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Der kleine Jet ließ die Weiten des Atlantischen Ozeans hinter sich, und die gezackte Küstenlinie der Chesapeake Bay kam in Sicht. Mitch Rapp blickte auf das vertraute Gewässer hinunter und spürte eine Entschlossenheit, die ihm noch wenige Stunden zuvor gefehlt hatte. Als Irene Kennedy angerufen und die bestürzenden Ereignisse im Weißen Haus geschildert hatte, war Rapp zutiefst schockiert gewesen. Seit zehn Jahren war er Rafik Aziz auf den Fersen und beobachtete genau das Treiben dieses Mannes; da waren die Entführungen in Beirut, Istanbul und Paris, die Bombenanschläge in Spanien, Italien, Frankreich, im Libanon und in Israel, und schließlich das Ereignis, das Rapp dazu gebracht hatte, seiner ungewöhnlichen Arbeit nachzugehen: der Anschlag auf jene PanAm-Maschine, die über Lockerbie abgestürzt war.

Obwohl Irene Kennedy ihm ganz klar gesagt hatte, dass Aziz das Weiße Haus praktisch in seiner Hand hatte, brauchte Rapp einige Minuten, um die Situation in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Als er weitere Einzelheiten erfuhr, begannen sich seine Gedanken, die an diesem Morgen wie im Nebel versunken waren, wieder zu klären. Rapp sah in diesem furchtbaren Ereignis plötzlich eine Chance – eine Chance, endlich ans Ziel seiner langen Jagd zu gelangen. Er war es längst leid, immer wieder zu spät zu kommen und nur noch das Bild der Zerstörung mit ansehen zu können, die Aziz verursacht hatte.

Als sich das Flugzeug dem Air-Force-Stützpunkt Andrews näherte, wusste Rapp bereits ganz genau, was er zu tun hatte. In Paris hatte er gezögert, weil er eventuell einen unschuldigen Menschen gefährdet hätte. All die Menschen, die heute Vormittag bei dem Anschlag ums Leben gekommen waren, könnten noch leben, wenn er damals gehandelt hätte – auch auf die Gefahr hin, die eine Frau, die ihm im Weg stand, zu verletzen. Nie wieder, sagte er sich. Diesmal würde die Jagd ein Ende finden – entweder für Aziz oder für ihn selbst.

Der Learjet setzte sanft auf und rollte in einen Bereich des Stützpunktes, den die CIA von der Air Force geleast hatte. Dort fuhr die Maschine in einen braunen Hangar, wo etwa ein halbes Dutzend Personen in einem verglasten Büro warteten. Rapp erkannte Irene Kennedy und Direktor Stansfield sofort. Er nahm seinen Rucksack und ging zur Tür, als Jane Hornig aus der hinteren Kabine herauskam. Sie stiegen aus, gingen zusammen zu dem beleuchteten Büro hinüber und traten ein.

Direktor Stansfield stand in dem sparsam möblierten Büro und telefonierte. Als er Rapp hereinkommen sah, sagte er: »Ja, er steht direkt vor mir.« Der Blick des CIA-Direktors senkte sich, und er nickte mehrmals. »Das hatte ich sowieso vor. Wir sollten in ungefähr zwanzig Minuten da sein.«

Stansfield wandte sich den vier Personen zu, die sich außer ihm und Irene Kennedy im Zimmer befanden, und sagte: »Würden Sie uns bitte einen Moment entschuldigen?« Die Angesprochenen gingen hinaus, damit Stansfield und Dr. Kennedy allein mit Dr. Hornig und Rapp sprechen konnten.

Irene Kennedy nahm einen Sack mit Kleidern von einem der Stühle und reichte ihn Rapp. »Du musst dich umziehen. Wir haben in zwanzig Minuten eine Krisensitzung im Pentagon.«

Rapp nahm die Kleider und wandte sich Stansfield zu. Die Vorstellung, einer solchen Versammlung von Politikern und Bürokraten beiwohnen zu müssen, gefiel ihm nicht besonders. »Wer war das am Telefon?«, fragte er.

»General Flood. Er möchte, dass Sie bei der Sitzung dabei sind.«

»Warum?«, fragte Rapp, während er sein Holster abnahm.

»Hat er nicht gesagt.«

Rapp blickte Stansfield besorgt an. »Soll ich vielleicht einen Bericht abliefern?«

Es war Irene Kennedy, die auf seine Frage antwortete. »Kein Problem. Wenn man dich irgendetwas fragt, dann verwendest du denselben Decknamen wie immer. Du bist Mitch Kruse, einer der Mitarbeiter meines Teams für Terrorbekämpfung, zuständig für den Nahen und Mittleren Osten. Du arbeitest seit fünf Jahren für die CIA und so weiter und so fort. Du weißt ja Bescheid. Wir wollen, dass du dabei bist, falls wir dich brauchen. Aber im Allgemeinen wäre es uns lieber, wenn du dich unauffällig verhältst.«

Rapp zog sich rasch bis auf seine Boxershorts aus, während Stansfield und Dr. Kennedy sich mit Jane Hornig unterhielten.

»Haben Sie eine genaue Zahl aus ihm herausbekommen?«, fragte Irene Kennedy.

»Ja«, antwortete Dr. Hornig achselzuckend, »zumindest glauben wir, dass wir uns darauf verlassen können. Vorausgesetzt natürlich, Harut weiß selbst über alles genau Bescheid. Er geht jedenfalls davon aus, dass sie zu zwölft sind, Aziz eingeschlossen.«

»Was für Waffen haben sie?«

»Neben den üblichen Schusswaffen haben sie noch jede Menge Plastiksprengstoff dabei. Mitch?«, fügte sie, zu Rapp gewandt, hinzu.

Rapp nahm sich ein weißes T-Shirt und sagte: »Mehr als genug, um das ganze Weiße Haus in die Luft zu jagen.«

Stansfield schüttelte den Kopf. »Was für Forderungen werden sie stellen?«, fragte er.

»So weit bin ich noch nicht, aber ich werde gleich mit der Arbeit weitermachen.«

Stansfield nickte. »Wir möchten, dass Sie mit niemandem außer Irene, Mitch und mir darüber sprechen. Es wissen nur einige wenige Leute, dass wir Harut haben, und wir möchten, dass das so bleibt. Konzentrieren Sie sich ab jetzt auf die Forderungen der Terroristen. Wir müssen wissen, was Aziz verlangt, bevor er es verlangt.«

Dr. Hornig nahm die Anweisung mit einem Kopfnicken entgegen. »Wenn er weiß, welche Forderungen sie stellen werden, dann bekomme ich es heraus«, versicherte sie.

»Es würde uns außerdem helfen«, warf Dr. Kennedy ein, »wenn wir eine möglichst vollständige Liste der beteiligten Terroristen hätten.« Sie wandte sich Mitch zu und fragte: »Fällt dir sonst noch etwas ein?«

Rapp steckte das weiße Hemd in die Hose und knöpfte sie zu. »Ja. Ich wüsste gern, wie lange er vorhat, da drin zu bleiben, und vor allem, wie er wieder rauskommen will. Wie ich Aziz kenne, hat er die Sache bis ins kleinste Detail geplant.«

Stansfield nickte zustimmend und sagte, zu Dr. Hornig gewandt: »Sie wissen ja, wie Sie uns erreichen können. Wir lassen Ihnen freie Hand, aber wir möchten es erfahren, wenn Sie irgendetwas Nennenswertes herausbekommen.«

»Ich mache mich gleich an die Arbeit«, antwortete Dr. Hornig.

»Gut«, sagte Stansfield. »Mitch, wir müssen los. Sie können sich im Helikopter fertig anziehen.«

Rapp nahm den Kleidersack und seine Sachen und ging mit gemischten Gefühlen hinaus, um Stansfield zur Krisensitzung im Pentagon zu begleiten.

 

 

Vizepräsident Sherman Baxter war so schnell wie möglich von einer Reise nach New York zurückgekehrt. Zusammen mit seinem Stabschef Dallas King und Justizministerin Margaret Tutwiler saß er in seiner gepanzerten Limousine, die in einer Kolonne von Secret-Service-Fahrzeugen durch Washington D.C. brauste. Dallas King, ein zweiunddreißigjähriger Jura-Absolvent von Stanford, der in Washington geradezu kometenhaft aufgestiegen war, fuhr sich mit der Hand durch das gebleichte Haar, während er seine Strategie darlegte.

»Diese Krise verschafft uns eine einzigartige Gelegenheit.« King hielt kurz inne, um die Wirkung seiner Worte zu verstärken, und blickte dann zu Justizministerin Tutwiler hinüber. »Sie werden dabei eine besonders wichtige Rolle spielen, Marge. Wir müssen dem FBI klarmachen, dass Sherman ab jetzt die Zügel in der Hand hat. Es kann nicht sein, dass sie irgendwelche Informationen zurückhalten oder dass sie ohne unsere Zustimmung das Weiße Haus stürmen. Nichts geht mehr ohne unsere Zustimmung – ist das klar?«

Margaret Tutwiler musste sich erst an Dallas Kings ehrgeizige Art gewöhnen. Vizepräsident Baxters Lieblingsschüler sah blendend aus, hatte einen scharfen Verstand und Sinn für Humor. Das Einzige, was ihm fehlte, war das Gespür für seinen Platz in der Rangordnung. Marge Tutwiler, eine Universitätsprofessorin aus Kalifornien, die sich auch als Kritikerin des FBI hervorgetan hatte, war es nicht gewohnt, dass jemand in einem solchen Ton mit ihr sprach, vor allem, wenn der Betreffende kaum älter als ihre ehemaligen Studenten war.

Mit einem müden Gesichtsausdruck antwortete Margaret Tutwiler: »Dallas, ich habe schon mit dem FBI zu tun gehabt, da haben Sie noch im Sandkasten gespielt. Keine Angst, mit denen werde ich schon fertig.«

Dallas lächelte, streckte auf dem Rücksitz der Limousine die Hand aus und legte sie sanft auf das Knie der Justizministerin. »Tut mir Leid, Marge. Ich wollte damit nicht sagen, dass Sie nicht mit dem FBI klarkommen. Ich habe nur gemeint, dass wir eine gemeinsame Strategie verfolgen sollten.« Dallas schenkte ihr ein strahlendes Lächeln und dachte sich dabei: Dieses Miststück hat ein Ego, das noch größer ist als ihr Arsch.

Sherman Baxter, ehemaliger Gouverneur von Kalifornien und jetziger Vizepräsident der Vereinigten Staaten, räusperte sich hörbar. »Auch wenn wir noch so hohe Ämter innehaben«, warf er ein, »hier in dieser Stadt sind wir trotzdem Außenseiter. Dallas hat Recht, Marge – es schadet nicht, wenn wir uns immer wieder vor Augen halten, dass wir den FBI an der kurzen Leine halten müssen.« Wie bei den meisten Politikern gab es auch in Sherman Baxter zwei grundverschiedene Persönlichkeiten. Hinter verschlossenen Türen war er anmaßend und jähzornig. Der vierundfünfzigjährige Kalifornier war mittlerweile der festen Ansicht, dass ihm der Platz im Oval Office gebührte. Er fand, dass er das Präsidentenamt viel eher verdiente als der derzeitige Präsident, der es ohne ihn und seine kalifornischen Beziehungen niemals bis ins Weiße Haus geschafft hätte.

In der Öffentlichkeit boten sie ein Bild der perfekten Zusammenarbeit, doch hinter verschlossenen Türen wurde Baxters Verachtung für seinen Boss nur allzu deutlich. In seinen Augen war Hayes ein Einfaltspinsel, der es nur deshalb zum Präsidenten gebracht hatte, weil seine Vergangenheit im Gegensatz zu anderen Bewerbern frei von irgendwelchen Affären war und – nicht zuletzt – weil Sherman Baxter ihm die Unterstützung der Kalifornier verschafft hatte. Als Baxter beschlossen hatte, zusammen mit Hayes zu kandidieren, hatte er das als Sprungbrett zur Präsidentschaft betrachtet.

Nach dem strapaziösen Wahlkampf und nur fünf Monaten im Amt hatte Baxter es schon satt, die zweite Geige zu spielen. Sherman Baxter, stolzer Erbe einer der führenden Weinkellereien Kaliforniens, mochte es gar nicht, Anweisungen von einem Mann entgegennehmen zu müssen, dessen Familie ihr Vermögen damit erworben hatte, Kühlerschläuche herzustellen. Dass er das Ganze drei weitere Jahre ertragen musste, war schon schlimm genug; sieben Jahre würde er es jedenfalls bestimmt nicht aushalten.

Während King und Marge Tutwiler sich unterhielten, sah Baxter aus dem Fenster. Er trug sein etwas schütter werdendes schwarzes Haar glatt zurückgekämmt. Baxter legte den linken Arm auf seinen leicht vorgewölbten Bauch und erinnerte sich an etwas, das King oft sagte, wenn sie über die bevorstehenden drei Jahre unter Hayes, dem Einfaltspinsel, sprachen. »Vergessen Sie nicht, Chef, Sie sind nur einen kleinen Schritt von der Präsidentschaft entfernt. Man kann nie wissen, ob es nicht eines Tages irgendein verrückter Attentäter auf Hayes abgesehen hat.«

Dallas erwies sich manchmal als richtiger Prophet, dachte Baxter bei sich. Während die Wagenkolonne auf die George-Mason-Memorial-Bridge auffuhr, erlaubte sich der innerlich äußerst angespannte Baxter, einen Moment lang die Tatsache zu genießen, dass er nun im Grunde Präsident der Vereinigten Staaten war.

 

 

Special Agent Skip McMahon vom FBI stand im Joint Operations Center des Secret Service, das sich im vierten Stock des Executive Office Building befand, und blickte auf das Weiße Haus hinunter. Von seiner Aussichtswarte aus konnte er neun tote oder schwer verletzte Sicherheitsbeamte erkennen. Er hatte erfahren, dass auf der anderen Seite des Gebäudes noch weitere Opfer zu verzeichnen waren – doch die genaue Zahl kannte man nicht. Auch jetzt, vier Stunden nach dem Anschlag, kamen die Informationen noch recht spärlich. Niemand wusste genau, was im Weißen Haus vor sich ging.

McMahon war seit sechsundzwanzig Jahren beim FBI und hatte in dieser Zeit so ziemlich alles erlebt, was man erleben konnte; zumindest hatte er das bisher gedacht. Er hatte gleich nach dem College beim FBI begonnen und war zunächst in Las Vegas mit der Untersuchung von Banküberfällen beauftragt worden. Danach hatte man ihn nach Washington versetzt, wo er zuerst in der Spionageabwehr tätig war, ehe man ihn mit der Untersuchung von Gewaltverbrechen betraute. Er merkte rasch, dass er ein Talent dafür hatte, sich in die kranken Gehirne der Leute hineinzuversetzen, die er jagte. Doch es hinterließ schließlich Spuren bei ihm, dass er sechs Jahre lang nichts anderes tat als sich vorzustellen, was im Kopf irgendeines Serienkillers oder eines perversen Gewalttäters vorging, der ein unschuldiges kleines Mädchen entführte, vergewaltigte, quälte und schließlich tötete.

Zum Glück für McMahon hatte er rechtzeitig erkannt, dass er den Job aufgeben musste, bevor er daran zugrunde ging. Erst kürzlich hatte man ihm die Leitung der »Critical Incident Response Group«, kurz CIRG, übertragen, die sich vor allem um Fälle mit Geiselnahme kümmerte. Es war jedoch während der vielen Sitzungen zum Thema Terroranschläge in der Stadt kein einziges Mal vorgekommen, dass jemand von einem möglichen Frontalangriff auf das Weiße Haus gesprochen hätte.

McMahon blickte zu den Hausdächern in der Umgebung hinüber, die, wie er wusste, von Scharfschützen des FBI und des Secret Service besetzt waren – eine Situation, über die er überhaupt nicht glücklich war. Dass die einzelnen Teams ihre Anweisungen von unterschiedlichen Stellen bekamen, war in einer solchen Krisensituation bestimmt nicht hilfreich und musste unverzüglich geändert werden.

Eine Agentin, die neben McMahon stand, hielt ihm ihre Uhr vor das Gesicht. »Sie sollten jetzt gehen. Die Sitzung beginnt in zwanzig Minuten.«

McMahon nickte. Mit hängenden Schultern blickte er auf die gefallenen Männer hinunter. »Wie viele Opfer haben wir schon?«, fragte er.

Special Agent Kathy Jennings sah in ihrem kleinen Notizbuch nach. »Wir haben bis jetzt achtzehn gezählt«, antwortete sie, »aber Gott weiß, wie viele es im Haus sind.«

McMahon schüttelte den Kopf über das Blutbad. Er sah müde aus, und die Krise hatte gerade erst begonnen. Schließlich drehte er sich um und ging zur Tür. Er hasste solche Sitzungen, bei denen alle hohen Tiere anwesend waren.

Kathy Jennings ging hinter ihm hinaus. Als sie sicher war, dass niemand mithören konnte, sagte sie: »Ich glaube, die Leute vom Secret Service waren nicht sehr erfreut über unseren Besuch. Meinen Sie, dass sie schon wissen, dass wir die Sache übernehmen?«

»Das weiß ich nicht. Sie haben mindestens achtzehn Leute verloren … wahrscheinlich sogar doppelt so viele, und das Weiße Haus ist schließlich ihr Terrain.«

»Aber sie sind auf so etwas nicht vorbereitet«, erwiderte sie. »Ein Terroranschlag gehört eindeutig zu unseren Aufgabengebieten.«

»Da werden noch eine Menge Leute mitmischen wollen«, prophezeite er.

»Wer zum Beispiel?«

»Die US Army und natürlich der Secret Service.«

»Aber die Army kann doch nicht … «, begann Jennings kopfschüttelnd.

McMahon hob die Hand, um sie zu unterbrechen. »Sparen Sie sich Ihre Lektion für Ihre Freunde von der Uni.« McMahon war stolz darauf, einer der wenigen im FBI zu sein, die kein Studium absolviert hatten. »Die Wirklichkeit sieht nämlich anders aus. Was glauben Sie, warum die Sitzung im Pentagon abgehalten wird?« McMahon gab ihr Zeit, über die Sache nachzudenken, während sie eine Treppe hinabstiegen. »Wenn wir die Sache wirklich ganz allein leiten – warum findet die Sitzung dann nicht im Hoover Building statt?«

Kathy Jennings sah schließlich ein, dass er Recht hatte. Während sie sich dem Ausgang zur Seventeenth Street näherten, fügte McMahon mit grimmiger Miene hinzu: »Ich möchte, dass Sie sich um unseren mobilen Kommandoposten kümmern, während ich im Pentagon bin. Machen Sie unseren Leuten klar, dass ich keine längeren Schichten als acht Stunden dulde. Die ganze Sache könnte sich über Wochen hinziehen. Ich will keine ausgebrannten Leute auf ihren Posten sehen.«

»Sonst noch etwas?«

»Ja. Ich will, dass die Leute vom Hostage Rescue Team jederzeit startklar sind. Das hat oberste Priorität.«

 

 

Der teure Anzug war abgelegt und durch einen grünen Kampfanzug ersetzt worden. Rafik Aziz saß am Ende des langen Tisches und starrte auf die Fernsehschirme, die am anderen Ende des Lagebesprechungszimmers aufgereiht waren. Auf den TV-Geräten liefen die Programme der großen Sendeanstalten, die ausnahmslos über die Ereignisse rund um das Weiße Haus berichteten.

Aziz’ Zorn darüber, dass er den Präsidenten hatte entkommen lassen, war mittlerweile fast verflogen. Mit der ihm eigenen Gründlichkeit hatte er sich auch auf diese Möglichkeit vorbereitet, und wenn ihm nur genügend Zeit blieb, konnte er seine Ziele trotzdem erreichen. Er konnte alles in allem wirklich zufrieden sein. Er hatte das berühmteste Symbol der westlichen Welt in seiner Hand. Es war ihm tatsächlich gelungen, den Djihad, den heiligen Krieg, mitten in das Herz des Feindes zu tragen, und wenn er erst den Präsidenten aus seinem Bunker herausgeholt hatte, würde er sein Werk vollenden. Amerika würde sich nicht länger in die Angelegenheiten der arabischen Welt einmischen.

Es klopfte an der Tür. »Herein«, sagte Aziz, ohne sich umzudrehen.

Muammar Bengazi, der für gewöhnlich nie eine Gefühlsregung zeigte, kam mit einem Lächeln auf den Lippen herein, seine AK-74 geschultert und einen Notizblock in der linken Hand. »Wir kontrollieren das gesamte Gebäude«, sagte er. »Wie du befohlen hast, haben wir alle Außenwände und Türen mit Sprengladungen gesichert.« Die Augen des Terroristen funkelten. »Wie geplant machen wir uns auch die Waffen und Sicherheitssysteme des Secret Service zunutze.« Bengazi trat vor und legte beide Hände auf die Lehne eines Stuhls. »Das Außenüberwachungssystem habe ich abgeschaltet, wie du es befohlen hast. Wir verwenden nur die Dachkameras und haben die Computer von ihren Modems getrennt. Ihre Hauptquartiere bekommen keine Bilder mehr geliefert.«

»Gut. Ich traue ihnen nicht. Wer weiß, wie sie mit ihrer Technologie versucht hätten, uns auszutricksen.«

Bengazi nickte zustimmend und reichte Aziz den Notizblock. »Hier ist eine Liste von allen Geiseln mit Namen und Ämtern. Die wichtigsten habe ich unterstrichen.«

Aziz lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blätterte die Seiten durch. »Insgesamt sechsundsiebzig Geiseln.«

»Das ist richtig.«

Aziz fand schließlich auf der dritten Seite, wonach er suchte: den Namen der ersten Geisel, die er töten würde. Er tippte mit dem Finger auf den Namen und fragte: »Wie viele Secret-Service-Leute?«

»Die sind bei den sechsundsiebzig nicht dabei. Sie stehen auf der nächsten Seite. Wir haben neun von ihnen lebend erwischt; vier davon brauchten medizinische Versorgung. Wir haben auch ein paar Marines und verschiedene Armeeangehörige.«

»Hast du sie von den anderen getrennt?«

»Ja. Sie sind oben, so wie du es vorgesehen hast.«

»Gefesselt und mit verbundenen Augen?«, fragte Aziz.

»Natürlich.«

»Haben sich unter den Zivilisten schon welche als Anführer hervorgetan?«

»Bis jetzt noch nicht.«

»Sobald einer irgendwie auffällt und den Helden spielt«, sagte Aziz, »kommst du sofort und sagst es mir. Ich werde mich persönlich um ihn kümmern. So wenige, wie wir sind, können wir es uns nicht leisten, dass irgendein Cowboy hier drin Ärger macht.«

Bengazi nickte. »Ich würde vorschlagen, dass wir die Zivilisten auf die Toilette gehen lassen«, sagte er.

Aziz sah auf die Uhr. Der Vorschlag klang vernünftig; es würde helfen, die Leute ruhig zu halten. »Gut, aber lass die Secret-Service-Leute und die Marines in ihrem eigenen Kot sitzen.«

»Ja, Rafik. Möchtest du die Sprengladungen inspizieren?«

»Nein, ich vertraue dir. Ich muss jetzt telefonieren«, fügte er hinzu und zeigte auf einen der Fernsehschirme. »Sie bereiten sich auf die Sitzung in ihrem Pentagon vor.«

Bengazi nickte. »Wenn du mich nicht mehr brauchst, dann kümmere ich mich jetzt um ein paar Kleinigkeiten.«

»Eine Sache noch«, sagte Aziz. »Wie kommt unser kleiner Dieb voran?«

»Er hat schon mit der Arbeit begonnen«, antwortete Bengazi achselzuckend. »Er hat gesagt, dass alles nach Plan verläuft.«

»Gut. Behalte ihn im Auge. Er ist schließlich nicht einer von uns.«

»Ich habe ihm zu verstehen gegeben, dass er außer aufs Klo nirgendwohin gehen darf, ohne mich vorher zu fragen«, sagte Bengazi lächelnd. »Ich habe ihm gesagt, dass wir überall Sprengfallen angebracht haben und dass ich nicht will, dass er in eine hineintappt.«

Mit einem Lächeln legte Aziz die Hand auf sein Funkgerät. »Wenn ich etwas brauche, melde ich mich.« Er sah Bengazi nach, als dieser zur Tür ging, und sagte: »Muammar, ruh dich ein wenig aus. Sie werden sicher nicht heute Nacht kommen. Die Politiker haben die Sache jetzt in der Hand. Sie werden das FBI so lange hinhalten, bis wir bereit sind.«

Bengazi nickte. »Ich weiß. Du hast mir gesagt, wie die Dinge laufen werden – aber andererseits wäre jetzt der ideale Zeitpunkt für sie, um anzugreifen, solange wir noch nicht vorbereitet sind. Die Geiseln sind noch stark und frisch. Sie könnten uns ebenfalls Ärger machen. In drei Tagen sind sie geschwächt und verwirrt. Ich an ihrer Stelle würde sofort angreifen.«

Aziz lächelte seinem Freund zu. »Du musst verstehen, wie die Dinge in Washington funktionieren. Die Militärs werden sagen, dass man sofort zuschlagen muss, aber die Politiker wollen Vorsicht walten lassen.«

»Und das FBI?«

»Die werden tun, was man ihnen befiehlt. Du kannst dich ruhig etwas entspannen, mein Freund. Sie werden so schnell nicht kommen … « Mit einem amüsierten Blick fügte Aziz hinzu: »Ja, ich werde sie sogar ein wenig provozieren müssen, damit sie schließlich angreifen.«

Bengazi hob seine buschigen Augenbrauen. »Zum richtigen Zeitpunkt.«

»Genau. Trägst du die Kleider für den Notfall, die ich dir gegeben habe?«

»Nein«, antwortete Bengazi kopfschüttelnd.

»Warum nicht?«, fragte Aziz ein wenig verärgert.

»Ich finde es nicht richtig, die anderen Männer im Stich zu lassen, wenn es dazu kommt.«

»Der Plan würde nicht funktionieren, wenn alle Bescheid wüssten, Muammar. Ich befehle dir, die Kleider anzuziehen. Wenn die Amerikaner kommen, ist das unsere einzige Chance.«

Bengazi nickte widerwillig. Aziz sah ihm nach und überdachte seinen Fluchtplan. Er konnte tatsächlich funktionieren. Es musste zwar einiges günstig verlaufen, aber sie hatten immerhin eine gewisse Chance. Wenn er nur den Präsidenten in die Hände bekam, dann war alles andere zweitrangig.

Aziz wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Fernsehgeräten zu, wo bereits die jeweiligen Reporter aus dem Pentagon berichteten. Er nahm die Fernbedienung und stellte das Gerät, auf dem CNN lief, etwas lauter. Aziz lauschte dem Korrespondenten, der soeben verkündete, dass der Vizepräsident und andere hohe Repräsentanten des Staates eine Krisensitzung im Pentagon abhielten. Der Terrorist blickte sich lächelnd in dem luxuriösen Besprechungszimmer um, in dem er sich befand. Solche Sitzungen wurden normalerweise hier in diesem Raum abgehalten.