PERSISCHER GOLF

 

Der Flugzeugträger USS Independence bahnte sich seinen Weg durch die raue See. Zusammen mit seinem aus zwölf Schiffen und zwei Unterseebooten bestehenden Kampfverband war der Träger die vergangenen dreiundzwanzig Tage im nördlichen Teil des Golfs auf Patrouille gewesen. Am Abend zuvor hatte der Verband schließlich die Anweisung erhalten, auch den Süden und Osten zu durchstreifen und zur Straße von Hormus zurückzukehren.

Vor drei Stunden hatte der große graue Träger im Schutze der Dunkelheit zwei Helikopter der US Air Force aufgenommen. Der Anstrich beider Helikopter war hellbraun mit etwas dunkleren Streifen. Sie gehörten zum 1st Special Operations Wing – also zu jener Einheit, deren Aufgabe es war, amerikanische Kommandos in die brisantesten Krisengebiete der Erde zu bringen und sie dort auch wieder herauszuholen. Der erste und größere der beiden Hubschrauber war ein MH-53J Pave Low. Dieses fast vierzig Millionen Dollar teure Fluggerät galt als der modernste Militärhubschrauber der Welt. Es brauchte eine Crew von sechs Mann, um ihn zu fliegen, und sein Navigationssystem war mit dem der modernsten amerikanischen Jagdbomber zu vergleichen. Der Pave Low war mit dem Enhanced Navigation System (ENS) der Air Force ausgerüstet. Das ENS beruhte auf zwanzig verschiedenen Systemen, wie z. B. Doppler-Navigation, automatische Funkpeilung, Global Positioning System sowie einer Reihe von Kompassen und Gyroskopen. Dank dieses umfassenden Systems wusste der Pilot zu jeder Zeit genau, wo er sich befand.

Mit Hilfe des ENS vermochten die bestens ausgebildeten Piloten des 1st Special Operations Wing selbst bei widrigsten Wetterbedingungen hunderte von Meilen knapp über den Baumwipfeln dahinzufliegen und mit höchstens einigen Sekunden Zeitabweichung pünktlich am Zielort zu landen, um einen Kommandotrupp in ein Krisengebiet einzusetzen bzw. dort wieder aufzunehmen. Wenn es um heikle Kommandoeinsätze ging, machte diese Präzision oft den Unterschied zwischen Erfolg oder Scheitern, genauer gesagt zwischen Leben und Tod aus. Nur ein wirklich außergewöhnlich guter Pilot konnte diese komplexe Maschine fliegen, und deshalb achtete die Air Force sehr darauf, dass sich tatsächlich nur die Allerbesten ans Steuer eines solchen Helikopters setzten.

Der zweite Helikopter war etwa ein Drittel kleiner und entsprechend wendiger als der riesige Pave Low. Der MD-5300 Pave Hawk war mit einer reduzierten Version des Enhanced Navigation System ausgestattet. Die Piloten und Crews der beiden Maschinen waren im Moment damit beschäftigt, noch einmal den Einsatzplan durchzugehen. Es durften absolut keine Fehler passieren. Das kleinste Missgeschick konnte fatale Folgen haben – und wenn es über Land passierte, konnte dadurch leicht eine weltpolitische Krise ausgelöst werden.

 

 

 

IRANISCHE KÜSTE

 

Lt. Commander Dan Harris hob sein Nachtsichtglas an die Augen und versuchte vergeblich, die Landungszone abzusuchen. Obwohl sie nur wenige hundert Meter von der Küste entfernt waren, konnte er kaum etwas erkennen. Das Boot wurde auf der stürmischen See hin und her gepeitscht, sodass es unmöglich war, das Fernglas ruhig zu halten. Kaum hatte er einen Punkt im Visier, machte das Boot einen heftigen Ruck und er sah nur noch eine hohe Wellenwand vor sich.

Harris steckte das Nachtsichtglas in eine wasserdichte Hülle und griff mit der rechten Hand in den Nacken seines Taucheranzugs. Er zog den Ohrhörer seines abhörsicheren Motorola MX300-Funkgeräts hervor und hielt ihn sich an das linke Ohr. Durch das Dröhnen von Wasser und Wind rief er in sein Kehlkopfmikrofon: »Iron Man, hier Whiskey Five. Kannst du mich hören? Over.«

Augenblicke später kam die Antwort mit einem knackenden Geräusch. »Whiskey Five, hier Iron Man. Ich höre dich laut und deutlich. Over.«

Harris wandte sich vom Wind ab, in der Hoffnung, dann etwas besser hören zu können. »Wir sind soweit, Iron Man. Wie ist der Status unserer Landungszone?«

»Alles klar.«

»Roger. Wir sehen uns in fünf Minuten.« Zu seinen Männern gewandt, fügte er hinzu: »Nehmt eure Sachen – es geht los!«

Die Männer überprüften ihre wasserdichten Rucksäcke und legten Schwimmflossen und Taucherbrillen an. Nachdem jeder von ihnen mit dem Daumen nach oben signalisiert hatte, dass er bereit war, gab Harris den Befehl, über Bord zu gehen. Im Wasser zogen die SEALs ihre Kampfmesser und durchlöcherten das Schlauchboot. Muffig riechende Luft entwich mit einem zischenden Geräusch. Zehn Sekunden später begann das Gewicht des Motors das Boot in die Tiefe zu ziehen.

Es war schon schwer genug gewesen, den Pier vom Boot aus zu erkennen; aus dem Wasser war es ein Ding der Unmöglichkeit. Jeder der Männer warf einen Blick auf seinen Kompass, dann wies Harris seinen besten Schwimmer an, die Führung zu übernehmen. Die fünf Männer schwammen in dichter Formation und vergewisserten sich zwischendurch immer wieder, ob die Richtung noch stimmte. Nachdem sie einige Minuten durch die raue See geschwommen waren, näherten sie sich dem Pier und ließen sich schließlich von einer Welle an Land tragen. Einer nach dem anderen landeten sie am Strand und krochen wie Alligatoren über den feuchten Sand, bis sie im Schutz des Piers angelangt waren.

Ohne auf einen Befehl zu warten, gingen die Männer in Verteidigungsposition, nachdem sie ihre Heckler & Koch-10-mm-MP-10-Maschinenpistolen bereits aus ihren wasserdichten Rucksäcken hervorgeholt hatten, sodass sie jederzeit feuerbereit waren. An den Läufen der Waffen waren große schwarze Schalldämpfer angebracht. Zwei der Männer krochen an die Nordseite des Piers, zwei blieben an der Südseite, während Harris sich in die Mitte begab.

Die Wellen brachen sich mit lautem Getöse am Strand. Immer wieder liefen die Ausläufer der Brandung über Harris hinweg, sodass nur noch sein Kopf und die Waffe übers Wasser ragten. Das schäumende Wasser zog sich wieder zurück, bevor wenige Sekunden später die nächste Welle heranrollte. Harris versuchte in dem Labyrinth der Pierpfeiler irgendetwas zu erkennen. Das Donnern der Brandung und das Heulen des Windes machten es schwer, andere Laute zu vernehmen. Dennoch hörte er nach einigen Augenblicken ein leises Pfeifen, das sich gleich darauf wiederholte. Dann sah er etwa zehn Meter entfernt einen Mann in einem langen weißen Gewand hinter einem der Pfeiler hervortreten und winken. Harris richtete die Mündung des schwarzen Schalldämpfers seiner MP genau auf den Kopf der Gestalt.

Mitch Rapp kam mit ausgestreckten Armen und geöffneten Händen näher. Mit einer Stimme, die gerade laut genug war, damit man sie über dem Tosen der Brandung verstehen konnte, sagte er: »Danny Boy.«

Harris blickte sich noch einmal kurz um, ehe er sich auf ein Knie erhob. »Freut mich, dich zu sehen, Mitch«, erwiderte er.

Rapp war einer der wenigen aus den Geheimdienst-Kreisen, denen Harris vertraute. Dieses Vertrauen gründete sich auf zwei Tatsachen: Erstens kämpfte Rapp, genauso wie Harris und die anderen SEALs, stets an vorderster Front, und zweitens hatte Harris Rapp schon im Einsatz gesehen und wusste deshalb, mit welch tödlicher Präzision der Mann seinen Job erledigte.

»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Rapp. »Zieht euch schnell um, damit wir aufbrechen können.«

Harris stand auf und stieß einen Pfiff aus – das Signal für seine Männer, ihm zu folgen. Rapp führte die fünf SEALs unter dem Pier bis zur Straße. Während sie sich umzogen, hielt Rapp Wache. Die SEALs krempelten ihre Taucheranzüge an den Armen und Beinen ein Stück weit hoch und holten dann aus ihrem Gepäck Djellabas, Sandalen und Turbane hervor. Binnen weniger Minuten waren sie verkleidet und bereit zum Aufbruch.

Rapp hatte bereits bei früheren Einsätzen mit den SEALs gearbeitet und konnte deshalb jeden der Männer persönlich begrüßen. Harris hatte vier seiner besten Leute für diese Mission ausgewählt. Rechts neben Rapp standen Mick Reavers, ein großer, kräftiger Bursche, der gut hundertzwanzig Kilo wog, sowie die beiden Sprengmeister Tony Clark und Jordan Rostein. Der Letzte der Gruppe war Charlie Wicker, den seine Freunde Slick nannten. Er war keine einsfünfundsechzig groß und wog höchstens siebzig Kilo, doch was ihm an Körpergröße fehlen mochte, machte er durch seine Fähigkeiten wett. Wicker konnte besser klettern, robben und schießen als jeder andere vom SEAL Team 6 oder der Delta Force. Er war vielleicht der beste Scharfschütze im ganzen Geschäft, was ihm einigen Respekt eintrug. Andere Soldaten machten für gewöhnlich einen großen Bogen um die Scharfschützen. Ihr Instinkt sagte ihnen, dass es nicht ratsam war, sich mit jemandem anzulegen, der einen problemlos aus tausend Metern Entfernung umlegen konnte.

Harris und seine Männer hatten an Bord der Honolulu regelmäßig das allerneueste Geheimdienst-Material erhalten. Dank der Informationen, die Rapp ihnen übermittelt hatte, und der hoch auflösenden Satellitenbilder von Bandar Abbas waren Harris und seine Männer in der Lage gewesen, ihren Plan mit Rapp zu koordinieren, bevor sie an Land gegangen waren.

»Noch Fragen, bevor wir beginnen?«, fragte Rapp die fünf bärtigen Amerikaner. Sie antworteten mit einem kurzen Kopf schütteln. »Gut. Harry«, sagte Rapp, »packen wir’s an.«

Harris griff nach seinem Kehlkopfmikrofon. »Bravo Six, hier Whiskey Five. Wie ist euer Status? Over.«

Es folgte ein kurzes Rauschen, ehe die Antwort kam. »Whiskey Five, hier Bravo Six. Wir sind startklar. Over.«

»Wie viel Zeit bis zu unserer Wiederaufnahme? Over.«

»Drei-zwo Minuten. Ich wiederhole: drei-zwo Minuten. Over.«

Harris sah seine Männer und Rapp an, die das Gespräch über ihre Kopfhörer mitbekamen. »Startet den Wiederaufnahme-Countdown auf mein Kommando. Over.«

»Roger.«

Die sechs Männer, die unter dem Pier hockten, verglichen die Zeit auf ihren digitalen Armbanduhren. »Drei, zwo, eins, jetzt«, sagte Harris mit deutlicher Stimme. Er drückte den Knopf an seiner Uhr und fügte hinzu: »Los.«

Der drahtige Scharfschütze verließ die Gruppe, ohne ein Wort zu sagen. Zwei Minuten später brachen Tony und Jordan auf, und zuletzt traten auch Rapp, Harris und Reavers aus dem Schutz des Piers ins Freie.