollte, dann sollte sie es nur tun. Rapp war sich absolut sicher, dass sie morgen mit ihrem Plan ein absolutes Desaster erleben würde.

Er schüttelte den Kopf und sagte: »Ich habe Sie jedenfalls gewarnt.« Während er zur Tür ging, rief er noch zurück: »Rufen Sie mich an, wenn Sie mit Ihren Spielchen fertig sind. Ich komme dann und bringe ein wenig Ordnung in das Chaos, das Sie anrichten.« Damit öffnete er die Tür und ging hinaus.

General Flood sah Rapp nach und winkte dann einen seiner Adjutanten zu sich. Als der General Direktor Stansfield gebeten hatte, den jungen Anti-Terror-Spezialisten mitzubringen, war ihm bestimmt nicht eingefallen, dass es zu so einem Auftritt kommen würde; doch er war nicht unglücklich darüber, dass jemand den Mut hatte, einige Dinge offen auszusprechen. Ein Air-Force-Captain beugte sich zu ihm hinunter, und General Flood flüsterte ihm ins Ohr: »Sagen Sie bitte Mr. Kruse, dass er in meinem Büro auf mich warten soll, bis wir hier fertig sind.«

 

 

Mit Ausnahme der Secret-Service-Leute waren alle Geiseln in die Messe des Weißen Hauses gebracht worden. Die Tische und Stühle hatte man auf den Flur hinausgeworfen, wo sie eine Barriere bildeten. Die Geiseln saßen wie zusammengepferchtes Vieh im Kreis auf dem Boden. Es waren stets mehrere Terroristen anwesend, um sie zu bewachen. Sie kamen und gingen ohne erkennbaren Plan, und es kam nicht selten vor, dass sie eine der Geiseln anbrüllten oder mit den Füßen traten.

Anna Rielly setzte sich erleichtert wieder auf den blauen Teppich. Sie hatte es geschafft, auf die Toilette und wieder zurück zu gehen, ohne geschlagen oder getreten zu werden. Die Frau vor ihr hatte eine Ohrfeige bekommen, weil sie es gewagt hatte, zu einem der Terroristen aufzublicken. Anna Rielly hielt den Blick stets gesenkt. Nur einmal hatte sie aufgeblickt, als einer der Terroristen ihr auf die Toilette gefolgt war. Sein Gesichtsausdruck machte ihr Angst. Er hatte sie auch auf der Toilette die ganze Zeit über eindringlich angestarrt. Die Erinnerung daran jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.

Anna Rielly hatte vor Jahren einmal für NBC-Chicago eine Reportage über islamischen Terrorismus gemacht. Das zweiwöchige Projekt hatte ihr einen gewissen Einblick in das Denken von islamischen Fundamentalisten gegeben – und seither wusste sie, dass die Verhaltensweisen dieser Leute selbst für die Tochter eines Chicagoer Polizisten nur schwer zu verstehen waren. In den Augen dieser Geiselnehmer war eine Frau nicht mehr als ein Stück Vieh, also etwas, das man als persönlichen Besitz betrachtete. Frauen, die noch dazu »ungläubig« waren, galten als unrein und böse und wurden dementsprechend als Freiwild betrachtet.

Was für ein erster Tag im neuen Job, dachte sie sich. Sie hatte sich so darauf gefreut, dort sein zu können, wo die wichtigen Dinge passierten – und jetzt war sie tatsächlich mitten drin in einem Ereignis, wie es in der ganzen amerikanischen Geschichte noch nie vorgekommen war. Sie strich sich eine Strähne ihres brünetten Haars hinters Ohr und blickte zu einem der Wächter auf. Der Mann drehte sich in ihre Richtung, und sie senkte rasch den Blick. Nur keinen Augenkontakt, sagte sie sich. Nur ja keinen aufmüpfigen Eindruck machen. Schön unauffällig bleiben.

Anna Rielly hatte in den Straßen von Chicago so manche wertvolle Lektion gelernt. Nachdem sie mitten im Herzen der Stadt aufgewachsen war, hatte sie von klein auf auch die Schattenseiten der Gesellschaft kennen gelernt. Ihre Mutter, die als Sozialarbeiterin tätig war, und ihr Vater, ein Cop in Chicago, hatten sehr darauf geachtet, dass ihre fünf Söhne und ihre Tochter mitbekamen, dass das wirkliche Leben ganz anders war als man es im Fernsehen sah. Auf diese Weise hatte die junge Frau einen starken Überlebensinstinkt entwickelt. Vor einigen Jahren in Chicago hatte ihr das wahrscheinlich das Leben gerettet, und nun in Washington hoffte sie, dass sie wieder davonkommen würde.

Anna Rielly hatte bereits ihren gesamten Schmuck und so viel wie möglich von ihrem Make-up entfernt. Sie wusste, dass sie möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen durfte. Zwei Männern hatte man bereits die Nase aufgeschlitzt, und eine Frau war mit solcher Wucht ins Gesicht geschlagen worden, dass sie aus dem Ohr blutete. »Schön unauffällig bleiben«, sagte sich Anna Rielly immer wieder, »dann kommst du vielleicht lebend hier raus.«

Ihr neuer Kollege Stone Alexander, der neben ihr saß, schlug sich hingegen nicht ganz so tapfer. Seit der Anschlag begonnen hatte, war er nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Nicht dass er sie hätte beschützen wollen – eher war es umgekehrt. Alexander beugte sich näher zu ihr und fragte: »Wie lange werden sie uns denn hier festhalten?«

Ohne die Lippen zu bewegen, flüsterte Anna: »Ich weiß nur eins: Wenn Sie nicht aufhören zu reden, dann kommt gleich einer der Kerle herüber und gibt Ihnen mit dem Gewehrkolben eins auf Ihre hübsche Nase … Also, zum letzten Mal – halten Sie den Mund.«

Alexander zuckte zusammen und ließ den Kopf in seine gefalteten Hände sinken. Zweimal hatte er schon geweint. Wie erbärmlich, dachte Anna bei sich. Ihr Vater hatte oft gesagt, dass sich das wahre Gesicht eines Menschen in einer Krise zeige. Alexanders wahres Gesicht war jedenfalls nicht gerade das eines Helden.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass ein Mann den Raum betrat, den sie vorher noch nicht gesehen hatte. Er sah anders aus als die anderen. Zwar trug er den gleichen grünen Kampfanzug, aber sein Haar war sorgfältig gestylt, und er hatte auch keinen Bart. Eigentlich sah er ziemlich gut aus.

Plötzlich fiel ihr ein, wer er war. Das war der Mann, den Russ Piper ihr vorgestellt hatte. Irgendein Prinz Soundso. Oh, mein Gott, dachte Anna. Wo ist Russ? Mit gesenktem Kopf blickte Anna in die Runde, um zu sehen, ob der Freund ihrer Eltern auch hier war. Doch sie konnte Piper nirgends entdecken.

Anna blickte erneut zu dem Fremden hinüber. Dieser Mann musste der Anführer sein. Man erkannte es daran, wie die anderen mit ihm sprachen. Als er den Raum betreten hatte, schienen die anderen Terroristen noch aufmerksamer zu werden. Der kahlköpfige Typ, den Anna ursprünglich für den Anführer gehalten hatte, trat zu dem Prinzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf sich dessen Gesichtsausdruck deutlich veränderte.

 

 

Rafik Aziz’ Stimmung schwankte irgendwo zwischen Zuversicht und Wut. Als Muammar Bengazi ihm etwas ins Ohr flüsterte, begann sich die Wut durchzusetzen. »Wo ist er?«, rief er zornig.

Bengazi zeigte auf eine der Geiseln – einen Mann, der am Rand der Gruppe hockte – und folgte Aziz, der wütend zu dem Betreffenden hinüberging. Aziz blieb vor dem Mann stehen, der mit weißem Hemd und gelockerter Krawatte dasaß, und fragte Bengazi: »Der hier?« Bengazi nickte.

Aziz wandte sich dem Mann zu. »Aufstehen!«, befahl er ihm. Der Mann kam der Aufforderung nach; es zeigte sich, dass er einige Zentimeter größer war als Aziz. Er schien Anfang fünfzig zu sein und hatte kurz geschnittenes braunes Haar, das teilweise ergraut war. Mit einer Stimme, die laut genug war, damit alle ihn hören konnten, fragte Aziz: »Sie haben etwas verlangt?«

»Äh«, begann der Mann nervös, »wir haben eine schwangere Frau in der Gruppe, und ein paar ältere Personen. Ich habe … einen Ihrer Männer … gefragt« – der Mann zeigte auf Bengazi – »ob wir vielleicht ein paar Decken und etwas zu essen … «

»Nein!«, fiel ihm Aziz ins Wort.

Der Mann wich einen halben Schritt zurück. »Aber … «, er zeigte auf eine der Frauen am Boden. »Die Frau hier ist schwanger.«

Aziz blickte auf den gewölbten Bauch der Frau hinunter. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf in den Schoß einer älteren Frau gelegt. Ohne den Blick von der schwangeren Frau zu wenden, griff er nach seiner Pistole, zog die Waffe aus dem Holster und wandte sich wieder dem Mann zu. Ohne ein Wort zu sagen oder seinen Gesichtsausdruck auch nur eine Spur zu verändern, hob Aziz die Pistole an die Stirn des Mannes und drückte aus einer Entfernung von kaum dreißig Zentimetern ab.

Der laute Knall ließ jeden im Raum unwillkürlich zusammenzucken. Der Mann wurde zurückgeschleudert und stürzte mitten unter die zusammengekauerten Geiseln. Einige von ihnen wurden mit Blut und Knochensplittern bespritzt.

Schockierte Aufschreie gellten durch den Raum, als Aziz zur Tür ging. Sein kalter Gesichtsausdruck verbarg eine perverse Genugtuung darüber, dass er wieder ein Stück seines Planes verwirklicht hatte. Aziz verließ den Raum, während seine Männer die Geiseln mit lauten Zurufen aufforderten, still zu sein. Während er zum Besprechungszimmer zurückging, kräuselte ein Lächeln seine Lippen. Die Geiseln würden ihm keine Probleme mehr bereiten. Sie würden ab jetzt gefügig wie die Lämmer sein.