Rafik Aziz blickte auf den Bildschirm des Laptops und lächelte. Sie sind so berechenbar, dachte er, während er die Bewegungen auf dem Schweizer Konto verfolgte, auf dem das Geld zwischengelagert werden sollte, bevor es in den Iran weitergeleitet wurde. Der Kontostand betrug etwas über eine Milliarde Dollar. Nachdem nur noch fünfundvierzig Minuten übrig waren, bezweifelte er, dass sie auch noch das restliche Geld überweisen würden.
Zu seiner Rechten hatte Aziz auch noch einen zweiten Laptop stehen, den er für einen ganz besonderen Zweck brauchte. Jedes Mal, wenn er auf den Bildschirm sah, strahlte er vor Stolz. Es war ein wahrer Geniestreich von ihm gewesen. Aziz zweifelte nicht daran, dass die Amerikaner angreifen würden. Bekäme er den Präsidenten in seine Gewalt, stiegen seine Chancen natürlich – doch bis dahin war dieser Laptop für ihn von größter Bedeutung. Aziz kannte die amerikanischen Strategien zur Terrorbekämpfung gut genug, um zu wissen, dass sie vor allem ihre technologischen Möglichkeiten einsetzen würden. Sie würden ganz bestimmt versuchen, ihn daran zu hindern, dass er seine Bomben per Fernzündung auslöste, und dabei würden sie einen fatalen Countdown auslösen.
Jede der vierundzwanzig Bomben, die er zur Verfügung hatte, enthielt einen digitalen Pager, der sowohl als Empfänger wie auch als Zünder diente. Der Laptop wiederum war mit einem digitalen Telefon verbunden. Alle zwei Minuten schickte der Computer einen fünfstelligen Code an alle vierundzwanzig Bomben. Wenn dieser Code nicht regelmäßig ankam, würden die Pager einen Sechzig-Sekunden-Countdown auslösen. Käme dieser Countdown bei null an, wurden die Bomben gezündet.
Aziz trug ebenfalls einen Pager und ein digitales Telefon bei sich. Wenn der Pager piepte und der Countdown gestartet wurde, hieß das entweder, dass die Amerikaner angriffen, oder dass der Computer nicht richtig funktionierte. War Letzteres der Fall, konnte er den Countdown mit seinem eigenen Telefon stoppen. Wenn das nicht möglich war, bedeutete das, dass die Amerikaner tatsächlich kamen.
Die Critical Incident Response Group des FBI hatte im dritten Stock des Executive Office Building die Kommandozentrale für ihr Krisenmanagement eingerichtet. Von diesem Konferenzzimmer aus konnte man den Westflügel des Weißen Hauses überblicken. An den Computern und Telefonen saßen Frauen und Männer in blauen FBI-Poloshirts und arbeiteten fieberhaft. Sogar zwei Dolmetscher, die fließend arabisch sprachen, waren für alle Fälle vor Ort.
Special Agent Skip McMahon stand am Fenster und verfolgte das Spektakel, das sich unten am Lafayette Square, direkt gegenüber dem Weißen Haus, abspielte. Er kochte vor Wut. Nur wenige Stunden nach dem Anschlag waren die Medien aufgekreuzt und hatten sich mitten auf der Pennsylvania Avenue breit gemacht, um von hier aus ihre Live-Berichte aus der Umgebung des Weißen Hauses zu senden. Als McMahon am Ort des Geschehens eingetroffen war, hatte er als Erstes die Anweisung gegeben, dafür zu sorgen, dass die Kameras von hier verschwanden.
Einige Stunden zuvor, als McMahon gerade versuchte, auf der Couch in seinem Büro im Hoover Building ein wenig zu schlafen, war einer seiner Agenten hereingekommen, um ihm mitzuteilen, dass ein Bundesrichter zugunsten der Fernsehsender entschieden hatte. Und deswegen war der Medienzirkus allgegenwärtig, als McMahon nun auf die Straße hinunterblickte. Alle waren sie da, um ihre Berichte zu senden, als wäre das Ganze ein großes Sportereignis.
McMahon wartete ungeduldig darauf, dass die hohen Tiere ankamen, damit er seinem Ärger Luft machen konnte. Er blickte auf seine Uhr. Es war 8 Uhr 34, und sie sollten jeden Moment eintreffen.
Sie hatte die ersten vierundzwanzig Stunden überstanden, ohne geschlagen zu werden. Anna Rielly fühlte sich in Anbetracht der Umstände nicht so schlecht. Ihr Rücken war steif, nachdem sie auf dem Fußboden geschlafen – oder es zumindest versucht hatte. Die Terroristen hatten es ihnen fast unmöglich gemacht zu schlafen, indem sie die Geiseln zumindest einmal pro Stunde weckten. Und was noch schlimmer war, sie holten immer wieder einmal jemanden aus der Gruppe heraus, um ihn vor den Augen der anderen zu schlagen.
Die Frauen hatten noch etwas anderes zu befürchten. Irgendwann nach Mitternacht hatte der junge Terrorist, der Anna auf die Toilette begleitet hatte, eine blonde junge, Frau aus der Gruppe geholt und mitgenommen. Anna hätte nicht genau sagen können, wie lange die junge Frau weg war – die Terroristen hatten ihnen die Armbanduhren abgenommen, um ihnen die zeitliche Orientierung zu rauben –, aber es schienen ihr zumindest ein paar Stunden zu sein. Als die Frau schließlich zurückkam, waren ihre Kleider zerrissen und sie hatte einen Blick in ihren Augen … einen Blick, den Anna Rielly einmal in ihren eigenen Augen gesehen hatte.
Anna blickte auf Stone Alexander hinunter, der zusammengekauert wie ein Fötus am Boden lag, den Kopf auf sein fein säuberlich zusammengefaltetes Jackett gebettet. Sie war froh, dass er aufgehört hatte zu weinen. Je weniger Aufmerksamkeit sie erregten, umso besser. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und blickte sich vorsichtig im Raum um. Zwei der Wächter standen bei der Tür und unterhielten sich. Sie wusste, dass sie nicht die Einzige war, die auf die Toilette musste, doch nach dem, was vergangene Nacht passiert war, wagte es keiner, zu fragen. Anna überkreuzte die Beine und warf einen kurzen Blick über die Schulter zurück. Der Terrorist, der die junge blonde Frau mitgenommen hatte, starrte sie mit einer Zigarette im Mundwinkel an.
Anna Rielly hatte diesen Albtraum selbst durchgemacht und sie hatte sich geschworen, dass sie eher sterben würde als so etwas noch einmal zuzulassen. Vor vier Jahren hatte sie einmal bis in die Nacht hinein gearbeitet, und auf dem Nachhauseweg stürzten plötzlich zwei Männer aus dem Dunkeln auf sie zu, zerrten sie in eine dunkle Gasse und vergewaltigten sie.
Dieses albtraumhafte Ereignis hatte ihr einige blaue Flecken, vor allem aber tiefe seelische Wunden eingetragen. Nicht zuletzt dank Annas Therapeutin begannen auch diese Wunden zu heilen. Vor der Vergewaltigung war Anna eine fröhliche junge Frau gewesen, die durchaus nichts gegen einen gelegentlichen Flirt gehabt hatte. Der traumatische Vorfall hatte ihr verständlicherweise ein tiefes Misstrauen gegenüber dem anderen Geschlecht eingeflößt. Nach und nach hatte sie wieder begonnen, die Gesellschaft von Männern, die an ihr interessiert waren, zu genießen – doch Sex war dabei noch kein Thema gewesen. Als sie ihren neuen Job in Washington angenommen hatte, betrachtete sie es als eine große Chance, dort ganz neu anfangen zu können.
Die persönliche Katastrophe, die Anna widerfahren war, hatte vielleicht einen Vorteil: Sie konnte Dinge spüren, die anderen verborgen blieben. Und so ahnte Anna, dass ihr in der kommenden Nacht Unheil drohte.
Als Irene Kennedy die FBI-Kommandozentrale betrat, liefen die Telefone und Funkgeräte heiß. Sie kam gerade aus dem Konferenzzimmer auf der anderen Seite des Gebäudes, in dem sich Vizepräsident Baxter mit einigen Vertretern seines Kabinetts sowie Mitarbeitern von Geheimdienst und Bundeskriminalpolizei getroffen hatte. Von dort aus würde man das Gespräch zwischen Aziz und dem FBI-Unterhändler verfolgen und notwendige Entscheidungen treffen. Auf McMahons Wunsch sollte Irene Kennedy bei ihm in der Kommandozentrale des FBI bleiben, um ihm für eventuell auftretende Fragen zur Verfügung zu stehen.
An einem der Fenster, von denen aus man den Westflügel überblickte, stand Skip McMahon und unterhielt sich mit Justizministerin Tutwiler. Irene Kennedy ging auf die beiden zu, blieb jedoch in einiger Entfernung stehen, um nicht zu stören. Sie hörte mit einiger Besorgnis, was Skip sagte. Als sie sich umblickte, wuchsen ihre Befürchtungen noch mehr; es war schon fast neun Uhr, und der FBI-Unterhändler war nirgends zu sehen.
Nachdem McMahon der Justizministerin erklärt hatte, wie die verschiedenen Telefone funktionierten, wandte er sich Irene Kennedy zu. »Hallo, Irene«, sagte er, der Justizministerin den Rücken zukehrend, und verdrehte frustriert die Augen.
»Guten Morgen«, sagte Irene, nickte Margaret Tutwiler kurz zu und wandte sich gleich wieder McMahon zu. »Wo ist euer Unterhändler?«
Bevor McMahon antworten konnte, erwiderte Margaret Tutwiler: »Ich leite die Verhandlungen.«
»Also, nichts für ungut, Frau Justizminister«, erwiderte Irene Kennedy in möglichst neutralem Ton, »aber ich halte das nicht für die allerklügste Vorgangsweise.«
»Und warum, wenn man fragen darf?«, entgegnete Margaret Tutwiler aggressiv.
»Weil Rafik Aziz es als Beleidigung auffassen wird, dass wir eine Frau damit beauftragen, mit ihm zu verhandeln.«
»Als Justizministerin sehe ich es als meine Aufgabe an, die Verhandlungen zu leiten.«
Irene Kennedy dachte an das, was Mitch Rapp tags zuvor im Pentagon gesagt hatte, und fand, dass auch sie ihren Standpunkt klarmachen sollte. »Und ich sehe es als Leiterin der Abteilung für Terrorbekämpfung als meine Aufgabe an, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie einen schweren Fehler begehen. Ich respektiere Ihre Leistungen, Frau Justizminister, aber Rafik Aziz wird das nicht tun. Er wird es als eine eklatante Beleidigung seiner Männlichkeit ansehen und Sie dafür büßen lassen.«
Margaret Tutwiler verschränkte trotzig die Arme. »Ich habe es in meinem Leben schon mit genug Machos zu tun gehabt, und ich habe gelernt, dass man ihnen die Stirn bieten muss.«
»Noch einmal, ich respektiere Ihre beruflichen Leistungen, aber in diesem Punkt haben Sie ganz einfach Unrecht. Sie haben überhaupt keine Ahnung, mit wem Sie es da zu tun haben.« Irene Kennedy erkannte, dass die Justizministerin nicht nachgeben würde, und ging hinaus, um Stansfield von dieser neuen Entwicklung zu informieren. Als sie bereits draußen auf dem Gang war, hörte sie, wie McMahon ihr nachrief.
Wenige Augenblicke später war McMahon bei ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Irene, da ist nichts zu machen. Ich habe auch schon interveniert – vergeblich. Diesmal wird sie ihren Willen bekommen.«
Irene Kennedy blieb mit leicht geröteten Wangen stehen. Mehr zu sich selbst als zu McMahon murmelte sie: »Jetzt weiß ich, warum Mitch gestern so wütend wurde.«
McMahon verstand Irenes Bemerkung nicht ganz und ging deshalb nicht darauf ein. »Eines ist sicher, Irene: Wenn Margaret Tutwiler die Sache heute vermasselt, dann wird sie uns nicht länger behindern.« McMahon war es gar nicht gewohnt, dass Irene Kennedy sich dermaßen ereiferte. »Jetzt atme doch erst mal tief durch, Irene. Es hilft uns nicht weiter, wenn wir uns jetzt auch noch aufregen.«
Sie sah McMahon an und biss sich auf die Unterlippe. »Normalerweise bin ich es, die dir solche Ratschläge gibt.«
»Was soll ich sagen – ich lerne eben schnell.« McMahon lächelte ein wenig säuerlich. »Ich brauche dich hier bei mir, wenn der Anruf kommt, verstehst du?«
Irene Kennedy nickte und ging widerwillig mit ihm zur Kommandozentrale zurück.
Aziz trommelte mit den Fingern auf die glänzende Oberfläche des Konferenztisches im White House Situation Room, während er den Blick nicht vom Computerbildschirm wandte. Der Kontostand auf dem Schweizer Bankkonto hatte sich seit fast einer halben Stunde nicht mehr verändert. Noch zwei Minuten, dann würde das Spektakel beginnen. Aziz blickte zu den Fernsehschirmen hinüber, die an der gegenüberliegenden Wand angeordnet waren.
Die größten Fernsehanstalten des Landes berichteten live von der anderen Seite des Lafayette Park. NBC und CBS interviewten Verwandte von Geiseln, während ABC mit einem Psychologen sprach, der ein Buch über das so genannte Stockholm-Syndrom geschrieben hatte, demzufolge Geiseln oft Verständnis oder gar Sympathie für die Kidnapper entwickelten.
Ein schmales Lächeln erschien auf Aziz’ Lippen, als ihm wieder einmal klar wurde, wie berechenbar diese Amerikaner doch waren. Sein Lächeln wurde noch breiter. Aziz legte die Hände in den Nacken und schaukelte in seinem Stuhl vor und zurück. Auf dem zweiten Laptop erschien ein Signal, das ihm sagte, dass eine E-Mail gekommen war. Aziz holte die Nachricht auf den Bildschirm und las die erste Zeile immer wieder und wieder – so schockierend war ihr Inhalt. Das konnte einfach nicht wahr sein. Wie hatten sie es nur geschafft, ihn in ihre Gewalt zu bekommen? Und warum musste das ausgerechnet jetzt passieren?
Die Nachricht lautete: »Fara Harut wurde heute früh bei einem Überfall gefasst, wahrscheinlich lebend. Schwere Verluste. Keine Ahnung, wer die Operation durchgeführt hat, wahrscheinlich Amerika, England oder Israel.«
Direkt gegenüber, im Executive Office Building, saß Vizepräsident Baxter in einem Konferenzzimmer, das sich im selben Stockwerk befand wie die FBI-Kommandozentrale. Wie immer saß Dallas King neben Baxter, General Flood saß links neben dem Vizepräsidenten, während FBI-Direktor Roach, CIA-Direktor Stansfield und Secret-Service-Direktor Tracy entlang des Tisches Platz genommen hatten. Der Außen- und der Verteidigungsminister waren ebenso anwesend wie ein Dutzend Berater und einige Secret-Service-Leute. Die Tür war geschlossen, und jeder der Anwesenden blickte erwartungsvoll auf den schwarzen Lautsprecher, der mitten auf dem Tisch stand. Es war völlig still im Raum, als das Klingeln eines Telefons aus dem Lautsprecher tönte.
Aziz starrte immer noch auf die Nachricht, als das Telefon klingelte. Er war außer sich vor Wut, dass so etwas passiert war, und überlegte fieberhaft, welche negativen Folgen diese Katastrophe für seine Mission haben könnte. Trotz allem bemühte er sich, sachlich zu bleiben. Fara Harut war sein Mentor, der Mann, der ihn von der Schule direkt auf das Schlachtfeld geholt und der ihm beigebracht hatte, dass die Zionisten nur Böses im Schilde führten. Harut war dafür verantwortlich, dass er heute hier stand, und jetzt hatten sie ihn erwischt.
Das Telefon klingelte weiter, und Aziz zwang sich, nicht abzuheben – nicht jetzt, nicht, bevor er sich beruhigt hatte. Er hatte einen Plan, und an den musste er sich halten. Wenn er mehr Zeit zum Nachdenken hatte, konnte er sich mit diesem schlimmen Vorfall beschäftigen. Er legte die Hände auf den Tisch und zwang sich, seine Konzentration wiederzufinden. Nachdem das Telefon ungefähr ein Dutzend Mal geklingelt hatte, hob er schließlich ab.
»Ja.«
»Mr. Aziz«, sagte eine ruhige, gefasst klingende Frauenstimme, »hier spricht Justizministerin Margaret Tutwiler. Wir haben einige Probleme, das Geld zusammenzubekommen.« Es folgte eine kurze Pause, ehe sie hinzufügte: »Wir haben aber schon einen Teil des Geldes überwiesen – insgesamt … «
»1,3 Milliarden Dollar«, warf Aziz ein und stand abrupt auf. Er war von unbändigem Zorn erfüllt. Das war einfach zu viel. Er hatte die Amerikaner eingehend studiert und wusste, wer die Leute an den Schalthebeln der Macht waren. Er wusste, dass Vizepräsident Baxter den Präsidenten vertreten würde und dass damit die Justizministerin eine noch wichtigere Rolle einnehmen konnte. Doch dass sie ihn dermaßen beleidigen würden, das hätte er sich nie gedacht. Es war eine so unglaubliche Frechheit, dass es sich nur um Absicht handeln konnte.
»Ja, 1,3 Milliarden«, bestätigte Margaret Tutwiler etwas überrascht. »Es wird einige Zeit dauern, bis wir den gesamten Betrag beisammen haben … und es wäre sehr hilfreich, wenn Sie uns inzwischen ein Zeichen Ihres guten Willens geben würden.«
Aziz schloss die Augen und zwang sich, seinem Plan zu folgen. Mit gequälter Stimme fragte er: »Was schlagen Sie vor?«
»Die Freilassung von mehreren Geiseln würde uns zeigen, dass Sie es ehrlich meinen.«
Das war einfach nicht zu glauben. Mit zitternder Stimme fragte Aziz: »Wie viele soll ich denn freilassen … zehn, zwanzig … vielleicht dreißig?«
Margaret Tutwiler wusste nicht recht, wie ernst das Angebot gemeint war, und antwortete zögernd: »Äh … dreißig wäre schön … und sobald Sie sie freigelassen haben, bemühen wir uns, noch mehr von dem Geld zu überweisen.«
Aziz starrte vor sich hin, ohne irgendetwas zu sehen. Ja, es galt, dem Plan zu folgen – aber das hier ging ins Persönliche. Sie wollten ihn beleidigen, indem sie diese Frau mit ihm sprechen ließen. Sie versuchten wohl herauszufinden, wie weit er gehen würde. War das Ganze vielleicht eine Falle? Nein, das wohl eher nicht. Es war zu früh für einen Angriff, es war helllichter Tag, und die Fernsehkameras waren direkt gegenüber postiert. Wenn sie seine Entschlossenheit auf die Probe stellen wollten, dann würde er ihnen zeigen, wie entschlossen er war.
Das war einfach zu viel. Zuerst die Nachricht, dass sie Fara Harut gefasst hatten, und jetzt diese unfassbare Beleidigung. Schließlich konnte er sich einfach nicht länger beherrschen und brüllte: »Was habe ich euch gestern gesagt? Ich habe gesagt, das ganze Geld bis neun Uhr! Ich habe nicht gesagt, einen Teil davon. Ich habe gesagt, alles! Wollen Sie mich beleidigen, indem Sie mir einreden, Sie hätten Probleme, das Geld aufzutreiben? Ihr Finanzminister könnte einen zehnmal so hohen Betrag, als ich ihn fordere, in einer Stunde flüssig machen, wenn er will! Ich glaube, es ist Zeit, euch dummen Amerikanern eine Lektion zu erteilen! Schaut aus euren Fenstern – ich werde euch zeigen, was passiert, wenn ihr mit mir eure idiotischen Spielchen treiben wollt!«
Anna Rielly saß mit knurrendem Magen am Boden und fragte sich vor allem, ob sie es noch eine weitere Stunde aushielt, ohne sich in die Hose zu machen. Einige der Geiseln hatten genau das bereits getan, sodass es ringsum zunehmend nach Urin roch. Anna hörte das dumpfe Geräusch von schweren Stiefeln näher kommen, und kurz darauf betrat der Anführer der Terroristen den Raum. Alle Anwesenden duckten sich unwillkürlich, als sie den sichtlich wütenden Mann sahen.
Aziz ging direkt auf die Geiseln zu und zeigte auf einen Mann. »Sie da! Stehen Sie auf!« Derjenige, auf den er zeigte, reagierte offenbar nicht schnell genug, denn Aziz brüllte noch lauter: »Aufstehen!«
Als der Mann aufgestanden war, erkannte ihn Anna sofort. Es war Bill Schwartz, der Sicherheitsberater des Präsidenten. Der Terrorist wandte sich der Frau zu, die sich an Schwartz’ Bein klammerte. »Sie auch! Mitkommen!«
Auch die Frau bewegte sich offenbar nicht schnell genug; Aziz beugte sich hinunter und zog sie an den Haaren hoch wie eine Puppe. Mit Hilfe der anderen Terroristen führte er die beiden aus dem Zimmer.
Aziz schob die beiden Geiseln vor sich her, zuerst eine Treppe hinauf und weiter zu einer Tür an der Nordseite des Hauses. Er zog sich eine Kapuze über das Gesicht und gab auf einer Fernbedienung einen Code ein, mit dem er die Sprengladung entschärfte, die an der Tür angebracht war.
Aziz trat die Tür auf und ging ins Freie hinaus. In der strahlenden Vormittagssonne überquerte er die schmale Zufahrt, trat an den Rand des Säulenganges und blickte herausfordernd zu den Dutzenden von Gewehren hinüber, die auf ihn gerichtet waren. Auf allen Dächern im Umkreis konnte man die langen Läufe der Scharfschützengewehre erkennen. Er wusste, dass sie nicht schießen würden. Sie konnten es einfach nicht tun, nicht in Amerika. Dazu wäre erst ein langer bürokratischer Prozess nötig gewesen – und so weit war es noch nicht. Aziz hob seine AK-74 hoch und feuerte eine Salve von acht Schuss ab. Nachdem er den Amerikanern gezeigt hatte, dass er keine Angst vor ihnen hatte, ging er ins Haus zurück und blickte auf die Uhr. Er wollte den Fernsehanstalten dreißig Sekunden Zeit geben, um ihre Kameras auf den Eingang zu richten.
Eigentlich hatte Aziz ganz methodisch nach Plan vorgehen wollen – doch seine Wut brachte ihn ein wenig davon ab. Es war von Anfang an geplant gewesen, den Sicherheitsberater des Präsidenten zu töten – doch nun gestattete er sich eine kleine persönliche Genugtuung als Rache für Harut. Aziz wirbelte herum und schlug Schwartz ins Gesicht.
»Was ist das für ein Gefühl, wenn man Angst hat, du Hund?«, brüllte er ihn an.
Dem Sicherheitsberater traten die Tränen in die Augen, und die Frau neben ihm begann zu schluchzen. Schwartz legte die Arme um seine Sekretärin. Er wusste, was nun kam, er wusste, dass dies das Ende war und dass er nichts dagegen tun konnte. Aziz schrie ihm weiter seine wütenden Fragen ins Gesicht.
»Wie oft hast du den Befehl gegeben, dass meine arabischen Brüder sterben sollen? Wie oft?«, brüllte Aziz außer sich vor Wut und schlug ihn erneut. Dann packte er ihn am Kragen und zerrte ihn zur Tür, während seine Sekretärin sich an seine Taille klammerte. Als sie die Tür erreichten, stieß Aziz die beiden mit einem Fußtritt ins Freie hinaus.
Schwartz und die Frau taumelten ins Licht und stürzten zu Boden. Aziz stand in der Tür und rief ihnen zu, dass sie aufstehen sollten. Die Frau weinte nun noch lauter, und auch Schwartz strömten die Tränen über die Wangen. Der Sicherheitsberater stand auf und zog seine Sekretärin auf die Beine. Aziz rief ihnen zu, dass sie weitergehen sollten, und nach wenigen Sekunden setzten sie sich langsam in Bewegung.
Aziz sah den beiden Geiseln nach, wie sie auf das Nordtor zutaumelten. Als sie die Hälfte des Weges hinter sich hatten, sodass sie gut von den Kameras der Fernsehanstalten erfasst werden konnten, hob Aziz sein Gewehr und zielte.
»Halt!«, rief er. Als sich der Sicherheitsberater umdrehte, hatte Aziz sein Gesicht im Visier. Er drückte ab und nahm gleich darauf die Frau aufs Korn. Erneut drückte er den Abzug, und die Frau fiel hin und kam auf Schwartz zu liegen. Aziz zielte wieder und feuerte noch gut zehnmal.
Danach schloss er zufrieden die Tür, machte die Sprengfalle wieder scharf und ging tief atmend den Gang entlang. Er lief die Treppe hinunter und trat in das leere Besprechungszimmer. »Sind Sie noch da?«, rief er in den Telefonhörer.
Skip McMahon hielt den Hörer ans Ohr und blickte auf die beiden Toten hinunter, die auf der Zufahrt lagen. Den Mann kannte er. Dann wandte er sich Margaret Tutwiler zu, die reglos dasaß und aus dem Fenster starrte. McMahon blickte Irene Kennedy an, die traurig den Kopf schüttelte.
»Ja, ich bin hier«, sagte McMahon.
»Wer spricht da?«, rief Aziz.
»Special Agent Skip McMahon vom FBI.«
»Gut! Beleidigen Sie mich ja nicht noch einmal, indem Sie diese Frau mit mir telefonieren lassen! An meiner Forderung hat sich nichts geändert! Ich werde jede Stunde eine Geisel töten, bis das ganze Geld überwiesen ist! Wenn Sie meiner Forderung nachkommen, lasse ich ein Drittel der Geiseln frei! Ansonsten: Jede Stunde eine Geisel! Haben Sie mich verstanden?«
»Ich habe Sie verstanden, aber eine Stunde ist ein bisschen knapp.«
Es war jetzt Zeit, den Ton ein wenig zu ändern. »Hören Sie zu, McMahon«, sagte Aziz mit ruhiger Stimme. »Ich kenne Ihre Gepflogenheiten. Ich habe gerade zwei Geiseln getötet – also müssten Sie jetzt Ihr Hostage Rescue Team losschicken.« Aziz hielt kurz inne und fügte mit ernster Stimme hinzu: »Das wäre ein schwerer Fehler, und ich sage Ihnen auch, warum. Wenn Sie eine solche Aktion wagen, werde ich das ganze Haus mitsamt den Geiseln in die Luft jagen. Meine Männer und ich werden gerne zu Märtyrern für unsere Sache, das wissen Sie genau. Aber so weit muss es nicht kommen. Dass ich die beiden Geiseln vorhin getötet habe, daran war nur die Dummheit Ihrer Justizministerin schuld. Wenn Sie und ich uns an ein paar Regeln halten, braucht niemand mehr zu sterben. Sie überweisen das Geld, und ich lasse ein Drittel der Geiseln frei. So einfach ist das. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja.«
»Gut. Von jetzt an, McMahon, spreche ich nur noch mit Ihnen. Und ich warte auf das restliche Geld«, sagte Aziz und legte den Hörer auf. Er wusste genau, wie er mit ihnen umgehen musste.